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Spätberufener auf WM-Überholspur Sprintender Buchhalter fordert Weltelite heraus

Eugene Amo-Dadzie mischt mit 31 Jahren die Weltelite auf.

Eugene Amo-Dadzie mischt mit 31 Jahren die Weltelite auf.

(Foto: IMAGO/Daniel Scharinger)

Um an den Weltmeisterschaften teilnehmen zu können, muss Eugene Amo-Dadzie Urlaub einreichen. Der Brite ist Sprinter auf Umwegen - und misst sich plötzlich mit den Größten seiner Disziplin. Psychologisch sieht er sogar einen Vorteil für sich, die Medaillen aber sind wohl utopisch.

Verteidigt Fred Kerley seinen WM-Titel? Kommt Olympiasieger Marcell Jacobs doch noch in Form? Oder stiehlt ein anderer der zahlreichen Mitfavoriten oder gar ein Unbekannter den beiden Sprintstars die Show? Die Leichtathletik-Szene fiebert bei der WM in Budapest auf ein wahres Hochspannungsfinale über die 100 Meter der Männer hin.

"Alles ist sehr offen, ich freue mich drauf", sagte Jacobs. Und TV-Experte Frank Busemann schrieb in seiner Sportschau-Kolumne vor dem großen Finale (Sonntag, 19.10 Uhr/ARD): "Das Orakeln nach zehn Jahren Usain Bolt gleicht einer Lotterie". Denn die besten acht Sprinter der Welt trennen in diesem Jahr nur sieben Hundertstelsekunden, die Top 30 ist sogar in einer Bandbreite von 14 Hundertsteln zu finden.

Wer neben Kerley im Nemzeti Atletikai Központ die besten Chancen hat, mag daher niemand so recht vorhersagen. Vielleicht der britische Europarekordhalter Zharnel Hughes. Mit 9,83 Sekunden der schnellste Mann in diesem Jahr. Eventuell der Südafrikaner Akani Simbine (9,92). Der ewige Vierte und Fünfte, der Kerley in diesem Jahr bereits bezwang. Oder doch Kerleys Landsmänner Christian Coleman (9,91) und Cravont Charleston (9,90), die den USA den vierten WM-Titel in Folge nach dem Ende der Ära von Usain Bolt bescheren könnten.

Lyles kündigt Weltrekord an

Möglicherweise schlägt in Budapest aber auch die Stunde von Noah Lyles. Der 26-Jährige, in den USA Trainingspartner von Gina Lückenkemper, plant den Doppelstart über 100 und 200 Meter und will auch mit der Staffel abräumen. "Was ich akzeptieren kann, ist, eine Medaille über 100 Meter zu gewinnen - egal in welcher Farbe und über 200 Meter zu gewinnen", sagte der Mann, über den Peacock in den USA eine mehrteilige Doku zeigt: "Mein größtes Ziel ist es, drei Goldmedaillen zu gewinnen und einen Weltrekord über 200 Meter aufzustellen."

Vielleicht schreibt aber auch einer an seinem ganz persönlichen Sprint-Märchen weiter: Eugene Amo-Dadzie. Der Brite hat wohl die verrückteste Geschichte aller Teilnehmer vorzuweisen. Er ist bereits 31 Jahre alt - und gibt bei dieser WM sein Debüt. 2018 ist er über die 100 Meter noch 11,3 Sekunden gerannt. Inzwischen steht seine Bestzeit bei 9,93 Sekunden. "Es ist nicht sehr logisch. Es ist sehr selten, sehr einzigartig. Ich möchte, dass die Leute es sich ansehen, sich davon inspirieren lassen und wissen, dass es nie zu spät ist", sagte er über seine Entwicklung.

