Jumbo-Visma bedrängt sich selbst Die alles verschlingende Supermacht des Radsports
17.09.2023, 09:02 Uhr
Gewann die Tour de France am Ende deutlich: Jonas Vingegaard.
(Foto: REUTERS)
Noch nie gewann ein Team alle Grand Tours in einem Jahr. Jumbo-Visma ist auf dem besten Weg dorthin. Nach den Erfolgen beim Giro d'Italia, der Tour de France, steht auch der Triumph bei der Vuelta in Spanien bevor. Die Dominanz ist so groß, dass das Team die Spitzenplätze verteilen kann.
Am Ende der 20. Etappe der Vuelta steht ein eindrucksvolles Bild. Drei Radfahrer, die gemeinsam Hand in Hand ins Ziel einfahren. Links Tourgigant Jonas Vingegaard, rechts Olympiasieger Primoz Roglic: Sie rahmen denjenigen ein, der normalerweise nie im Mittelpunkt steht: den US-Amerikaner Sepp Kuss. Der 29-Jährige ist jemand, den man im Radsport einen Edelhelfer nennt. Schon seit Jahren hievt er die Stars seines Teams aufs Podest. Etwa Roglic bei dessen Vuelta-Siegen 2019, 2020 und 2021. Oder Vingegaard. Kuss zog den Dänen in seinem Windschatten rund 3400 Kilometer quer durch Frankreich zu dessen zweitem Tour-Triumph.
Doch auf einmal steht der Edelhelfer im Roten Trikot, dem Leibchen des Vuelta-Gesamtführenden, da. "Ich bin ohne Erwartungen hierhergekommen und wollte den Jungs wie immer nur helfen. Dann kam ich in dieses wunderschöne Trikot und entdeckte ein neues Maß an Selbstvertrauen", sagte er. Mit der Rollenverteilung kamen nicht alle bei Jumbo-Visma klar: Am Mittwoch noch wurde der Führende von seinen eigenen Kollegen Vingegaard und Roglic attackiert - und konnte nicht mithalten. Im dichten Nebel von Alto de L'Angliru ließen sie ihn am Berganstieg einfach stehen. Kuss rettete immerhin einen Mini-Vorsprung von acht Sekunden ins Ziel.
Der Angriff irritierte. Manch Experte schimpfte über "illoyales und respektloses" Verhalten der großen Stars, andere nannten sie "komplette und absolute Bastarde". Schließlich hatte Kuss diesen beiden Fahrern zuvor zu ihren Triumphen zuvor verholfen. Er sei ganz klar stärker als alle anderen im Peloton, sagte auch Eurosport-Experte Jens Voigt während der Live-Übertragung bei der 17. Etappe. Die einzigen, die ihn gefährden könnten, seien seine beiden Mannschaftskameraden, die auch genau das taten. "Es scheint ihnen einfach egal zu sein. Ich finde das schon erstaunlich." Die Aufregung war groß, die Auflösung folgte erst einen Tag später: Kuss soll die Vuelta gewinnen, Roglic stimmte dem Waffenstillstand öffentlich eher zähneknirschend zu.
Erst Giro, dann Tour, jetzt Vuelta
Doch diese Geschichte zeigt: Dass sich Jumbo-Visma bei den Schlussetappen einer dreiwöchigen Rundfahrt solche Spielchen erlauben kann, offenbart, über welche Dominanz das Team verfügt. Die Niederländer können nur an sich selbst scheitern. Noch nie hat im Straßenradsport ein Team alle drei Grand Tours in einem Jahr gewonnen. Jumbo-Visma schafft das sogar mit drei verschiedenen Fahrern. Zudem liegt es fast 60 Jahre zurück, dass ein Rennstall bei einer Rundfahrt das Podium mit drei Fahrern für sich allein beansprucht. Doch die Niederländer können das.
