Narben und Tränen fürs WM-Finale Die Rache der Gina Lückenkemper
19.08.2023, 07:41 Uhr
Gina Lückenkempers Blick geht hoch konzentriert in Richtung WM-Finale.
(Foto: IMAGO/Beautiful Sports)
Gina Lückenkemper hat einen großen Traum: WM-Finale. In Budapest soll es endlich soweit sein, dafür leidet die Sprinterin im Training wie nie. Selbst Tränen auf der Tartanbahn und Narben am Körper stoppen die Europameisterin nicht - schließlich hat sie noch eine Rechnung offen.
Als Patroklos fällt, greift in Homers "Ilias" ein erzürnter Achilles in den Kampf um Troja ein, um seinen Freund zu rächen. Nachdem im mittelalterlichen Epos "Nibelungenlied" ihr Gatte Siegfried ermordet wird, übt Kriemhild Vergeltung. Als Claudius Hamlets Vater in William Shakespeares Drama gewaltsam und sogar "ohne Nachtmahl" umbringt, lässt die Titelfigur sich vom Racheauftrag des Geists seines Erzeugers leiten.
Auge um Auge, Heldinnen und Helden wohin man nur schaut. So auch bei der heute beginnenden Leichtathletik-WM in Budapest (bis 27. August). Dort ist die Rache der Gina Lückenkemper dran. Natürlich handelt es sich bei dieser nicht um eine physische oder psychische Gewalttat. Die Sprint-Heldin will sich an der Weltmeisterschaft rächen. Die es bisher nicht gerade gutgemeint hat mit der 26-Jährigen. Und am Finale. Das ihr bisher den Eintritt verwehrt hat. Doch eine Gina Lückenkemper lässt sich nicht einfach abschütteln. "Ich habe noch eine Rechnung offen mit der WM", sagt die Europameisterin im Gespräch mit ntv.de.
Halbfinale bei der WM 2015 knapp verpasst. 2017 in London mit 10,95 Sekunden die schnellste Zeit aller Vorläufe, dann aber das Aus im Halbfinale. Auch bei den Weltmeisterschaften 2019 in Doha und 2022 in Eugene scheidet sie eine Runde vor dem Finale aus. Das wurmt die ehrgeizige Sprinterin, die am Donnerstag zur Kapitänin des deutschen Teams in Budapest bestimmt wurde, ungemein. Das verfolg sie. Treibt sie an.
"Heulend auf der Tartanbahn"
Lückenkemper hat etwas geradezurücken. Will sich selbst etwas beweisen. "Im letzten Jahr bin ich mit einer Zeit knapp daran vorbeigeschrammt, die in den Jahren davor immer fürs Finale gereicht hatte", sagt sie - und fügt zeitgleich eine Warnung an den Rest des Feldes hinzu: "Mit dem Halbfinale möchte ich mich dieses Jahr definitiv nicht zufriedengeben." Sie wisse, dass sie das Finale (Montag, 21.50 Uhr) "auf dem Kasten habe" und diesmal müsse es einfach gelingen. "Bei der WM wird ordentlich angegriffen", bekräftigt die Athletin vom SCC Berlin ihren sportlichen Rachefeldzug.
Dabei ist Lückenkempers Rache kein emotional gesteuerter Akt. Im Gegenteil. Er ist minutiös durchgeplant. Jedes Detail in ihrem Leben ist auf den großen Erfolg ausgelegt. Auch ein eigentlich unwichtiger Wettkampf beim SCC-Sommerfest wird genauestens analysiert. Obwohl sie dort 200 Meter läuft, was gar nicht mehr ihr Ding ist und bei der WM keine Rolle spielen wird. "In dieser Saison bin ich verdammt viele Wettkämpfe gelaufen, seit Februar in jedem Monat", erklärt sie ihre top fitte Verfassung vor dem Jahreshighlight.
