Zu viele Stars bei L.A. Clippers "System Harden" stürzt Superteam in den Abgrund
29.11.2023, 20:53 Uhr
Individuell hat James Harden fast alles gewonnen - der NBA-Titel aber fehlt ihm noch.
(Foto: AP)
Seit Jahren versuchen die L.A. Clippers vergeblich, einen NBA-Titel zu gewinnen. Verletzungen und Ausfälle machten bisher immer einen Strich durch die Rechnung, der Klub scheint verflucht. Kann ausgerechnet einer der umstrittensten Superstars aller Zeiten dieses Schicksal wenden?
Elf Punkte Vorsprung zeigte die Anzeigetafel in der heimischen Arena für die Los Angeles Clippers an, zwölf Minuten waren noch zu spielen. Zu Besuch war der amtierende Meister Denver Nuggets, allerdings leicht kriselnd, dazu ohne seine drei besten Akteure: Nikola Jokić, Jamal Murray und Aaron Gordon. Der Gastgeber hingegen hatte gleich vier aktuelle oder ehemalige All-Stars auf dem Parkett stehen, vier Leistungsträger, vier künftige Hall of Famer. Kalifornisches Megateam gegen Rumpftruppe aus Colorado, die zudem im Back-to-Back antrat, also in der zweiten Partie innerhalb von zwei Tagen.
Klare Sache, sollte man meinen? Weit gefehlt, denn die Clippers implodierten. Wieder einmal. Das Ensemble von Head Coach Tyronn Lue traf im Schlussviertel weniger als ein Viertel seiner Würfe, leistete sich fünf Turnovers bei nur zwei Assists, und gab die Partie nach katastrophalem 16:36-Lauf noch aus der Hand. Aus einer 88:77-Führung wurde eine 104:113-Niederlage.
Neuzugang James Harden erzielte in seinen acht Spielminuten im letzten Viertel keinen einzigen Punkt, nahm sogar keinen einzigen Wurf aus dem Feld und leistete sich dazu zwei kritische Ballverluste. Dass in Reggie Jackson und DeAndre Jordan ausgerechnet zwei in die Jahre gekommene, ehemalige Clippers-Spieler die Wende für Denver herbeiführten, gab der Peinlichkeit eine extra Note.
Nach fünf Wochen steht das Team aus Los Angeles mit nur 7 Siegen aus 16 Partien auf Rang elf in der Western Conference. Weit hinter allen Erwartungen: den eigenen sowie denen aller Experten, die L.A. zu Saisonbeginn einmal mehr unter den "Contendern" verortet hatten. Seit Ende Oktober ist viel passiert in "Clipper Nation", wo sie natürlich weiterhin vom Titel träumen - erst recht seit dem Trade für Harden.
Das Problem mit dem System
Der zehnfache All-Star ist ehemaliger MVP, mehrfacher Scoring- und Assist-Champion, Sixth Man of the Year, Weltmeister und #NBA75-Mitglied, also einer der herausragendsten Spieler, die die NBA in ihren ersten 75 Saisons gesehen hat. Ein Elite-Spielmacher, der die Aussicht ganzer Franchises im Alleingang verändert. Niemand hat mit mehr Superstars zusammengespielt als Harden. Bisher jedoch kassierte das neu zusammengewürfelte Superteam aus L.A. eine Pleite nach der anderen. Was die Frage aufwirft: War es das alles wirklich wert?
"Ich bin kein System-Spieler, ich bin das System!" - mit diesem mittlerweile ikonischen Statement hatte sich Harden zu Beginn des Monats bei den Clippers vorgestellt, denen die Verpflichtung des enigmatischen, eigenwilligen und oft skurrilen Inselbegabten die potenziell starken Kopfschmerzen offensichtlich wert war. Der Preis war überschaubar, offenbarte aber auch, wie stark der Wert des wertvollsten Spielers der Saison 2017/18 ligaweit gesunken ist.
