EM-Festspiele mit "Gänsehautfeeling" Deutsche Turner berauschen Berlin
10.04.2011, 22:40 Uhr
"Danke, Berlin!": Die deutschen Turner verabschieden sich in der Max-Schmeling-Halle von den Zuschauern.
(Foto: dpa)
Die Heim-EM wird für das deutsche Turnteam auch ohne Superstar Fabian Hambüchen zum Triumphzug. In Berlin, wo Turnvater Jahn den Sport vor 200 Jahren aus der Taufe hob, verzücken seine Erben die Fans mit einer historischen Erfolgsbilanz.

Überzeugende Bilanz: Die deutschen Damen erreichten drei Finals und gewannen drei Medaillen. Nur die erst 15-jährige Nadin Jarosch (r.) verpasste bei ihrem EM-Debüt einen Endkampf knapp.
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Zwei Goldmedaillen, dreimal Silber, zweimal Bronze – die deutschen Turner haben die Turn-Europameisterschaften mit einer herausragenden Bilanz beendet. Neben den erfolgsverwöhnten Männern konnten in Berlin auch die Frauen ein großes Ausrufezeichen setzen. "Es fehlen mir die Worte. Das war sensationell" - Bundestrainerin Ulla Koch war fassungslos angesichts gleich drei deutscher Frauen-Medaillen durch Shootingstar Elisabeth Seitz (Mehrkampf-Silber), Turn-Oma Oksana Chusovitina (Sprung-Silber) und Rückkehrerin Kim Bui (Bronze am Stufenbarren).
Für die DTB-Damen, die auch vom Verletzungspech der russischen Ausnahmekönnerin Alija Mustafina profitierten, war es ein Schritt zurück Richtung Weltspitze. Die deutschen Männer haben sich dort schon seit Längerem wieder etabliert. In Berlin steuerten sie durch Philipp Boy und Marcel Nguyen zweimal Gold, Silber und Bronze zur besten deutschen EM-Bilanz seit 1989 bei.
Historische Medaillenflut
Die historische Medaillenflut allein sagt schon viel aus, aber sie sagt nicht alles. Um die Dimension der unverhofften Erfolge wirklich würdigen zu können, ist ein Blick über die Ergebnislisten hinaus nötig. Auf die Reportertribüne zum Beispiel, wo mit Fabian Hambüchen die Lichtgestalt des deutschen Turnsports zum Zuschauen verurteilt war. Auf die Zuschauerränge, wo trotzdem bis zu 6.000 begeisterungsfähige Turn-Fans für eine bisweilen spektakuläre Kulisse sorgten. Zur Bundeswehr, wo Matthias Fahring, der chaotisch-charismatische EM-Titelverteidiger am Boden, ausgerechnet jetzt seine Grundausbildung absolviert.
Und natürlich in die Sport-Geschichtsbücher. In denen muss man lange blättern, um vergleichbare Erfolge zu finden. Das letzte deutsche EM-Gold am Barren vor Marcel Nguyen hatte Helmut Bantz gewonnen, 1955 bei der EM-Premiere. Die letzte Medaille im Frauen-Mehrkampf gab es 1985 durch Maxi Gnauck. Die 17-jährige Elisabetz Seitz, die in Berlin sensationell Mehrkampf-Silber gewann, war da noch nicht geboren.
Auf Augenhöhe mit dem Mythos

