"Ich verdanke ihm alles" Rockys Entdeckung "kann das deutsche Boxen verändern"
01.07.2023, 16:27 Uhr
Graciano Rocchigiani sieht in Boxer Vincenzo Gualtieri das ganz große Talent. Er nimmt ihn unter seine Fittiche, doch ehe Gualtieri groß auftrumpfen kann, verstirbt "Rocky". Das ist inzwischen fast fünf Jahre her. Nun hat der 30-Jährige die Chance, seinem Lehrmeister als Weltmeister zu folgen.
Wenn Vincenzo Gualtieri am Abend in seiner Heimatstadt Wuppertal um die IBF-WM im Mittelgewicht kämpft, steht irgendwie auch Graciano Rocchigiani in seiner Ringecke. Die deutsche Box-Ikone hat Gualtieri einst entdeckt. Viereinhalb Jahre nach "Rockys" Tod kann "Cenzo" seinem alten Lehrmeister als Weltmeister folgen. Der Kampf gegen den Brasilianer Esquiva Falcao ist aber alles andere als ein Zuckerschlecken.
Im Jahr 2006 verändert sich das Boxerleben von Vincenzo Gualtieri. Er lernt Graciano Rocchigiani kennen. Die Box-Legende betreibt damals ein Gym in Duisburg. Gualtieri sagt mit Papa Luigi "Ciao", boxt einfach mal vor. "Wir haben uns direkt gut verstanden und so ist dann daraus eine sehr enge Freundschaft entstanden. Der Kontakt mit der ganzen Familie Rocchigiani war immer sehr eng, sehr familiär", erinnert sich der heute 30-Jährige im Interview mit RTL/ntv. Wie Rocchigiani hat Gualtieri italienische Wurzeln. Die Chemie stimmt.
Mit "Rocky" im Rücken legt Gualtieri eine ordentliche Amateur-Karriere, bestreitet 100 Kämpfe. Im Jahr 2015 wird er Profi - bei Rocchigiani, der sein Glück damals als Trainer und Promoter versucht. 2017 geht "Graze" das Geld aus, seine Boxpromotion meldet Insolvenz an. Gualtieri wechselt zum Agon-Boxstall, die Freundschaft mit Rocchigiani bleibt. Als der einstige deutsche Box-Held im Oktober 2018 auf Sizilien von einem Auto überfahren wird und mit 54 Jahren stirbt, steht Gualtieri unter Schock. "Das war für mich nicht zu realisieren", sagte er im Interview mit dem Fachmagazin "Boxsport".
Große Titelchance plötzlich da
Gualtieris Profi-Karriere ist zu dieser Zeit in der Aufbauphase, nimmt 2020 langsam Fahrt auf. "Il Capo" (der Chef) gewinnt den deutschen Meistertitel im Mittelgewicht (bis 72,57 Kilogramm), ein Jahr später erkämpft er sich die Intercontinental-Meisterschaft der IBF. Es ist ein cleveres "Matchmaking" von Agon-Promoter Ingo Volckmann, denn der "Interconti"-Gürtel bringt Gualtieri bei dem großen Weltverband in Position für einen WM-Kampf.
Am Samstag (18 Uhr/live auf box-sport.de und fight24.tv) ist es soweit. Gualtieri - Kampfbilanz: 21 Kämpfe, 20 Siege (7 per K.o.), 1 Unentschieden - trifft "a casa", in der Unihalle Wuppertal, auf den in 30 Duellen ungeschlagenen Esquiva Falcao. Der Brasilianer steht beim legendären US-Promoter Bob Arum (91 Jährchen jung) und dessen Top-Rank-Stall unter Vertrag. Wie Volckmann hat Arum für seinen Schützling ganze Arbeit geleistet. Denn wie Gualtieri hat Falcao noch keinen Mann von internationalem Top-Format bezwungen.
Die Titelchance für Gualtieri und Falcao ist da, weil der langjährige Mittelgewichts-König Gennadiy Golovkin seine Gürtel von WBA und IBF niedergelegt hat. Falcao, die Nummer 1 der IBF-Rangliste, und Gualtieri, die Nummer 3, kämpfen in der IBF-Welt um die Nachfolge des kasachischen Superstars. Dass sie dies in Gualtieris Heimatstadt tun, ist wiederum Volckmanns Verdienst. Der Berliner Unternehmer stach Arum beim Bieterverfahren für die Austragungsrechte (purse bid) mit seinem Gebot von 414.000 Dollar aus.
Gualtieri will seine eigenen Stärken nutzen
"Ich erwarte eine grandiose Stimmung. Gänsehaut pur", sagt Gualtieri. Vater Luigi ist seit Wochen in Wuppertal und Umgebung unterwegs und klebt Kampfplakate, damit die 3000 Zuschauer fassende Unihalle am Samstag voll ist, Wuppertal seinen Sohn zum Sieg treibt. Gualtieri kann die Unterstützung brauchen. Falcao ist bei Experten und Buchmachern klarer Favorit. Der Rechtsausleger ist ein technisch hervorragender Boxer, gewann 2012 in London bei den Olympischen Spielen Silber im Mittelgewicht.
Gualtieri ist sich der Stärken seines Gegners bewusst, hat vor allem "die rechten Haken" Falcaos auf dem Zettel, wie er versichert. Der Gast aus Südamerika ist der härtete Puncher, hat zwei Drittel seiner Kämpfe vorzeitig gewonnen, Gualtieri schlug nur ein Drittel seiner Gegner k.o.. Das Trainingscamp vor seinem ersten WM-Kampf sei "noch härter, noch intensiver" gewesen als sonst, betont der Wuppertaler. Mit dem kubanischen Agon-Chefcoach Franquis Aldama habe er sich in Spanien akribisch vorbereitet. Er wolle sich nicht zu sehr am Stil des Gegners ausrichten, diesem im Ring vielmehr die eigenen Stärken aufdrücken.
Die linke Führhand gilt als beste Waffe des "Capos", mit ihr diktiert er in der Regel seine Kämpfe. Dass die Rechtsauslage Falcaos seinen linken Jab neutralisieren könnte, ficht Gualtieri nicht an. Er könne im Ring "flexibel die Taktik ändern". Beim leichten Training vor unserem Interview deutet der 30-Jährige diese Flexibilität an, wechselt mehrfach von seiner angestammten Links- in die Rechtsauslage. Falcao mit den eigenen Waffen schlagen? Er wolle nicht mehr verraten, sagt Gualtieri.
Kondition auf seiner Seite
Ein Plus sieht der deutsche Box-Hoffnungsträger aber bei sich. "Konditionell denke ich nicht, dass Falcao zwölf Runden gehen kann. Ich weiß, wie das ist, weiß das Tempo zu bestimmen, deswegen wird das für mich ein ganz klarer Vorteil sein." Und dann ist da ja noch "Rockys" Spirit. Rocchigiani habe immer noch "eine ganz große Bedeutung" für sein Leben. "Ihm verdanke ich, dass er mich ins Profigeschäft geholt hat, seine menschliche Seite, boxerisch seine motivierenden Worte. Eigentlich verdanke ich ihm alles", sagt Gualtieri. "Natürlich" steige er "jedes Mal" auch für "Rocky" in den Ring.
Am Samstagabend kann es "Cenzo" seinem einstigen Lehrmeister gleichtun und Weltmeister werden. Graciano Rocchigiani gewann seinen ersten WM-Titel 1988. Auch IBF, Supermittelgewicht, in Düsseldorf. Wuppertal ist Düsseldorf nahe. "Rocky" ist Vincenzo Gualtieri nah.
Quelle: ntv.de