Sprintstar Kittel im Interview "Grünes Trikot ist völlig unrealistisch"
16.10.2017, 10:37 Uhr
Er liebt den Sprint, er kann den Sprint: Marcel Kittel.
(Foto: picture alliance / Yorick Jansen)
Fünf Etappensiege feiert Supersprinter Marcel Kittel bei der Tour de France in diesem Jahr. Dann der Schock: Sturz, Tour-Ausstieg und keine Chance auf das Grüne Trikot. Nach dem Saisonende spricht Kittel mit ntv.de über diese Situation, seine Pläne, den Reiz eines Massensprints und seine Thüringer Heimat.
ntv.de: Herr Kittel, die Radsportsaison 2017 ist vorbei, seit wann hängt Ihr Rad für dieses Jahr am Haken?
Marcel Kittel, 1988 in Arnstadt geboren, ist Deutschlands bester Straßenradsprinter. Seine Karriere begann er 2007 beim Nachwuchs-Team Thüringer Energie. Danach fuhr er für Skil-Shimano, Argon-Shimano, Giant-Shimano, Giant-Alpecin und Quick-Step Floors. Seit 2018 steht er bei Katusha-Alpecin unter Vertrag und fährt damit an der Seite des mehrfachen Zeitfahrweltmeisters Tony Martin.
Kittel feierte 2017 unter anderem fünf Etappensiege bei der Tour de France. Insgesamt triumphierte er 14 Mal bei Etappen der Frankreich-Rundfahrt, 4 Mal auf Teilstücken des Giro d'Italia und er siegte ein Mal bei der Vuelta.
Marcel Kittel: (lacht) Seitdem ich nach dem Rennen in Münster vom Rad gestiegen bin, habe ich die Beine hochgelegt. Das sind jetzt knapp eineinhalb Wochen.
Wie lange rühren Sie jetzt persönlich kein Fahrrad an?
Wenn mich jetzt die Lust packt, mich mal für eine Stunde aufs Rad zu setzen für eine Ausfahrt, dann mache ich das. Aber ich versuche schon bis Ende Oktober, Anfang November die Füße still zu halten und mir die Ruhe zu gönnen.
Und dann geht's bereits wieder rauf aufs Rennrad und das Training für die neue Saison beginnt?
Der Plan steht, dass ich Anfang November wieder strukturiert ins Training einsteige und mich vorbereite auf das Team-Trainingslager im Dezember. Im Januar folgt ein weiteres. Ich denke auch, dass ich Mitte November schon einmal in Spanien unterwegs sein werde.
Bleibt da für einen Thüringer überhaupt Zeit für die bekannten kulinarischen Köstlichkeiten wie Thüringer Bratwürste, Klöße und Plätzchen?
(lacht) Die Zeit nehme ich mir! Das Erste, was ich nach dem Ende der Saison gemacht habe, als ich wieder in Erfurt war: Ich habe mir eine Bratwurst geholt. Klingt nach Klischee, ist aber so. Ich stehe zu meinen Thüringer Wurzeln. Aber ich lege es jetzt auch nicht drauf an, dass ich nach der Saison plötzlich alles essen muss, was ich sonst nicht unbedingt esse. Bei mir ist es so: Wenn ich im Sommer Bock auf eine Bratwurst habe, esse ich eine.
Wie oft sind Sie über das Jahr gesehen noch in Ihrer Thüringer Heimat?
Ehrlich gesagt: Nicht mehr so viel. Vielleicht vier bis fünf Mal im Jahr für ein paar Tage. Wenn überhaupt.
Wie viel Kilometer Rad sind Sie in diesem Jahr denn gefahren?
Das ist eine gute Frage - noch ist das Jahr ja nicht zu Ende. Ich denke, dass ich so bei zwischen 32.000 und 34.000 Kilometern rauskommen werde.
Wie fällt Ihr sportliches Fazit zur abgelaufenen Saison aus?