Bisher stehen in Los Angeles' Harden-Ära sieben Niederlagen und nur vier Siege zu Buche. Im ersten Einsatz gegen die New York Knicks hagelte es direkt Ballverluste (kolossale 22 an der Zahl), gepaart mit Zuordnungsproblemen in der Abwehr und statischem Herumstehen im Angriff. Auch einen knappen Monat später sieht der Basketball der Kalifornier wenig vielversprechend aus. Trotz guter Phasen hat es bisher selten zum Sieg gereicht, weil es nach wie vor an Zusammenhalt, Eingespieltheit und einem klaren Plan mangelt.
Harden kann höchstes Niveau erreichen, aber ...
Vieles davon hat natürlich damit zu tun, einen Spieler von Hardens Status und Kaliber im laufenden Betrieb integrieren zu müssen. Alle Protagonisten haben abgebaut, seitdem der 34-Jährige zum Kader stieß. Die beiden All-Stars Kawhi Leonard und Paul George versuchen händeringend, den Neuzugang irgendwie einzubinden - auch weil sie wissen, dass ihre eigenen Meisterschaftsambitionen jetzt unzertrennlich an Harden gekoppelt sind.
"Er ist einer der besten Spieler, die jemals ein NBA-Parkett betreten haben", sagt der zweifache NBA-Champion Leonard über seinen neuen Teamkollegen. Und der achtfache All-Star George fügt hinzu: "So einen Spieler bekommst du nicht alle Tage. Uns fehlt zwar noch die Konstanz, besonders gegen die guten Teams. Aber für uns ist es besser, zu jedem Zeitpunkt einen elitären Spieldirigenten auf dem Parkett zu haben."
Selbst im fortgeschrittenen Alter kann Harden nach wie vor auf höchstem Niveau agieren. In der Vorsaison führte er die Liga mit 10,7 Vorlagen pro Partie an, erzielte obendrein 21 Punkte pro Abend. Das Hauptproblem jedoch war stets, dass er in den Playoffs meist untertaucht, oft sogar gänzlich verschwindet. Auch in der Vorsaison führte Harden seine Sixers mit 45 Punkten in Spiel eins und 42 Punkten in Spiel vier der Eastern-Conference-Halbfinals zur zwischenzeitlichen 3:2-Führung gegen Boston.
Dann passierte das, was man von Harden seit Rockets-Zeiten gewohnt ist: Er versagte im entscheidenden Moment, die Statistik der Partien sechs und sieben ist unerbittlich. 9 und 13 Punkte, nur 7 Treffer bei 27 Würfen, außerdem zehn Ballverluste. Sein Team scheiterte einmal mehr auf dem Weg in die NBA Finals. Das war zuvor auch den Houston Rockets und Brooklyn Nets so ergangen, wo Harden nach mehrfach gescheiterten Anläufen dann stets einen Trade forderte: erst von Houston nach Brooklyn, dann von Brooklyn nach Philadelphia, und in diesem Sommer schließlich von Philadelphia nach Los Angeles.
Russell Westbrook landet auf dem Abstellgleis
Russell Westbrook, selbst ehemaliger Liga-MVP, hat mit der Ankunft Hardens bisher am meisten zu kämpfen. Der ewige Triple Double König hat sein Spiel mehrfach umgestellt, um seine Karriere ins hohe Athletenalter zu retten. Zu Beginn dieser Spielzeit war Westbrook mit 15 Punkten, acht Rebounds und sieben Assists pro Partie einer der Leistungsträger der Clippers, das Team mit ihm im Leistungsplus und solidem 3:1-Start.
Dann kam der Trade, und altbekannte Probleme, die bereits während ihrer gescheiterten Partnerschaft in Houston zutage traten, schwappten einmal mehr an die Oberfläche. Harden und Westbrook sind befreundet, kennen sich bereits seit Kindheitstagen. Sie sind das erste MVP-Paar in der Geschichte der NBA, das zum dritten Mal zusammen spielt (Als Jungprofis von 2009 bis 2012 bei Oklahoma City Thunder, in der Saison 2019/20 in Houston, jetzt in L.A.).

