Lückenkemper will ins WM-Finale "Das letzte Mal heulend auf der Tartanbahn …"
20.08.2023, 07:52 Uhr
Gina Lückenkemper erzählt im Interview mit ntv.de von ihrer offenen WM-Rechnung.
(Foto: IMAGO/Beautiful Sports)
Gina Lückenkemper ist heiß auf das 100-Meter-Finale am Montag bei der WM in Budapest. Im Interview mit ntv.de verrät die Sprint-Europameisterin Tricks aus der US-Trainingsgruppe und spricht über eine offene Rechnung, neue Rekordzeiten, Einsamkeit auf der Laufstrecke - und wofür sie sich den Arm ausreißt.
ntv.de: Hallo, Frau Europameisterin!
Lückenkemper: Das hört sich noch immer komisch an, oder? (lacht)
Hat sich der Klang verändert über die Monate seit der EM in München im vergangenen August?
Nicht wirklich. Es ist nach wie vor geil, aber irgendwie finde ich es immer noch ein bisschen seltsam.
Was ist eine schönere Erinnerung an den EM-Titel: Die Narbe am Knie nach dem Sturz im Ziel oder die Goldmedaille?
Beide sind schöne Erinnerungen. Die Narbe sehe ich definitiv häufiger, also muss ich sie wählen eigentlich (lacht). Auch wenn das etwas makaber ist. Die Narbe trage ich jeden Tag bei mir und die Medaille liegt zu Hause in der Vitrine und sie kommt auf Wettkämpfe natürlich nicht mit. Das wäre dann doch etwas angeberisch.
Sie sagten jüngst, Sie hätten mit der WM noch eine Rechnung offen: Kommt jetzt die Rache der Gina Lückenkemper?
Ich habe es bisher noch nicht geschafft, im Einzelwettbewerb in einem WM-Finale zu stehen. Im letzten Jahr bin ich mit einer Zeit knapp daran vorbeigeschrammt, die in den Jahren davor immer fürs Finale gereicht hatte. Mit dem Halbfinale möchte ich mich dieses Jahr definitiv nicht zufriedengeben. Da habe ich also definitiv noch eine Rechnung offen. Es wird auch dieses Jahr kein leichtes Unterfangen, denn das Niveau im Frauensprint ist noch mal krasser geworden. Ich darf mir keine Fehler erlauben. Aber ich traue mir das definitiv zu und weiß, dass ich das auf dem Kasten hab. Bei der WM wird ordentlich angegriffen.
Worauf müssen die Konkurrenz und die Fans sich gefasst machen?
Ich bin noch krasser geworden. Das sieht man schon daran, dass ich die 11,0-Sekunden-Zeiten mittlerweile viel stabiler und konstanter laufe. Egal bei welchen Bedingungen. Deshalb halte ich es definitiv für realistisch, bei der WM in Budapest meine Bestzeit zu knacken.
Was sagen Sie zu 10,81 Sekunden, dem deutschen Rekord von Marlies Göhr aus dem Jahr 1983?
Joa, muss man halt erstmal rennen (lacht). Ich bin einfach gespannt auf die WM, vorher habe ich extra noch einen kleinen Trainingsblock eingeschoben. Und in dieser Saison bin ich verdammt viele Wettkämpfe gelaufen, seit Februar in jedem Monat.
Zu viele?
Es ist schon sehr viel gewesen, aber es macht mir einfach auch Spaß. Solange der Körper gesund und fit ist, kann man das ruhig machen. Ich bin das letzte Jahr endlich mal verletzungsfrei geblieben und konnte darauf ganz anders aufbauen und kontinuierlich weiterarbeiten. Meine guten Leistungen in diesem Jahr sind die Resultate.
Sie hatten eine starke Saison bisher. Wie ist dann zuletzt der "totale Mist", so Ihre Aussage, beim Diamond-League-Meeting in Chorzow zu erklären?
Ich bin in Polen immer noch eine 11,09 gelaufen. Dafür hätte ich mir vor ein paar Jahren einen Arm ausgerissen. Das Rennen an sich war also kein großer Mist. Mich hat einfach nur geärgert, meine Trainingsinhalte dort technisch nicht so umgesetzt zu haben, wie ich es mir vorgenommen habe. Das ist aber völlig normal. Umstellungen in der Technik passieren nicht von heute auf morgen, dafür braucht man Wiederholungen.
Jede Saison hat ihren eigenen Handlungsbogen und eine eigene Bedeutung. Welche Lektion haben Sie aus der vergangenen Saison mit dem EM-Titel gelernt?
Weiterhin an mich selbst und das, was ich tue, zu glauben. Auch wenn es andere nicht tun. (schmunzelt)
Als Sprinterin stehen Sie allein auf der Bahn - fühlen Sie sich dort manchmal einsam?
Fürs Mentale ist es schöner, wenn man nicht allein auf der Bahn steht. In Florida trainiere ich in einer großen Trainingsgruppe. Und ich bin ja auch im Teamsport aktiv, denn ich laufe in der Staffel. Da stehe ich nicht allein auf der Bahn und habe ein Team um mich herum. Wir gewinnen und verlieren gemeinsam, es ist völlig egal, wie eine Einzelleistung ist. Es geht nur darum, als Team genial zu performen. Allein, dass wir in London Jenny aus dem Stadion getragen haben (Staffel-Kollegin Jennifer Montag verletzte sich beim Diamond-League-Meeting in der englischen Hauptstadt Ende Juli; d. Red.), zeigt, was dahintersteckt. Das ist Teamsport.