Ich bin sehr zufrieden mit dem Erreichten, keine Frage! Ich habe alle meine zuvor gesteckten Ziele erreicht oder wie bei der Tour sogar deutlich übertroffen. Die fünf Etappensiege dort waren mehr, als ich mir je erträumt habe. Ich bin superstolz auf 2017!
Sie sprachen die fünf Tour-Etappensiege an. Das Grüne Trikot war der zwischenzeitliche Lohn - bis zum Sturz auf der 17. Etappe und dem Ausstieg aus der Rundfahrt. Wie sind Sie damit umgegangen? Hat es Sie lange beschäftigt?

Marcel Kittel quälte sich nach dem Sturz, kurz darauf gab er auf und stieg aus der Tour 2017 aus.
(Foto: picture alliance / David Stockma)
Ich hab schon ein bisschen dran geknabbert. Sturz, Aufgabe, Rennen vorbei. Aber letzten Endes habe ich mir dann auch recht schnell gesagt, dass ich noch weitere Rennen vor mir habe, dass ich noch viel erreichen kann. Und dann überwog auch schnell der Stolz auf das Erreichte: die fünf Etappensiege bei der Tour. Am Mittwoch war der Sturz, am Donnerstag die Heimreise nach Deutschland, am Sonntag war ich bereits wieder in Paris - zum Anfeuern und zum Abschlussessen. Die Tour 2017 hatte für mich so gesehen Höhen und Tiefen.
Sie sind 29 Jahre alt. War der Tour-Ausstieg als Träger des Grünen Trikots Ihr bisher schwerster Moment als Radprofi?
Nein. Natürlich war das ein krasser Moment. Aber schlimmer, weil auch langanhaltender war das Horrorjahr 2015 mit hartnäckiger Krankheit und der Nicht-Nominierung für die Tour.
Welche Schlüsse haben Sie aus all dem gezogen - oder muss man solche Situationen als Radprofi einfach hinnehmen?
Ja. Das kann immer passieren, man muss es also hinnehmen. Keine Frage: Sport kann sehr grausam sein. Das macht aber auch die Faszination Tour de France aus, das gehört zu der Geschichte, die jedes Jahr erzählt wird, eine Geschichte mit Aufs und Ab, mit Happy End oder eben nicht. Das ist die Spannung, die in einer Drei-Wochen-Rundfahrt liegt. Man weiß nie, wo man am Ende landen wird! Etwas daraus lernen ist schwierig - vielleicht das, wie man mit der Situation umgegangen ist. Ein neuer Erfahrungswert sozusagen.
Sie gelten als reiner Sprinter. Das Grüne Trikot geht in der Regel - siehe Peter Sagan in den letzten Jahren - aber meist an Allrounder. Wie hoch schätzen Sie Ihre Chancen ein, das Grüne Trikot einmal auch in Paris zu tragen?

In den Massensprints bei der Tour 2017 hatten die anderen Sprinter meist das Nachsehen.
(Foto: picture alliance / Yorick Jansen)
Die vergangenen Jahre haben klar gezeigt: Wenn ich einmal eine realistische Chance auf das Grüne Trikot haben will, muss ich mindestens fünf Etappen gewinnen. In dieser Saison hätten es, um ganz sicher zu sein, sogar sechs sein müssen. Aber was ist schon sicher? 2013 und 2014 habe ich jeweils vier Etappen gewonnen und war damit aber nicht einmal ansatzweise nahe am Gewinn des Grünen Trikots. Perspektivisch heißt das: Das Grüne Trikot ist für einen reinen Sprinter wie mich absolut unrealistisch. Das ist einfach so, das ist die Realität.
Apropos Realität: Gibt es bereits Pläne und Ziele für die kommende Saison, neue Herausforderungen?