Alte Bekannte: Westbrook (links) und Harden im Frühjahr 2011 im Trikot der Oklahoma City Thunder.
(Foto: imago images/ZUMA Wire)
Auf dem Parkett funktioniert das Duo allerdings überhaupt nicht. Beide brauchen den Ball in ihren Händen und agieren am besten, wenn sie Verteidiger, Malocher und agile Off-Ball-Spieler neben sich haben - nicht einen zweiten Ball-dominanten Guard, der das Spielgerät halten will.
Erst, als Westbrook am 17. November mehr oder weniger bereitwillig die Degradierung zum Sixth Man akzeptierte, ging es etwas bergauf in L.A. - die Clippers gewannen drei Partien in Folge und vier der nächsten fünf. Harden lief fast exklusiv mit den Startern auf, während seine Minuten an der Seite von Westbrook um mehr als die Hälfte schrumpften. Mehr Ballkontrolle katapultierte Hardens Assists-Rate steil nach oben. Fünfmal in Folge verteilte er sieben Vorlagen oder mehr, im Schnitt mehr als doppelt so viele wie in seinen ersten fünf Partien als Clipper.
Superstar mit Ladehemmung
Los Angeles erhofft sich aber viel mehr als nur einen Ballverteiler und Spielmacher. Sie brauchen auch den aggressiven Harden, der als Scorer und Shooter Druck auf die gegnerische Verteidigung ausübt und die anderen Stars so entlastet. Einerseits ist es verständlich, dass der dreifache Scoring-Champ nach verpasster Saisonvorbereitung und mangelnder Spielpraxis ein wenig länger braucht, um in Fahrt zu kommen. Anderseits bleiben dicke Fragezeichen: Hinter seiner Bereitschaft, sich körperlich in absolute Top-Verfassung zu bringen, sowie hinter seinen schwindenden Superkräften, die ihn jahrelang auszeichneten.
Die Anzahl seiner Vorstöße in die Zone und damit verbunden auch das Ziehen von Fouls ist auf besorgniserregendem Niveau angelangt. Seine 6,6 Freiwurfversuche pro 100 Ballbesitze sind der niedrigste Wert seiner Karriere. Auch aus der Mitteldistanz oder nahe am Korb wirft Harden so selten wie nie zuvor. Nur 12 Prozent all seiner Würfe erfolgen in der Sperrzone unter dem Korb - mit Abstand Karriere-Tiefstwert. Fällt der Dreier also nicht, bleibt "The Beard" offensiv meist blass - mehr Druck also auf George und Leonard, L.A. zum Sieg zu schießen.
"Ich betone immer wieder, dass ich weder Training Camp noch Preseason hatte", spielt Harden auf Zeit. "Also muss ich im Schnelldurchlauf lernen und mich selbst in Spielform, in James-Harden-Form bringen. Ich war in Brooklyn in einer ähnlichen Situation: zwei Stars, die scoren und Mismatches kreieren können. Ich kann am Ball oder abseits des Balles agieren, egal ob Pick-and-Roll oder Catch-and-Shoot. Wir haben hier exzellente Coaches und uneigennützige Spieler."
Echter Titelaspirant oder doch nur Pseudo-Contender?
So holprig der Start bisher auch war: In der Theorie kann dieses Clippers-Experiment sicherlich funktionieren. Leonard und George bleiben das beste Wing-Duo der Liga. Harden als dritte Geige und Westbrook als Mikrowelle von der Bank. Flankiert von Rollenspielern wie Terrance Mann, Norman Powell und P.J. Tucker, Center Ivica Zubac oder dem anderen Neuzugang Daniel Theis ergibt in der Summe genug Kader-Qualität, um die hohen Ambitionen zu erreichen. Können diese Protagonisten zusammenfinden? Und bleibt ihnen das Glück zur Abwechslung mal treu?

