Alexander Zverev und Novak Djokovic arbeiten bei den French Open an einem gemeinsamen Halbfinal-Duell. Der Weg dorthin ist für beide gleichermaßen hart: Der Deutsche und der Serbe kämpfen dramatisch ums sportliche Überleben. Bislang erfolgreich.
Um 1.40 Uhr war es geschafft: "Ich bin froh, dass ich überlebt habe", sagte Alexander Zverev tief in der Nacht auf dem Court Philippe-Chatrier. Martialisch, pathetisch, ja. Aber eben wohl das, was Deutschlands bester Tennisspieler in diesem Moment fühlte. Vier Stunden hatte er sich zuvor mit dem Dänen Holger Rune auf der roten Asche von Roland Garros duelliert, es war ein meistens hochklassiges, immer intensives Match, das Zverev am Ende mit 4:6, 6:1, 5:7, 7:6 (7:2) und 6:2 gewann. Dem sportlichen Tod war er im vierten Satz ganz nah, dann kämpfte sich der Deutsche doch noch durch. Und beendete einen der an sportlichen Dramen reichsten Tage, den das Tennisstadion von Paris in der langen Geschichte der French Open überhaupt erlebt hat.
Denn dass Zverev überhaupt bis tief in die Nacht spielen musste, dafür hatte Novak Djokovic gesorgt. Der Serbe lieferte zuvor in seinem Achtelfinalmatch die ganz große Show ab. Der Weltranglistenerste rang den Außenseiter Francisco Cerundolo in knapp fünf Stunden dramatisch nieder: 6:1, 5:7, 3:6, 7:5 und 6:3 - das nackte Ergebnis aber liefert nicht mal eine Idee davon, was Djokovic auf dem langen, langen Weg dahin auf den Platz brachte.
"Der Platz hat mein Knie kaputt gemacht"
Der Rekord-Grand-Slam-Sieger, der in Paris seinen 25. Titel bei den vier wichtigsten Turnieren des Jahres gewinnen will, wütete sich durch kleine und große Katastrophen. Er stritt sich immer wieder auf offener Szene mit seinem Team und sogar seiner Frau, er schimpfte auf die Menschen, die den Platz präpariert hatten und er kämpfte mit einer Knieverletzung, die er sich bei einem Sturz Anfang des zweiten Satzes zugezogen hatte. "Ich habe mir das Knie verrenkt. Ich rutsche und schlittere die ganze Zeit", schimpfte Djokovic mit dem Oberschiedsrichter, immer wieder wirkte er genervt von seiner Situation. "Der Platz", schimpfte er, "hat mein Knie kaputt gemacht!"
Der Argentinier Cerundolo, Nummer 23 der Weltrangliste, arbeitete sich scheinbar unaufhaltsam dem größten Sieg seiner Karriere entgegen. Beim 4:3 im vierten Satz lag Cerundolo mit einem Break vorn, Djokovic sei "drei oder vier Punkte vom Aus entfernt" gewesen, sagte er selbst.
45 Minuten hätten die Schmerzmittel gebraucht, um ihre Wirkung zu entfalten, sagte der 37-Jährige. Der Turnierarzt habe ihm während des Matches gesagt "okay, das ist es. Das ist alles, was ich dir im Moment geben kann." Es reichte, um mal wieder eine dieser Geschichten zu schreiben, die nur Djokovic schreiben kann. So richtig erklärbar war es mal wieder nicht, wie Djokovic das Match drehte.
"Nicht von dieser Welt"
Cerundolo wirkte stabil, während Djokovic kämpfte. Doch dann kam das verhängnisvolle achte Spiel des vierten Satzes, als der junge Argentinier kurz vor dem Sieg sein Service nach zahlreichen eigenen Fehlern nicht halten konnte. Die Entscheidung war das nicht, Djokovic schimpfte im fünften Satz, das Momentum wankte wie der Gigant selbst. Doch es kippte nicht, der Gigant blieb stehen.
