Thunder lässt Topteams erzittern Die NBA-Sensation, die eigentlich viel zu früh kommt
28.01.2024, 08:41 Uhr
Shai Gilgeous-Alexander ist der Superstar bei den Thunder.
(Foto: AP)
Eigentlich stecken die Oklahoma City Thunder mitten im Wiederaufbau. Doch nach der Hälfte der Saison der NBA hat sich das zweitjüngste Team der Liga nicht nur als größte Überraschungsstory etabliert, sondern fordert die Elite-Klubs heraus.
62 Punkte! 62 Punkte Unterschied! Vor zwei Wochen vermöbelten die Oklahoma City Thunder den Division-Rivalen Portland Trail Blazers mit 139:77. Es war eine Demontage, der fünfthöchste Differenzwert in der Geschichte der NBA. Vor Start des Schlussviertels stand es bereits 118:56, die ebenfalls 62 Punkte Differenz zu diesem Zeitpunkt waren neuer, ewiger Ligarekord. Noch nie war ein Team nach 36 Spielminuten dermaßen auseinander genommen worden. Mit jenem Sieg war die Truppe aus Oklahoma auf Rang eins im Westen geklettert. Dort steht das zweitjüngste Team der Liga auch nach 45 absolvierten Partien.
Die Entwicklung von OKC ist die große Sensation dieser Saison. Die Franchise verblüfft längst nicht mehr nur als simple Aschenputtel-Story, wie noch zu Beginn; als Überraschungsteam, dem hier und da mal bemerkenswerte Erfolge gelingen. Das ist mittlerweile auch viel mehr als nur ein kleines Zwischenhoch. Mit wiederholten Siegen gegen die absoluten Top-Klubs Denver, Boston, Minnesota, Phoenix und die L.A. Clippers, haben sich die Thunder längst als veritabler Titelanwärter etabliert. Niemand hat auswärts häufiger gewonnen, nur die Boston Celtics haben insgesamt mehr Siege eingefahren.
Mit Glück lässt sich der bisherige Erfolg längst nicht mehr wegerklären. Die zweithöchste Punktedifferenz und absolute Elite-Werte in Angriff und Verteidigung - nur Boston und Philadelphia platzieren sich wie OKC vorne und hinten unter den besten fünf Teams aus 30 - lassen die Mannschaft aus dem mittleren Westen der USA wie einen waschechten Mitfavoriten aussehen. Eigentlich befinden sich die Thunder im Wiederaufbau, haben seit 2020 keine Playoffs mehr gespielt und seit 2016 keine Playoff-Serie gewonnen. Aber die Art und Weise, wie sie bisher jede noch so schwere Aufgabe gemeistert haben, lässt vermuten, dass hier vor allem Augen im Eiltempo die nächste Dynastie heranwachsen könnte.
MVP, Rookie of the Year, Coach of the Year
Shai Gilgeous-Alexander ist der Superstar bei den Thunder. Der 25-Jährige hat sich in der Abgeschiedenheit von Oklahoma City vom Top-Talent zum All-Star, zum All-NBA Guard, zum MVP-Kandidaten entwickelt. Brillant an beiden Enden des Parketts, ist der Kanadier viertbester Scorer (31,1 Punkte pro Partie) und führt die Liga bei den Steals an (2,3 pro Partie). Niemand in der NBA ist gefährlicher beim Zug in die Zone, niemand generiert mehr Punkte aus Drives als "SGA", der sowohl in Korbnähe als auch aus der Mitteldistanz mit verheerender Effizienz abschließt. Dass er trotz enorm hoher offensiver Nutzungsrate auch hinten so viel Verantwortung übernimmt, macht ihn zu einem der komplettesten und wertvollsten Spieler der Liga. Sein Aufstieg war kometenhaft, niemand hatte diesen Sprung, in dieser Art und Weise, erwartet. Einen solchen Franchise-Spieler als Fundament in einem Trade zu erhalten, ist rar - und hat OKCs Trajektorie nachhaltig verändert.
Die andere faszinierende Personalie ist Chet Holmgren. Gebaut wie eine Stabschrecke, 2,16 Meter groß, ausgestattet mit einer 2,30-Meter-Spannweite und der flüssigen Beweglichkeit eines Guards, hat sich der 21-Jährige schon nach wenigen Monaten einen Namen als kommender Superstar gemacht. Bereits 2022 gedraftet, musste der Center eine volle Saison verletzt aussetzen und gab erst heuer sein Debüt. Das verlief bisher so überragend, dass Holmgren nicht nur als seriöser Herausforderer von Jahrhunderttalent Victor Wembanyama im "Rookie of the Year" Rennen hervorsticht, sondern schon jetzt im Dunstkreis der All-Star Plätze operiert. Der viertbeste Shotblocker der NBA ist der Hauptgrund, warum die bereits im Vorjahr offensivstarken Thunder jetzt auch in der Defensive zu den dominantesten Teams der Liga zählen. Gleichzeitig streut er auch vorne mit einer für Rookies in dieser Art nie dagewesener Effektivität ein (17,1 Punkte pro Spiel bei überragenden Quoten aus dem Feld und von der Dreierlinie).