Verhinderter Vorturner: Superstar Fabian Hambüchen sah in Berlin, wie seine Teamkollegen über sich hinauswuchsen.
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Philipp Boy auch nicht. Der 23-Jährige zitterte sich im Mehrkampf zur zweiten deutschen EM-Goldmedaille in der Königsdisziplin. Die erste hatte 2009, natürlich, Hambüchen gewonnen. Er war es auch, der das Turnen mit seinen Erfolgen Turnen hierzulande vom Dasein als Randsportart befreite und wieder an den Rand des Rampenlichts rückte.
Für ungeteilte Freude im deutschen Team hat das nicht gesorgt. Deutschlands Vorturner verschaffte seinem Sport zwar etwas Rampenlicht, absorbierte aber alle Aufmerksamkeit. Seine Teamkollegen, die zumindest an der Weltspitze anklopften, blieben, was sie waren: Randsportler. Medaillen im Schatten glänzen nicht.
Hambüchens Ausfall für die Heim-EM war in der öffentlichen Wahrnehmung eine Katastrophe, seine eilige Verpflichtung als TV-Kommentator vor allem der verzweifelte Versuch, zumindest ein Stück von Hambüchens Popularität nach Berlin zu retten. Für Philipp Boy war das Pech des Zugpferds eine Chance, aber auch eine Verpflichtung. Der Cottbuser wurde, notgedrungen, zum deutschen Hoffnungsträger stilisiert, zum kommenden EM-Star. Er genoss diese Rolle äußerlich. Innerlich kämpfte er mit den enorm gestiegenen Erwartungen.
"Bin einfach überglücklich"
Erstmals in seiner Karriere ging er als deutscher Turn-Darling in ein großes Turnier, als Goldfavorit im Mehrkampf und Titelanwärter am Reck. Aus der persönlichen Hoffnung, Medaillen mitzunehmen, wurde der öffentliche Druck, Medaillen gewinnen zu müssen. Die EM in Berlin wurde für Boy zu einer Reifeprüfung. Nun steht fest: Er hat sie bestanden: "Ich bin einfach überglücklich, dass es so ausgegangen ist. Danke, Berlin!"
Mit nach Hause nimmt Boy Gold und Silber für den Trophäenschrank, und eine persönliche Überzeugung für den Kopf. Die, endlich auf Augenhöhe mit dem "Mythos Hambüchen" zu sein: "Er hat damals in Stuttgart (bei der WM 2007, Anm. d. Red.) dem Druck standgehalten, ich jetzt hier in Berlin. Ich kann jetzt auch mitreden, wie es ist: Du bist in der Favoritenrolle, du hast eine Vize-Weltmeisterschaft im Rücken und alle erwarten irgendwo, dass Du jetzt Europameister wirst."

Erfolg in "asiatischer Leichtbauweise": Marcel Nyugen gelang in Berlin ein beeindruckendes internationales Comeback.
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Wie befreiend es sein kann, im Schatten eines Vorturners unbeschwert aufzutreten, bewies in Berlin Marcel Nguyen. Ein halbes Jahr nach seinem schweren Wadenbeinbruch verzückte der Deutsch-Vietnamese das Publikum in Berlin bei all seinen Auftritten. Mit Gold am Barren und Bronze am Reck fiel seine EM-Bilanz nur minimal schlechter als die von Boy: "Ein Traum ist wahr. Ein Titel, einmal Bronze, was will ich mehr?"
"Randsportart-Image total bescheuert"
Boy hat in Berlin auch auf diese rhetorische Frage eine Antwort gegeben, stellvertretend für das Team. "Wir wollen, dass das Turnen wieder populärer wird in Deutschland. Weg von diesem verstaubten Randsportart-Image, was ja, finde ich, total bescheuert ist", hat er gesagt und in der EM-Euphorie vielleicht doch schon geahnt, dass es so schön wie in Berlin so schnell nicht mehr werden wird: "Es ist einfach etwas ganz Besonderes. Dein Name wird aufgerufen und es ist wirklich ein ohrenbetäubender Lärm. Das ist sowas von motivierend, es ist Gänsehautfeeling."
Dabei wünscht er seinem Sport nur, was sich jeder Sport abseits von Fußball und Formel 1 wünscht: Nachhaltige Begeisterung, mehr Sendezeit im Fernsehen, mehr Sponsoren für Verband und Athleten, mehr Wettkämpfe vor einer Kulisse wie in der Hauptstadt.
Organisatorisch indes scheint der deutsche Turnsport für die herbeigesehnte Aufmerksamkeitswelle noch nicht vollends gerüstet. Schon eine halbe Stunde nach Ende des letzten Wettkampfes sollte der Abbau der Pressetribüne beginnen. Da war so manche Hymne auf die Randsportler im Rampenlicht noch gar nicht fertig.
Quelle: ntv.de