Er war ein ganz ordentlicher Sprinter, doch er studierte, hatte einen Job als Buchhalter und dann gab es noch das normale Leben. 2018 sah er dann die Meisterschaften im TV an und dachte: "Wenn ich trainiert hätte, hätte ich es schaffen können", erzählte er dem "Guardian". "Meine wirklich guten Freunde, mit denen ich zur Schule ging, wussten, dass ich schnell war. Jahrelang sagten sie zu mir: 'Du hast dein Talent vergeudet'. Ich habe die Beschimpfungen einfach hingenommen, es war, wie es war. Aber an diesem schicksalhaften Tag legte Gott einen Schalter in meinem Kopf um." Amo-Dadzie beschloss, sich auf die Leichtathletik zu fokussieren.

Urlaub für die Weltmeisterschaft

Innerhalb eines halben Jahres schaffte er es bei den britischen Meisterschaften bis ins Halbfinale. Kontinuierliches Training, auch mit den britischen Sprint-Stars Adam Gemili und Jason Dasaolu, machte ihn immer schneller. Im Juni dieses Jahres lief er mit 9,93 Sekunden zur WM-Norm. "Gott sei Dank sitze ich jetzt hier, der schnellste Buchhalter der Welt, und bin kurz davor, auf der Weltbühne zu stehen", sagte er. Denn das ist er noch immer: Buchhalter, mit einem Vollzeitjob. Für die WM in Budapest muss er seinen Jahresurlaub einsetzen. "Ich werde nicht lügen und sagen, dass es nicht manchmal hart ist, und manchmal hat man das Gefühl, dass man ziemlich überfordert ist, aber meine Frau ist unglaublich", sagte er dem "Guardian".

Tatsächlich wäre es eine Sensation, würde er um die Medaillen mitkämpfen können. Doch der Neuling hatte es bei den Hallen-Europameisterschaften immerhin ins Halbfinale über 60 Meter geschafft - bei der WM hofft er auf die Chance, ins Finale einzuziehen. Er weiß selbst, dass er der Außenseiter ist, dass ihm das ewige "Wer ist dieser Typ?" anhängt. Aber Amo-Dadzie sieht auch seinen großen Vorteil: "Ich bin in der Lage, mich zu konzentrieren und Leistung zu bringen, wenn es nötig ist, aber ich tue das aus einer Position der Entspannung heraus, aus einer Position des Spaßes, ich genieße mich selbst, wenn ich da draußen bin. Ich kann abschalten. Ich mache mein Programm, dann mache ich Schluss und gehe nach Hause, um mit meiner kleinen Tochter zu spielen. Ich gehe nach Hause, um mich mit meiner Frau zu verabreden, ich gehe nach Hause, um zu arbeiten, ich bin auf einer Sitzung in der Schule."

Titelverteidigung oder neuer Sieger?

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Der Titelverteidiger hat das nicht, genauso wenig wie der Olympiasieger. Kerley wartet auf die Revanche, nachdem er sich bei Olympia dem Italiener Jacobs hatte geschlagen geben müssen. "Ich musste wirklich hart arbeiten", sagte Jacobs, der die ganze Saison angeschlagen war und nur eine Zeit von 10,21 Sekunden stehen hat. Doch der Europameister, der mit Kerley öffentlichkeitswirksam immer wieder verbale Giftpfeile austauschte und so Vorfreude auf ein Wiedersehen schürte, wähnt sich rechtzeitig wieder in Form. EM-Edelmetall "ist die einzige Medaille, die mir noch in meiner Sammlung fehlt", sagte er.

Kerley, in diesem Jahr mit 9,88 Sekunden bislang nur die Nummer drei, ahnt, dass das Projekt Titelverteidigung angesichts der zahlreichen weiteren Konkurrenten nicht leicht werden dürfte. "Der erste" Titel, sagte er dem Magazin "Athletics Weekly", "ist der einfachste, heißt es. Der nächste der schwerste." Es sind Probleme, mit denen sich Amo-Dadzie bislang nicht beschäftigen muss.

Quelle: ntv.de, ara/sid

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