Dank "Rising Star" Jalen Williams hat OKC die Umrisse einer neuen "Big Three". Williams ist die perfekte zweite Option im Angriff, verteidigt beinhart und steht mit 22 Jahren erst am Anfang einer vielversprechenden Karriere. Thunder-Coach Mark Daigneault hat es geschafft, die relative Unerfahrenheit seiner Protagonisten dank kreativer Strategien zu maskieren und die Stärken seiner jungen Truppe zu maximieren. Daigneault, mit 38 Jahren selbst drittjüngster Head Coach der NBA, experimentiert viel, wirft alte Konventionen über den Haufen und versteht es wie kein Zweiter, seine Gegner taktisch zu verwirren. Dass er die beste Halbfeld-Offensive der Liga und eine erstickende Defensive kreiert hat, macht ihn zum Top-Favoriten auf die Auszeichnung zum "Coach of the Year".
Die Geschichte wiederholt sich
Sam Presti durchlebt diesen Film bereits zum zweiten Mal in OKC. Der Vizepräsident und General Manager arbeitet seit 2007 für die Franchise, nachdem er zuvor als Assistent in San Antonio drei Meisterschaften abräumte (2003, 2005, 2007). Presti schrieb Geschichte, als Architekt des vielleicht größten "Was wäre wenn"-Teams aller Zeiten: Zwischen 2007 und 2009 zog er in aufeinanderfolgenden Drafts Kevin Durant, Russell Westbrook und James Harden. Die drei Youngster, die später allesamt MVP-Trophäen abräumten und ins "NBA75 Team" gewählt wurden, führten OKC schnurstracks in die NBA Finals 2012. Keiner dieser drei Ausnahmekönner war zu jenem Zeitpunkt älter als 23 Jahre.
Harden, Durant und am Ende auch Westbrook verließen sukzessive den Klub; Superstars wie Paul George, Chris Paul und Carmelo Anthony kamen und gingen wieder; der große Erfolg blieb jedoch stets aus. Im Sommer 2019 drückte Presti den Reset-Knopf, als er George im Tausch für den jungen Gilgeous-Alexander und bis zu sieben Draft-Picks zu den Clippers, sowie Westbrook für vier weitere Erstrundenpicks nach Houston schickte. Seither akkumuliert der gewiefte, opportunistische Manager reihenweise weiteres Draft-Kapital und junge, vielseitige Basketballspieler, die Teil der neuen Thunder-DNA geworden sind.
Mit Josh Giddey (2021), Williams, Holmgren (beide 2022) und Cason Wallace (2023) zog Presti in den vergangenen drei Jahren vier der sechs Schlüsselspieler von Daigneault; Lu Dort kam im selben Sommer wie Gilgeous-Alexander und hat sich als Verteidigungsspezialist unentbehrlich gemacht. Gleichzeitig beschützt Presti die tiefste Draft-Pick-Schatulle der Liga, hat alleine in den kommenden vier Jahren unglaubliche zehn Erstrundenpicks zur Verfügung (Klubs haben in der Regel ein solches Auswahlrecht pro Jahr) und derer 14 bis einschliesslich 2030. Theoretisch könnte OKC also um so gut wie jeden verfügbaren Spieler auf dem Markt mitbieten.
Schon jetzt reif für den Titel?
Ob ein Trade zum jetzigen Zeitpunkt dringend nötig ist, darüber streitet man sich derzeit in NBA-Kreisen. Eigentlich ist dieses Team seiner Zeit meilenweit voraus. Keiner der besten sieben Akteure ist älter als 25 Jahre, vier von ihnen sogar maximal 22. Und dennoch sieht diese Truppe schon jetzt wie ein waschechter "Contender" aus - sowohl beim Blick auf die nackten Zahlen, als auch auf den Basketball, den sie spielt. Wenigen Schwächen (Rebounding, Big Men, Erfahrung) steht eine stetig wachsende Liste von Stärken gegenüber. Reicht das für den ganz großen Wurf?
Es ist ohnehin nicht so, als wäre die Sorte Basketball, die OKC spielt, nicht für die Playoffs gemacht. Ein langsames Tempo, Dominanz im Halbfeld, aggressive Verteidigung, begnadete Isolations-Spieler und das vielzitierte "Clutch"-Gen in den entscheidenden Schlussminuten - all das besitzt Daigneaults Mannschaft bereits jetzt. Würde es nicht viel mehr Sinn machen, diese Youngster erst einmal kollektiv die dünnere Luft in den Playoffs schnuppern zu lassen? Sich die notwendigen, verheerenden Niederlagen auf der größeren Bühne abzuholen, um daraus zu wachsen. Sich zu verbessern. Erfahrung zu sammeln. Junge Teams gewinnen bekanntlich nicht in der Postseason, der notwendige Reifeprozess lässt sich weder umgehen noch beschleunigen. Würde ein Trade für einen Veteranen das große Ganze verändern?
Es wird an Presti liegen, in den kommenden Wochen (bis zur Trade-Deadline) und Monaten (im kommenden Sommer) diese Fragen zu beantworten. Teamchemie ist ein fragiles Konstrukt. Gleichzeitig ist es immer riskant, anzunehmen, dass man die Zeit auf seiner Seite hat, nur weil man jung ist. Offene Championship-Fenster schlagen viel schneller zu, als erwartet. Vor zwei Jahren galten die Emporkömmlinge aus Memphis als das nächste große Ding, spielten begeisternden Basketball, forderten die ganz Großen heraus; in dieser Saison sind die Drittletzter im Westen. Prestis Thunder lagen einst dank Durant, Westbrook und Harden gegen Miami mit 1:0 in Führung, ehe sie vier Partien in Folge und den Titel verloren. Die Überzeugung damals war, dass sie doch erst am Anfang stünden, dass sie für den Rest der Dekade immer neue Chancen auf die Meisterschaft erhalten würden. Sie schafften es nie wieder in die NBA Finals...
Quelle: ntv.de