Der Playoff-Wahnsinn in Boston Die totale Reizüberflutung in "Titletown"
01.05.2019, 16:04 Uhr
Die Boston Bruins (in Weiß) verlieren am Dienstagabend ihr Playoff-Spiel in Columbus 1:2. Für die Sportfans in Boston eine bittere Pleite an einem anstrengenden Abend.
(Foto: imago images / ZUMA Press)
Boston - ein Abend, zwei wichtige Playoff-Spiele der lokalen Teams in zwei der größten Ligen der Welt. Und das fast gleichzeitig. Was tun? Unser Autor versucht, die Bruins und Celtics zu verfolgen. Und hat sogar noch ein halbes Auge für die Red Sox übrig.
Dienstagabend, 18.21 Uhr. Das Fußball-Training meines Sohnes ist vorbei. Endlich. Der Coach hat sechs Minuten überzogen. Ausgerechnet heute. In knapp 50 Minuten beginnt Bostons wichtigster Sportabend des bisherigen Jahres. Und wir haben noch 27 Kilometer Rückfahrt vor uns. Das Navigationssystem zeigt an, dass wir um 19.03 zu Hause sein sollen. Gerade rechtzeitig zum Spielbeginn der Bruins. Bostons Eishockeyteam gastiert für Spiel drei seiner NHL-Playoff-Serie bei den Columbus Blue Jackets. Zeitgleich empfangen die Red Sox, aktueller Meister der Major League Baseball, die Oakland Athletics. Und eine Stunde später sind die Celtics beim besten Vorrunden-Team der NBA gefordert, den Milwaukee Bucks.

Tom Brady hat Boston im Februar den sechsten Super Bowl-Triumph seit 2002 beschert.
(Foto: USA TODAY Sports)
Als wir nach Boston reinfahren, fällt mir auf, dass weitaus weniger Jogger am Charles River unterwegs sind als sonst. Dabei laden die elf Grad Außentemperatur regelrecht zu einer Abendrunde am Fluss ein. Doch heute ist halt Sportabend in der Sportstadt Boston. Vor allem Passiv-Sport. 31754 Bostonians sitzen im Fenway Park und verfolgen die Red Sox. Weitere tausende andere Einwohner treffen sich in Sport-Bars - oder gucken, wie ich, daheim. Um 19.09 Uhr sind wir zu Hause. Ich greife sofort zur Fernbedienung und drücke nacheinander die Zahlen acht, sechs und fünf. Das ist "NBC Sportsnet". Der Sender überträgt die Bruins. Als ich einschalte, wird gerade die Nationalhymne gesungen. Schnell umschalten auf acht, fünf, eins. "New England Sports Network", der Red-Sox-Sender. Das 30. Saisonspiel ist im Bostoner Ranking an diesem Abend die klare Nummer drei. Aber die Red Sox sind in Boston schlichtweg immer ein Thema - ob sie gut spielen oder schlecht. Derzeit spielen sie eher schlecht.
"Taco Tuesday"
Als ich die Startaufstellung gesehen habe, ist mein rechter Daumen schon wieder auf der Fernbedienung aktiv. Acht, fünf, zwei. Hier hat gerade die Vorschau auf das Celtics-Spiel begonnen. Aber bis zum Tippoff in Milwaukee sind es noch 60 Minuten. Also, zurück zu den Bruins. Und zwischendurch die Tacos essen, die meine Frau zubereitet hat. Es ist schließlich Dienstag - und das ist bei uns in der Familie der "Taco Tuesday". Im lokalen Sportradio hieß es, dass das Bruins-Spiel das Wichtigere sei. Nach zwei Partien steht es 1:1. Aber Columbus hatte am Sonnabend in Boston die zweite Begegnung der Serie 3:2 nach Verlängerung gewonnen, somit also ein Spiel geklaut und ist daher im Vorteil. Wollen die Bruins weiterkommen, müssen sie mindestens eine Begegnung bei den Blue Jackets gewinnen. Kurz vor Ende des ersten Drittels schießt Columbus das 1:0. Dabei bleibt es bis zur ersten Drittel-Pause.
Schneller Blick zu den Red Sox: 2:0 vorn im dritten Inning. Und noch 18 Minuten bis zum Celtics-Spiel. Zwei Tage zuvor hatte Boston bei den Bucks überraschend klar 112:90 gewonnen. Das hatte die drei Nachmittags-Kommentatoren meines Lieblings-Radio-Senders, "98,5 - The Sports Hub", umgehend dazu veranlasst, den Celtics-Fans zu empfehlen, sich schon mal "nach Flügen im Juni nach San Francisco" umzuschauen. Gemeint war ein Finale gegen die Golden State Warriors. Was ein Sieg bei manchen doch für Auswirkungen haben kann. Die Celtics starten gut in dieses zweite Spiel, führen 7:3. Aber ich muss zurück zu den Bruins, bei denen das Mittel-Drittel beginnt. Natürlich könnte ich mir dieses Hin- und Hergeschalte auch ersparen und ein Spiel parallel auf dem Computer schauen. Und ich könnte die Red Sox auf meinem Handy verfolgen. Aber drei Bildschirme gleichzeitig - wie viel bekommt man dann tatsächlich mit?
