
Juri Knorr entschuldigte sich bei den deutschen Fans.
(Foto: picture alliance/dpa)
Das DHB-Team feiert bei der Handball-EM einen großen Erfolg: Vorzeitig erreicht die deutsche Mannschaft das Halbfinale. Doch die Party wird gecrasht - vom Gastgeber persönlich. Diverse Nationalspieler sind einigermaßen erschüttert von ihrem eigenen Team.
Juri Knorr grinste. Der ansonsten im Kontext eines Handballspiels stets ernste und fokussierte Spielmacher der deutschen Nationalmannschaft schwebte gut gelaunt überlebensgroß über dem Feld in der Kölner Lanxess-Arena, wo sein Team gerade Kroatien bearbeitete. Die Arenaregie hatte das Gesicht des 23-Jährigen kurz vor der Halbzeit auf den gigantischen Videowürfel in der Halle gelegt, nachdem Kollege Sebastian Heymann das DHB-Team zuvor mit einer gewaltigen Brandfackel gegen Kroatien in Führung geworfen hatte. Juri Knorr staunte, es war alles gut. Auch wenn schon da bei Weitem nicht alles perfekt war.
Dann kippte die Stimmung: Am Ende des Abends entschuldigte sich Juri Knorr. "Es tut mir ehrlich gesagt leid für jeden, der heute da war und sich Tickets gekauft hat", sprach der deutsche Taktgeber über das Hallenmikrofon zu den Menschen in der natürlich wieder prall gefüllten Arena. "Wir sind im Halbfinale, aber vielleicht haben wir uns davor zu viel damit beschäftigt und im Kopf abgeschaltet. Das tut mir und uns allen extrem weh."
"Wer sich nicht konzentrieren kann, kommt raus!"
Es ist ein bisschen tragisch, mindestens aber ärgerlich: Am Abend, an dem der deutsche Handball den größten Erfolg seit der Heim-WM 2019 feiern durfte, will sich Juri Knorr bei den Zuschauern entschuldigen. Das DHB-Team steht im Halbfinale der Europameisterschaft im eigenen Land, ein großartiges Ergebnis, das vielleicht nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu mehr ist. "Es ist das Geilste auf der Welt, ein Halbfinale vor unseren Fans spielen zu dürfen", sagte Knorr später mit Blick auf das Duell am Freitag (20.30 Uhr/ZDF und im Liveticker bei ntv.de) mit dem Topfavoriten Dänemark. "Das macht mich sehr stolz." Ins Halbfinale getragen, so versichern sie immer wieder, wurde das deutsche Team durch die Fans - und durch Island und Frankreich, die die Konkurrenz aus Österreich und Ungarn besiegt hatte.
Und das war ein Problem an diesem Abend in der Kölner Lanxess-Arena, wo sie eigentlich gemeinsam mit den euphorischen Anhängern den großen Erfolg feiern und sich noch ein bisschen Schwung fürs Halbfinale holen wollten. Stattdessen haben die Männer in den schwarzen Trikots ihre eigene Party gecrasht.
Gegen Kroatien lieferten die Männer von Bundestrainer Alfred Gíslason im bedeutungslosen letzten Hauptrundenspiel eine Leistung ab, die den erfahrenen Kai Häfner zur Aussage brachte, man habe "als Mannschaft versagt". 24:30 hieß es nach einer wackligen Anfangsphase und einer zweiten Hälfte, die wieder alte, überwunden gehoffte Zumutungen mit sich brachte: technische Fehler, unkonzentrierte Abschlüsse und erneut eine Flut an Fehlwürfen. "Wer sich nicht konzentrieren kann, soll sich melden und kommt raus", schimpfte Gíslason in einer Auszeit. Eine Unzahl von Chancen hatten sie sich herausgespielt und wieder viel zu viele liegengelassen. "Ihr müsst die Scheiß-Dinger auch reinmachen."
"Das nervt gerade"
Natürlich, Gíslason hatte früh die erste Sieben nahezu komplett vom Feld genommen und seiner zweiten Reihe jede Menge Spielzeit gegeben. Doch die Erklärung für die maue Vorstellung der Mannschaft, die zwei Tage vorher beim 35:28 über Ungarn noch begeistert hat und mit ihrer Mentalität, ihrer Persönlichkeit und ihrer handballerischen Qualität jederzeit große Emotionen heraufbeschwören kann, lag woanders: "Heute waren wir einfach nicht bereit für ein Europameisterschaftsspiel, so können wir nicht in ein Spiel gehen", sagte Kai Häfner. "Das nervt auch gerade. So darfst du kein Heimspiel bestreiten. So dürfen wir uns nicht präsentieren."
Die 19.750 Zuschauer wurden irgendwann nur noch auf Knopfdruck und per Arenalautsprecher bewegt, große Emotionen weckte die deutsche Mannschaft an diesem Abend nicht mehr. Die Konstellation habe "natürlich eine große Rolle gespielt", gab Knorr offen Einblick in die Psyche der Mannschaft. "Ich wiederhole mich, aber es tut mir leid."