Dazu die harten Trainingsblöcke in den USA. "Ich bin da noch nie für Entspannung hingeflogen", erklärt Lückenkemper ganz ohne Augenzwinkern. "Das letzte Mal heulend auf der Tartanbahn habe ich Ende April oder Anfang Mai gelegen. Tempoläufe. Die haben gekillt und in jenem Moment alles andere als gutgetan." Für das WM-Finale gibt sie alles, feilt bis Unermessliche an ihrem Körper. Opfert ihn sogar. Die Narbe am Knie vom Sturz im Ziel beim EM-Sieg sei eine noch schönere Erinnerung an den Erfolg als die Medaille, sagt die Sprinterin. "Auch wenn das etwas makaber ist."
"Realistisch, bei der WM meine Bestzeit zu knacken"
Gerade das US-Training gibt ihr aber das Selbstvertrauen, das sie für das Finale (und vielleicht eine Medaille) benötigt. "Ohne dieses Umfeld hätte ich mich nicht so entwickeln können, wie ich es in den letzten zwei Jahren getan habe", sagt Lückenkemper. Das Elite-Camp in den USA hat die schnellste Frau Europas auch persönlich verändert und reifen lassen. Sie ist abgeklärter geworden. Noch bestimmter. Erwachsener. Noch mehr Profi.
Besonders beim Thema WM bleibt ihre Miene ernst. Gina Lückenkemper ist eine Frau auf einer Mission. "Ich bin noch krasser geworden", sagt die Sprinterin. "Das sieht man schon daran, dass ich die 11,0-Sekunden-Zeiten mittlerweile viel stabiler und konstanter laufe. Egal bei welchen Bedingungen." Sie halte es "für realistisch, bei der WM in Budapest meine Bestzeit zu knacken". Ohnehin habe sie im vergangenen Jahr gelernt, als nicht viele ihr EM-Gold zugetraut hatten, stetig weiter an sich selbst zu glauben. Mit einem Schmunzeln fügt Lückenkemper nach einer kurzen Pause hinzu: "Auch wenn es andere nicht tun."
Zwischendrin blitzt immer wieder der die Massen so einfach mitreißende Mensch Gina auf. Der fröhlich-herzliche Charakter, das Lachen, spontan-flapsige Antworten. Dafür lieben die Fans sie mindestens genauso wie für ihre schnellen Zeiten und Erfolge. Auch deshalb wählten Journalistinnen und Journalisten Lückenkemper zur Sportlerin des Jahres 2022. "Ich versuche, die Dinge immer positiv zu sehen und bin ein fröhlicher Mensch", sagt sie. "Aber nicht immer. Ich kann auch anders." Dann lacht sie. Logisch.
"Europameisterin" klingt noch immer "komisch"
Bei Gina Lückenkempers Suche nach WM-Vergeltung handelt es sich nicht um die Wiederherstellung verletzter Ehre oder dergleichen. Als Europameisterin mit 26 Jahren ist sie schon jetzt eine der besten Sprinterinnen in der deutschen Geschichte. Vielmehr hat dieser Titel die unstillbare Gier nach Erfolg noch verstärkt. Die Lust, immer besser - immer krasser - zu werden angestachelt. Selbst wenn die Bezeichnung "Europameisterin" sich für die Athletin "immer noch komisch" anhört.
Nicht jeder Rachefeldzug ist von Erfolg gekrönt. Hamlet stirbt mit der gesamten königlichen Familie Dänemarks. Kriemhild wird erschlagen. Und ein Pfeil in der Ferse streckt Achilles im Garten der Akropolis von Troja nieder. Doch Gina Lückenkemper weiß genau, wie sie die Weltmeisterschaft in Budapest bezwingen kann. Wie sie zur epischen Heldin ganz ohne Blutvergießen aufsteigen kann.
Nach allen Trainings-Opfern, allen Tränen auf der Tartanbahn, allen detailliert ausgewerteten Wettkampf-Daten: Am Ende gilt auf der Strecke. 100 Meter, durchpowern, abliefern, keine Fehler. Und so verrät die Sprinterin ihren geheimen wie simplen Plan für das Turnier, damit es mit der offenen Rechnung klappt: "Schnell rennen".
Quelle: ntv.de