Beide Autos disqualifiziertWie McLaren in das Las-Vegas-Desaster hüpfte
Torben Siemer
Ein längst überwunden geglaubtes Problem rüttelt McLaren in Las Vegas auf. Lando Norris und Oscar Piastri werden nach der Zieldurchfahrt disqualifiziert, Max Verstappen ist der große Gewinner. Teamchef Andrea Stella liefert eine erste Erklärung.
In der McLaren-Box ahnten sie offensichtlich, dass Lando Norris beim Großen Preis von Las Vegas nicht nur auf die Zielflagge, sondern auch auf ein großes Problem zuraste. Anders ist kaum zu erklären, dass Norris in den letzten Runden nicht mehr versuchte, den Führenden Max Verstappen einzuholen, sondern vom Gas ging. Bis zu 40 km/h fehlten ihm deshalb auf der längsten Geraden des Highspeed-Stadtkurses, innerhalb weniger Runden wuchs sein Rückstand auf den enteilenden Red Bull von fünf auf über 20 Sekunden an. Doch wahrscheinlich war es längst zu spät.
Die anschließende Untersuchung des McLaren offenbarte, was der dominierende Rennstall dieser Formel-1-Saison mindestens befürchtet hatte: eine zu starke Abnutzung der Bodenplatte. Auch bei Teamkollege Oscar Piastri trat das Problem auf. Die Plätze zwei (Norris) und vier (Piastri) wurden gestrichen und stattdessen die Disqualifikation verkündet. Der Motorsport-Weltverband FIA stellte zwar fest, "dass der Verstoß unbeabsichtigt war und keine absichtliche Umgehung der Regeln stattgefunden habe", an der Konsequenz änderte das jedoch nichts.
Vor den letzten beiden Saisonrennen ist die Fahrer-Weltmeisterschaft damit so offen wie nie in dieser Saison. Norris führt mit 390 Punkten, dahinter folgen Piastri und Verstappen mit jeweils 366 Punkten. Der Titelverteidiger ist der große Gewinner dieses Wochenendes. Statt sich vom Traum eines fünften WM-Triumphs nacheinander verabschieden zu müssen, könnte der Red-Bull-Superstar in Katar sogar am doch eigentlich längst enteilten Papaya-Duo vorbeiziehen.
Weltverband FIA zeigt keine Gnade mit McLaren
McLaren-Teamchef Andrea Stella versuchte sich, als die doppelte Disqualifikation mehrere Stunden nach der Zieldurchfahrt endlich feststand, in einer Pressemitteilung an einer ersten Erklärung. "Während des Rennens kam es bei beiden Fahrzeugen zu unerwartet starkem Porpoising, das in den Trainings nicht aufgetreten war." Demnach waren der Italiener und seine Mannschaft von dem Problem überrascht worden, das die Formel 1 längst überwunden geglaubt hatte: Porpoising, das "Hoppeln" der Boliden.
Zur Saison 2022 war der "Ground Effect" in die Motorsport-Königsklasse zurückgekehrt, seitdem generieren die Autos einen bedeutenden Teil des Anpressdrucks über den Unterboden. Wenn das Auto dabei allerdings aufsetzt, reißt der Luftstrom ab, das Heck hebt sich ruckartig vom Boden an, schlimmstenfalls wiederholt sich dieser Ablauf in Dauerschleife. "Wir untersuchen die Gründe für dieses Verhalten des Autos", so Stella weiter, das "zu übermäßigem Kontakt mit dem Boden führte".
Gegenüber der FIA hatte McLaren noch auf mildernde Umstände gehofft, der Weltverband jedoch war hart geblieben, "da das Reglement und die bisherigen Fälle keine andere Strafe […] vorsehen". Im Frühjahr hatte es beim Großen Preis von China bereits Lewis Hamilton erwischt. Die Bodenplatte an seinem Ferrari hatte die vorgeschriebene Mindest-Dicke von 9 Millimetern um 0,5 Millimeter unterschritten, in Las Vegas war es nun deutlich knapper. An Norris' McLaren fehlten 0,12 Millimeter, bei Piastri 0,26 Millimeter. Zum Vergleich: Eine Seite handelsübliches Kopierpapier ist etwa 0,1 Millimeter dick.
Norris hat es in Katar selbst in der Hand
Dem McLaren MCL39 könnte auf dem Stadtkurs die eigene Stärke zum Verhängnis geworden sein. Das Auto ist dafür bekannt, besonders niedrig fahren zu können, viel Abtrieb über den Unterboden zu generieren und vergleichsweise wenig anfällig für Unebenheiten zu sein. Das lässt ein aggressives Setup zu - das jedoch in Las Vegas aufgrund der Trainingsunterbrechungen am Freitag und des Regens am Samstag kaum unter Rennbedingungen getestet werden konnte.
Augenscheinlich wählte McLaren deshalb eine Abstimmung, die sich im Rennverlauf als untauglich herausstellte. Zumindest dafür, die Abnutzung der Bodenplatte im erlaubten Rahmen zu behalten. Auch, weil es keinen Sensor gibt, der diese misst - stattdessen dürfte die Live-Auswertung der Telemetrie-Daten irgendwann ergeben haben, dass eine kritische Abnutzung erreicht wird. Daraus dürfte dann die Anweisung an Norris und Piastri entstanden sein, das Auto zu schonen.
"Wir entschuldigen uns bei Lando und Oscar für den Verlust von Punkten heute, zu einem kritischen Zeitpunkt in ihrer Meisterschaft, nachdem sie das ganze Wochenende über starke Leistungen gezeigt haben", wird Teamchef Stella weiter in der Pressemitteilung zitiert: "Obwohl dieses Ergebnis äußerst enttäuschend ist, konzentrieren wir uns weiterhin voll und ganz auf die letzten beiden Rennen der Saison."
Denn, immerhin: McLaren hat noch alles selbst in der Hand. Norris kann weiterhin schon in Katar seinen ersten WM-Titel und den ersten für den Traditionsrennstall seit Lewis Hamilton 2007 gewinnen. Dafür muss er nach Sprint und Grand Prix in Lusail mindestens 26 Punkte vor Piastri und Verstappen liegen, um jegliche Rechenspielchen für Punktgleichheit gar nicht erst entstehen zu lassen. Schon an diesem Freitag geht es weiter, die letzten drei Rennen dieser Saison finden an drei aufeinanderfolgenden Wochenenden statt. Viel Zeit bleibt Norris also nicht, das "frustrierende Ende des Tages" hinter sich zu lassen.