Mit Leonard (links) und George wollten die Clippers eigentlich längst um Titel spielen.
(Foto: USA TODAY Sports via Reuters Con)
Seit 2019 spielen George und Leonard mittlerweile hier. Das Team zählt zu den Besten ligaweit, wenn beide Stars gemeinsam auf dem Parkett stehen, hat so insgesamt zwei Drittel seiner Duelle gewonnen (103:55). Das Problem? Beide haben zusammen nur 41 Prozent aller möglichen Partien absolviert (134 von 324) und auch in den Playoffs die entscheidenden meist verpasst. Harden und Westbrook sind also gleichzeitig Rückversicherung für den realistischen Fall, dass Leonard und/oder George wieder mal länger ausfallen.
Trainer Tyronn Lue, der dafür bekannt ist, schwierige Charaktere zu zähmen, fällt die wenig beneidenswerte Aufgabe zu, aus dieser Staransammlung eine geschlossene Einheit zu formen. Das gelang ihm 2016 mit den Cleveland Cavaliers schon einmal, als er LeBron James, Kyrie Irving und Kevin Love zum Titel coachte. "Wir dürfen den Kopf nicht hängen lassen, alles braucht Zeit", sagt Lue. "Ich habe schon mit vielen guten Teams zusammengearbeitet, es dauert eben immer ein Weilchen. Wir müssen einfach weiter arbeiten. Ich bin selbstbewusst und glaube daran, dass wir gut sein werden."
Vier gewinnt - aber nur manchmal
"Big Fours" können gewinnen, Beispiele gibt es durchaus einige in der Geschichte dieser Liga. Teams wie die Golden State Warriors (Steph Curry, Kevin Durant, Klay Thompson, Draymond Green), Miami Heat (LeBron James, Dwyane Wade, Chris Bosh, Ray Allen), Boston Celtics (Larry Bird, Kevin McHale, Robert Parish, Dennis Johnson) oder Los Angeles Lakers (Magic Johnson, Kareem Abdul-Jabbar, James Worthy, Byron Scott) krönten sich zum Champion. Es kam aber auch schon häufig vor, dass akkumulierte Starpower des Guten zu viel war: Die Lakers um Kobe Bryant, Shaquille O'Neal, Karl Malone und Gary Payton scheiterten einst spektakulär, ebenso wie eine spätere Version um Bryant, Pau Gasol, Steve Nash und Dwight Howard.
Um nicht ebenso zu enden und ihr Potenzial auszunutzen, müssen die Clippers Lösungen finden - und zwar schnell. Der Druck ist immens. Sowohl für Harden, für den es die dritte Station in zwei Jahren ist, als auch für die gesamte Franchise. Geld spielt zwar keine Rolle, denn Teambesitzer Steve Ballmer hat tiefere Taschen als jeder andere in der NBA. Die neuen Strafen für Klubs über gewissen Gehaltsobergrenzen sowie der hohe Preis in Form zukünftiger Draft-Picks, der für die Superstars bezahlt wurde, haben aber fast alle Optionen vom Tisch genommen, den Kader in Zukunft weiter abzurunden.
Vor dem Umzug in ihre eigene, brandneue "Intuit Dome".Arena zur kommenden Saison wollen die chronisch erfolglosen Clippers - seit 53 Jahren spielen sie in der NBA, ohne jemals die Finals erreicht zu haben - positives Momentum aufbauen und all diese Investitionen zumindest teilweise rechtfertigen. Sollten sie erneut vor den Conference Finals scheitern, wäre der Harden-Deal der jüngste Beweis dafür, dass mehr nicht immer besser ist. Bisher wirkt dieses Superteam zu alt, zu langsam und zu klein, um erfolgreich zu sein. Die ersten Eindrücke sind - gemessen an der Qualität - beschämend. "The Beard", Lue & Co. bleiben gut vier Monate, um die Kurve zu kriegen.
Quelle: ntv.de