In Deutschland trainierten Sie diesen Sommer jedoch oft allein, sogar ohne Trainer. Klingt hart.
Das ist von Tag zu Tag unterschiedlich. Es gibt Tage, die sind schwerer als andere. Aber ich trainiere in Deutschland ja nicht immer nur allein. Auch mit Becky (Rebekka Haase; d. Red) habe ich letztens eine Staffeleinheit in Bamberg durchgezogen. Aber wenn ich jede Woche einen Wettkampf renne, habe ich keine Zeit, noch mal nach Chemnitz für ein Training zu fahren.
In Ihrer Trainingsgruppe in Florida soll das Training zuletzt extrem kräftezehrend gewesen sein.
Das ist immer hart (lacht schmerzverzerrt). Ich bin da noch nie für Entspannung hingeflogen.
Autsch.
Das letzte Mal heulend auf der Tartanbahn habe ich Ende April oder Anfang Mai gelegen. Tempoläufe. Die haben gekillt und in jenem Moment alles andere als gutgetan. Aber ich war stolz darauf, dass ich das Training geschafft hatte. Das Training dort drüben mit meinen Kolleginnen und Kollegen pusht mich echt noch mal anders, wenn dich zum Beispiel ein Noah Lyles anfeuert und anschreit. Ohne dieses Umfeld hätte ich mich nicht so entwickeln können, wie ich es in den letzten zwei Jahren getan habe.
Schauen Sie sich von Weltmeister Lyles und den anderen Superstars in der Gruppe Tricks ab?
Es gibt durchaus technische Aspekte, auf die ich achte und über die ich mich mit meinen Kollegen austausche. Das ist ja das Schöne an so eine Trainingsgruppe. Ich kann einfach fragen: 'Hey, wie bekommst du das hin? Worauf achtest du in der Ansteuerung?' Da kann mir ein Athlet noch mal ein anderes Feedback geben als ein Trainer. Von Noah Lyles habe ich im letzten Jahr etwa viel gelernt in Sachen "Knee Hang".
"Knee Hang", hängende Knie, was ist das?
Googeln Sie das mal. Ich bin seit drei Jahren da und verstehe es jetzt erst langsam.
(Google verrät dazu allerdings nichts Konkretes. Es scheint sich um die Techniken zu handeln, beim Sprint die Knie in die richtigen Positionen zu bringen und die Füße wieder nach unten zu ziehen.)
Haben Sie eine spezielle Technik, mit der Sie sich neue Trainingsinhalte aneignen und dann auf im Wettkampf auf die Strecke bringen?
Nein. Ich schaue mir das an und mache es nach. Learning by Doing. Es hilft aber auch ungemein für das Mindset, wenn etwa selbst Wayde van Niekerk meint, dass er Angst vor dem jeweiligen Training hat. "Du bist Weltrekordhalter, was soll ich denn dann sagen?", antworte ich dann und sehe, dass solche Gedanken auch bei Top-Athleten, die sehr lange dabei sind, ganz normal sind.
Nur wenige deutsche Athleten gehen den Weg in US-Trainingsgruppen.
Weil sich das kein deutscher Athlet leisten kann. Das Training dort drüben schenkt mir keiner. Das zahlt dir keine Sau. Dazu sind die Lebenshaltungskosten in den USA extrem hoch. Aber vielleicht bekommen wir es endlich mal hin, dass wir internationale Trainingsgruppen in Deutschland kriegen. Das wäre ja mal was.
Sie haben die Einladung von ihrem Trainer Lance Brauman in die US-Gruppe einmal als Ritterschlag bezeichnet: Hätten Sie den EM-Titel ohne diesen Wechsel gewonnen?
Definitiv nein. Allein schon, weil das bei der EM auf der Warm-Up-Bahn zwischen Halbfinale und Finale so eine komische Situation war, dass ich nicht glaube, dass irgendjemand mit mir und der Situation so gut hätte umgehen können wie Lance. Das zeichnet ihn unfassbar aus, das kann er unglaublich gut. (Ein technischer Fehler hatte sich eingeschlichen in Lückenkempers Sprint, den Brauman beim Warm-up erkannte, sofort anging und dann mit einem Pep-Talk die spätere Europameisterin wieder aufbaute; d. Red.)
Sie sind hin und wieder bei Basketballspielen zu sehen. In dem Sport wird davon gesprochen, dass ein Spieler "on fire" ist und eine "hot hand" hat, wenn er eine Phase hat, in der er jeden Wurf trifft. Gibt es solche Momente im Sprint, wenn man merkt: Jeder Schritt ist leicht und perfekt?
(Überlegt lange) In gewisser Weise schon. Es gibt Tage, da trifft man sich einfach gut. Das heißt, die Füße treffen den Boden unter dem Körperschwerpunkt. Dann gibt es auch Tage, da trifft man sich gar nicht.
Nicht jeder Rachefeldzug ist von Erfolg gekrönt. Ihr Plan für die WM, damit es mit der offenen Rechnung klappt?
Schnell rennen (lacht). So bin ich die Europameisterschaft auch angegangen.
Mit Gina Lückenkemper sprach David Bedürftig
Quelle: ntv.de