Juri Knorr, der wichtigste deutsche Spieler, auf den sich allzu oft im Falle einer Niederlage die Kritik kapriziert, stellte sich persönlich in den Wind. Und es zeichnet den Spielmacher, der selbst in der wildesten Phase des deutschen Spiels gar nicht selbst auf der Platte stand, aus: Keine Kritik am Spiel der deutschen Mannschaft könnte schärfer sein als das, was Knorr selbst noch in der Halle formulierte. "Eine große Mannschaft, die wir werden wollen, gewinnt auch so ein Spiel. Oder geht wenigstens mit der Mentalität in ein solches Spiel, alles zu geben. Das haben wir heute nicht getan." In der ARD ergänzte er: "Wir haben so ein emotionales kämpferisches Turnier gespielt und das heute dann so vermissen zu lassen, ist ein bisschen enttäuschend. Ich frage mich schon, warum wir das heute so machen."
Es ist eine Stärke, gerade in dem Moment, wo man die Enttäuschung unter Verweis auf das erreichte Große deutlicher relativieren könnte. Stattdessen hob Knorr die Bedeutung dieses einen, für den Verlauf des Turniers völlig unbedeutenden Spiels hervor: "Jeder weiß, was so ein Ticket kostet. Dem müssen wir uns auch bewusst sein, auch wenn wir das Halbfinale erreicht haben – nicht jeder hat wahrscheinlich die Möglichkeit, sich noch ein Ticket für das Halbfinale zu kaufen. Das tut mir einfach leid für jedes Kind, für jeden Einzelnen in dieser Halle." Das schwere Leiden an der eigenen Leistung und die gnadenlose Selbstkritik, wie sie Knorr und Häfner zeigten, ehren die Mannschaft, die noch keine große ist, aber im Verlauf des Turniers noch werden kann.
Seine Mannschaft habe sich seit dem EM-Start schon "sehr schön weiterentwickelt", lobte der Bundestrainer. "Es war seit einem Jahr unser Traum, dass wir das Halbfinale erreichen. Es ist extrem wichtig für die Jungs, dass sie das geschafft haben. Wir sind sehr glücklich darüber", machte Bundestrainer Gíslason klar, welche Bedeutung das Wissen um den Halbfinaleinzug hatte.
"Wir brauchen die Leute da draußen"
Es lohnt angesichts des offensichtlichen Spannungsabfalls eben auch, daran zu erinnern, dass die deutsche Mannschaft bei diesem Turnier seit dem ersten Tag unter permanentem Druck steht. Eine Europameisterschaft verzeiht keine Schwächephase. Schon das Weltrekordspiel von Düsseldorf zum Auftakt brachte durch seine schiere Dimension einen emotionalen Ausnahmezustand, später kamen Quasi-Endspiele im gnadenlosen Zwei-Tages-Rhythmus über die junge Mannschaft, die große Erwartungen schultert. Nach der enttäuschenden Vorstellung gegen Österreich (22:22), die die Mannschaft sportlich und emotional in eine schwierige Situation gebracht hatte, hatten sie sich mit "harten Worten" (Rückraumspieler Julian Köster) selbst aus dem Strudel gezogen, die Reaktion - das 35:28 gegen Ungarn - war in weiten Teilen begeisternd. Aber es kostet alles Kraft.
Die ganze Hauptrunde war nicht nur eine sportliche, sondern auch eine gewaltige emotionale Herausforderung am Rande des Ausscheidens. Der Thriller gegen Island (26:24), die selbstzerstörerische Aufholjagd gegen Österreich, der Befreiungsschlag gegen Ungarn: jedes Spiel eine Grenzerfahrung zwischen Verzweiflung und Euphorie. Eben bis auf das letzte. Das hat genervt. "Ich finde es sehr schade, dass wir dieses Spiel verloren haben. Aber es ist kein Genickbruch", sagte Rune Dahmke, neben Häfner einer der letzten Helden vom sensationellen EM-Triumph 2016. "Ich kann versprechen, dass wir am Freitag ein komplett anderes Gesicht zeigen werden."
Am Freitag wartet die größte Aufgabe des Welthandballs auf die deutsche Mannschaft: Serien-Weltmeister Dänemark kommt nach Köln. Bis dahin wird das Team, das ein hervorragendes Binnenklima auszeichnet, den Ärger über den Spannungsabfall längst hinter sich gelassen haben. "Die Zuschauer müssen den Tag zu einem besonderen machen. Wir brauchen die Leute da draußen. Sonst haben wir keine Chance", verabschiedet sich Juri Knorr nach seiner Entschuldigung kämpferisch. "Die Fans sind ein riesiger Faktor. Es war bisher gigantisch, aber wir brauchen noch mehr. Wir brauchen das Doppelte." Und sie müssen selbst auch wieder das Doppelte geben.
Quelle: ntv.de