Der Unersättliche zeigte sich von seiner besten und seiner schlechtesten Seite, er schimpfte, pöbelte, spielte mit dem Publikum und lieferte eben eine große Show ab. Und holte sich mit seinem 370. Sieg bei einem der Grand-Slam-Turniere einen der wenigen Rekorde, die er sich in seiner großen Karriere noch nicht erspielt hatte.
Über die Comeback-Qualitäten staunte sogar sein Ex-Trainer Boris Becker. Es sei "nicht von dieser Welt", sagte die Tennis-Ikone bei Eurosport, "wie er das jedes Mal im vierten und fünften Satz rumreißt". Seine einzige Erklärung lautete: "Es ist ein Grand Slam, und er will unbedingt seinen 25. Titel. Da holt er nochmal alles raus." Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass der Serbe sich während eines Grand-Slam-Turniers überaus öffentlich mit einer Verletzung plagt. Für Verunsicherung sorgt das in der Regel aber eher beim Gegner.
Zverevs Kampf auf dem Schicksalscourt
Als Djokovic, der in der Runde zuvor gegen den Italiener Lorenzo Musetti sogar bis nach 3 Uhr auf dem Platz gestanden hatte, schon mit der Regeneration beginnen konnte, musste Alexander Zverev dann ran. Auf seinem Schicksalsplatz, auf dem er sich einst schlimm verletzt hatte und wo er doch in wenigen Tagen endlich seinen ersten Grand-Slam-Titel holen will. Dem jagt der 27-Jährige schon ewig nach und er ist ihm mal wieder nahe. Nirgendwo anders als in Paris kommt der 1,98-Meter-Hüne dem großen Ziel konstant so nahe wie bei den French Open: Zum sechsten Mal steht der Hamburger im Viertelfinale, zuletzt erreichte er dreimal in Serie sogar das Halbfinale.
Nun spielt er wieder um den Einzug unter die letzten Vier. Weil er sportlich überlebt. Immer wieder. In der dritten Runde lag Zverev gegen den Niederländer Tallon Griekspoor im fünften Satz mit zwei Breaks zurück, näher kann man dem Sterben im übertragenen Sinne kaum sein. Doch Zverev gewann den Krimi, auch er musste kämpfen, mit den eigenen Nerven, dem Gegner, gegen umstrittene Schiedsrichterentscheidungen. Zverev straffte sich, als es darauf ankam. Keine 48 Stunden später legte er nach.
"Lasst uns abwarten, was passiert"
Elf Fünfsatz-Matches hat Zverev bisher bei den French Open gespielt - und zehn davon gewonnen. Zwei in den letzten beiden Tagen. Zverev wird zum Überlebenskünstler, genauso wie Djokovic. 8:25 Stunden stand der Hamburger in der dritten Runde und im Achtelfinale auf dem Platz. "Ich will 'Ja' sagen", antwortete der Weltranglisten-Vierte schmunzelnd auf die Frage, ob er auf dem Weg zum Titel noch drei weitere Fünfsatz-Schlachten überstehen würde. "Ich hoffe aber, dass ich auch irgendwann mal nicht in fünf Sätzen gewinne."
Im Halbfinale könnte es zum Duell zwischen Zverev und Djokovic kommen. Den beiden, die in diesen Tagen immer einen Weg finden, ihre Matches zu gewinnen. Doch der Weg dahin ist noch weit. Zverev muss den Australier Alex De Minaur besiegen, Djokovic erstmal seinen Körper. "Ich weiß nicht, was morgen oder übermorgen passiert, ob ich in der Lage sein werde, auf den Platz zu gehen und zu spielen", sagte der Serbe in der Nacht: "Ich hoffe es. Lasst uns abwarten, was passiert." Sportlich wird es nach zwei Marathons gegen den formstarken Norweger Casper Ruud ohnehin enorm schwer. Beide waren sich in der vergangenen Saison im Finale begegnet, Ruud gewann zuletzt die Turniere in Barcelona und Genf. Djokovic dagegen wartet in dieser Saison noch auf einen Turniersieg. Die Situation scheint schwierig. Aber was heißt das schon?
Quelle: ntv.de