(lacht) Natürlich gibt es die schon. Ich habe sie mit der Teamleitung von Katjuscha abgesprochen. Aber sie sind noch nicht spruchreif, endgültig oder gar offiziell. Ich kann aber so viel sagen, dass ich im Vergleich zu dieser Saison nicht viel ändern werde.
Geändert haben Sie allerdings den Rennstall. Sie fahren in der kommenden Saison nicht mehr für Quick-Step Floors, sondern für Katjuscha-Alpecin und sind damit Teamkollege von Tony Martin. Was hat Sie zu diesem Schritt bewogen?
Für mich stand die Entscheidung an: Bleibe ich bei Quick-Step und habe damit eine starke Sprintkonkurrenz im eigenen Team, muss mich vielleicht sogar erst für die Tour qualifizieren; oder wechsele ich, um meinen eigenen Weg gehen zu können? Ich habe mich für Letzteres entschieden und das auch mit Quick-Step so kommuniziert. Die Trennung erfolgte im Guten, ich bin sehr stolz, Teil dieser Mannschaft gewesen zu sein. Andererseits: Mit dem Wechsel zu Katjuscha-Alpecin bin ich ebenfalls sehr zufrieden!
Kommt Ihnen dabei entgegen, dass Sie keinen klassischen "Sprintzug" benötigen?
(lacht) Ich habe schon alles gehört. Bei meiner ersten Tour und den vier Etappensiegen hieß es noch: Der Kittel gewinnt doch nur wegen seines starken "Lead outs" (Sprintzug, Anm. d. Red.). In diesem Jahr hieß es dann: Der Kittel brauch überhaupt keinen "Lead out". Fakt ist: Ohne Team bist du im Radsport nichts! Eine starke Mannschaft ist der Schlüssel zum Erfolg. Die letzten paar Hundert Meter kann ich sicherlich alleine durchziehen, aber um erst einmal dahin, in diese aussichtsreiche Position in einem Massensprint zu kommen, ist eine starke Mannschaft unverzichtbar.
Thema Massensprint: Was ist das Besondere daran? Der Nervenkitzel? Kampf Mann gegen Mann?
Der Reiz in einem Massensprint besteht darin, sich solange zu verstecken, bis der richtige Moment gekommen ist, um nach vorn zu fahren und den Sieg einzufahren. Bis dahin heißt es: Nervosität, Action, ständig wechselnde Szenarien, richtiges Hinterrad - man muss sich immer wieder von Neuem behaupten. Diese Unvorhersehbarkeit macht auch den Reiz aus.
Das klingt spannend: Wie sind Sie überhaupt zum Radsport gekommen?
Mein Vater war als Radsportler in der DDR bereits aktiv, kein Profi, aber sehr gut unterwegs und ist auch heute noch passionierter Hobbyradfahrer. Ich habe als Kind erst Leichtathletik gemacht in Arnstadt, wie meine Mutter früher, und als mit das zu langweilig war, bin ich aufs Rad gestiegen, ebenfalls in Arnstadt und zu Beginn mit dem Mountainbike. Das ist eine hervorragende Technikschule. Dann ab aufs Rennrad - und dabei geblieben.
Zum Glück. Der Grundstein Ihrer heutigen Erfolge wurde bereits in der Kindheit gelegt. Wie ist es denn um den deutschen Radsport heute bestellt?
Sehr gut, denke ich. Wir haben bereits seit mehreren Jahren in allen Bereichen sehr gute Radrennfahrer am Start. Kontinuierlich stoßen weitere aus dem Nachwuchs dazu. Wie es in zehn Jahren aussieht, weiß ich natürlich nicht. Aber aktuell ist ganz klar genug Talent in Deutschland vorhanden - sowohl was die Profispitze betrifft als auch Jugend und Junioren. Ausruhen darf man sich nicht und klar ist auch, dass es gerade im Jugendbereich am schwersten für die Verantwortlichen ist, Sponsoren zu finden.
Mit Marcel Kittel sprach Thomas Badtke
Quelle: ntv.de