Erst bei der Giro d'Italia, als Roglic am Ende der Sieger hieß. Der Slowene sicherte sich erst kurz vor Schluss der Rundfahrt das Rosa Trikot und gab es nicht mehr her. Bei der Tour de France lieferte sich Vingegaard einen spektakulären Schlagabtausch mit Dauerkonkurrenten Tadej Pogacar. Beide Radgiganten fuhren in einer eigenen Liga, zwischen ihnen lagen lange nur wenige Sekunden. Bis zur dramatischen Königsetappe: Pogacar brach am Col de la Loze völlig ein und damit seine Tour-Hoffnungen zusammen. Und nun triumphiert das Team eben auch bei der Vuelta, bei dem Roglic einen Vorsprung von knapp drei Minuten auf den ärgsten Verfolger, den Spanier Juan Ayuso, hat.
Jumbo-Visma kann machen, was es will. Das liegt auch daran, dass sich der niederländische Traditionsrennstall Unmengen an Preisgeldern erkämpft hat. Das viele Geld hilft zwar dabei, Topstars wie Vingegaard, Kuss, Roglic, Tiesj Benoot oder Alleskönner Wout von Aert zu halten. Es allein reicht aber nicht. Jumbo-Visma sind Experten darin, Rennpläne zu entwerfen und die Stärken ihrer Stars auszuspielen. Das macht im Moment niemand besser.
Und immer wieder: Dopingvorwürfe
Doch die Konkurrenz beobachtet das mit Argwohn. Wie Red Bull in der Formel 1 schadet eine solche Dominanz dem Sport. Ex-Profi Jérôme Pineau warf dem Team etwa vor, bei der Ausrüstung zu schummeln. Er witterte Motordoping, also, dass die Räder des niederländischen Teams manipuliert seien. Jedoch lieferte er nichts Handfestes - bei den Kontrollen des Verbands war nichts aufgefallen. "Auch bei Lance Armstrong gab es nie Beweise, aber wir Fahrer im Feld wussten Bescheid. Jetzt passiert genau das Gleiche", sagte Pineau.
Und trotzdem: Erst im Sommer musste Jumbo-Visma einen Fahrer wegen Dopings suspendieren. Der Deutsche Michel Heßmann war mit einem positiven Test aufgefallen. Er war Helfer bei Roglics Giro-Triumph. Heßmann soll ein Diuretikum verwendet haben. Die Mittel regen die Harnproduktion an und sorgen so für die Entwässerung des Körpers. Kuss sagte zuletzt, dass Doping für ihn "nicht infrage" komme, schließlich gehöre Verlieren zum Sport dazu. Vingegaard ergänzte, dass er sich "100 Prozent sicher" sei, dass auch seine beiden Kollegen Kuss und Roglic sauber seien.
Geld aus Saudi-Arabien?
Eine andere Sorge ist dagegen schon eher überraschend. Das Team steht vor einer ungewissen Zukunft. Der Sponsor, die niederländische Supermarkt-Kette Jumbo, kämpfte zuletzt mit Geldwäschevorwürfen. Deshalb zieht sich das Unternehmen aus dem Sportsponsoring zurück. Für den Radrennstall fehlt deshalb noch ein Sponsor ab 2025. Verschiedenste Möglichkeiten kursieren derzeit durch die Medien. Wird es vielleicht ein Krypto-Unternehmen? Es ist eine Variante, die auch schon im Radsport gescheitert ist - etwa beim Team Qhubeka NextHash.
Angeblich streckt zudem Saudi-Arabien seine Fühler aus. Schon jetzt sorge der Einfluss aus dem Mittleren Osten für ein Ungleichgewicht, mahnte etwa Bora-hansgrohe-Manager Ralph Denk. Er verlor seinen Edelhelfer Nils Politt an das Pogacar-Team UAE Emirates - auch wegen des besseren Gehalts. Im Radsport sind die Vereinten Emirate und Bahrain schon vertreten - und rüsten mit ihren finanziellen Möglichkeiten kräftig auf.
Sepp Kuss wird all diese Entwicklungen genau mitverfolgen: die Attacke seiner Teamkollegen, der finanzielle Überlebenskampf des Rennstalls. Sein Vertrag läuft noch bis Ende 2024. Nur, wenn er in Madrid auf die Zieleinfahrt einbiegt, zählt vor allem wohl die Gegenwart. Sein Team schafft den historischen Titelhattrick und er gewinnt eine der drei Grand Tours, sein Name bleibt auf ewig damit verknüpft. Und damit die Geschichte, wie aus einem Helfer plötzlich ein Anführer wurde.
Quelle: ntv.de