Adrenalin und Augenringe

Der Deutsche Daniel Theis (Nummer 27) steckt bei den Boston Celtics gerade mittendrin in der Sportgeschichte von "Titletown".
(Foto: www.imago-images.de)
Ich mag diese Playoff-Zeit sehr. Diese Phase, in der es von Mitte April bis Mitte Juni endlich richtig wichtig wird. In der Siege wertvoller und Niederlagen schmerzhafter sind als in den für europäische Verhältnisse unzähligen Vorrunden-Partien in MLB, NBA und NHL. In der sich die Tagesgespräche der Stadt verstärkt um die Eishockey- und Basketball-Teams drehen. In der es jeden Abend Spiele gibt. Das bedeutet natürlich auch lange Nächte, viel Arbeit und mitunter wenig Schlaf. Aber der Adrenalin-Kick ist immer noch mächtiger als die Augenringe.
Seit dem 1. Januar 2007 wohne ich in Boston - und hatte in den vergangenen zwölf Jahren das große Glück, acht Meisterschaften der vier wichtigsten Profiteams miterleben zu dürfen. Die New England Patriots gewannen dreimal den Super Bowl, die Red Sox ebenso oft die World Series. Die Bruins und die Celtics holten je einmal in ihren Ligen den Titel. Boston hat sich - und wer hätte das bis zur Jahrtausendwende ahnen können (sagen mir immer wieder meine hiesigen Kumpels) - zu Amerikas erfolgreichster Sportstadt des 21. Jahrhunderts entwickelt. Zu "Titletown", wie die Bostonians ihre Heimat auch stolz nennen. Seit 2002 gab es 17 Finalteilnahmen und zwölf Titel. Wobei die Patriots mit ihren sechs Super Bowl-Triumphen herausragen.
Boston und Denver noch mit je zwei Teams dabei
Die Pats sind amtierender Meister, die Red Sox ebenso. "Die Celtics und wir sind als nächstes dran", hatte Bruins-Trainer Bruce Cassidy am 5. Februar gesagt - und dabei eher etwas süffisant geklungen. Es war der Tag der Patriots-Meister-Parade. Nun, knapp drei Monate später, wird aktuell die zweite Playoff-Runde ausgespielt. In der NHL und der NBA sind noch jeweils acht Teams dabei - darunter auch die Bruins und Celtics. Sie machen Boston neben Denver zur einzigen Stadt, die noch jeweils ein Team in den NHL- und den NBA-Playoffs hat. Die Bruins schießen 39 Sekunden vor Ende des zweiten Drittels ihr erstes Tor, liegen aber trotzdem 1:2 hinten. Ich habe nun 17 Minuten bis zum Schluss-Drittel, um mich den Celtics zu widmen. Ok, einmal noch schnell zu den Red Sox rüber. 5:0 im sechsten Inning vorn. Alles gut. Jetzt aber wirklich Celtics. Die führen 38:34, verspielen diesen Vorsprung jedoch noch und gehen mit einem 55:59-Rückstand in die Pause. Da ist also noch alles drin. Wie falsch ich mit diesem Gedanken liege, erfahre ich rund eine Stunde später.
Um 21:49 Uhr haben die Bruins 1:2 verloren und liegen somit in der Serie 1:2 hinten. Morgen hat Columbus in Spiel vier erneut Heimrecht. Bei den Celtics ist zwar noch das Schlussviertel zu spielen, aber aus Bostoner Sicht nichts mehr zu gewinnen. 73:98 beträgt der Rückstand. Milwaukee hat die Celtics im dritten Viertel mit einem 28:2-Zwischenspurt einfach überrannt. Die Bucks gewinnen letztlich 123:102. "Wer hatte wirklich geglaubt, dass es die Celtics leicht haben würden?", steht wenige Stunden später in der Tageszeitung "Boston Globe". Am Freitag und Sonntag sehen sich beide Seiten wieder. Dann in Boston. Zumindest die Red Sox gewinnen gegen Oakland 5:1, verbessern ihre Saison-Bilanz auf 13 Siege und 17 Niederlagen. Doch dieser Erfolg ist an diesem Dienstag für viele in Boston eher eine Randnotiz. Die beiden wichtigsten Spiele des Abends wurden verloren.
Quelle: ntv.de