Güler, Strafe, Achtelfinale Mega-Patzer des "türkischen Messi" verbreitet Schrecken

Arda Güler steht mit der Türkei im EM-Achtelfinale, obwohl er gegen Tschechien das Tor verfehlte.

Arda Güler steht mit der Türkei im EM-Achtelfinale, obwohl er gegen Tschechien das Tor verfehlte.

(Foto: IMAGO/Eibner)

Der erst 19-jährige Arda Güler muss ein ganzes Land schultern - und leistet sich bei der EM einen fast fatalen Fehlschuss im wichtigsten Spiel seiner Karriere. Doch die Türkei liebt ihren "Messi". Sein Patzer wird nur sanft bestraft und mündet in einem kitschigen Happy End.

Es läuft die 65. Minute. Das ist sein großer Auftritt. Muss er einfach sein. Der Moment des Arda Güler, der die lautstarken Türkinnen und Türken im Volksparkstadion endgültig zum Ausflippen bringen soll. Das entscheidende 2:0 im Krimi gegen Tschechien durch den heißgeliebten 19-jährigen Superhelden des Bosporus, das das Achtelfinale bei der EM in Deutschland perfekt machen würde.

Doch nachdem sich Baris Yilmaz auf rechts stark am Gegenmann vorbeitänzelt und in den Strafraum stürmt und einen präzisen und scharfen Ball in die Mitte schlägt, haut Güler über den Ball. Trifft Luft statt Leder. Wie ein Ottonormalkicker mit rosa Toni-Kroos-Trikot auf dem Bolzplatz in Altona Sonntagvormittag um halb elf. Yilmaz Flanke fliegt an Abwehrspieler und Torhüter vorbei - doch das heran rauschende Megatalent patzt vier Meter vor dem leeren Tor. Welch ein Fauxpas. Im bisher wichtigsten Spiel seiner Karriere. Güler selbst segelt ins Netz, rauft sich die Haare, der Ball aber landet bei den Tschechen …

… und direkt im Gegenzug fällt der Ausgleich der Männer in Rot an diesem Abend. Eine böse Strafe für Gülers bitteren Fehlschuss. Ein Blitz-Schock. Am Tor von Kapitän Tomas Soucek ändert auch eine lange Überprüfung des Videoschiedsrichters, begleitet von lauten Pfiffen der türkischen Fans, nichts. Güler feuert seine Teamkollegen am Mittelkreis an, zum ersten Mal am Abend verstummen die Türkinnen und Türken im Stadion vor Schreck. Noch ein Gegentor und ihre Mannschaft ist raus aus dem Turnier, denn im Parallelspiel fertigt Georgien die ohnehin schon erstplatzierten Portugiesen ab. Wird Fan-Liebling Güler etwa zum tragischen Buhmann? Sind die vielen Lorbeeren doch zu viel für den jungen Mann?

"Steht Arda Güler in der Startelf?"

Nervosität macht sich im Stadion breit, es wird minütlich hitziger und die Tschechen zeigen ohne ihren Stürmerstar Patrick Schick vom Deutschen Meister Bayer Leverkusen einen großen Kampf. Vor allem, weil sie ab der 20. Minute in Unterzahl spielen. Am Ende besteht die Türkei die Alles-oder-nichts-Situation mit Mühe und trifft in Person des Ex-Frankfurters Cenk Tosun in der Nachspielzeit zum erlösenden 2:1-Siegtreffer im Krimi um das Achtelfinale. In dem das Team des italienischen Trainers Vincenzo Montella nach ordentlich Zittern am Dienstag in Leipzig auf Österreich trifft. Güler kann seinen Fehltritt, auf mit dem zwischenzeitlichen Ausgleich nur eine sanfte Strafe, aber nicht der K.o. folgt, abhaken.

Tosuns Tor sichert der Türkei endgültig Platz zwei in der Gruppe F und den Einzug in die Runde der letzten 16. "Das ist ein großes Glücksgefühl, das man kaum beschreiben kann. Ich freue mich natürlich über mein Tor", jubelt der Siegtorschütze nach dem Triumph und schickt gleich noch eine Warnung an die Mannschaft von Ralf Rangnick hinterher: "Das ist erst der Anfang."

Aber auch hier von Anfang an. Vor dem Anpfiff im Hamburger Volksparkstadion dreht sich alles um ein Thema. Um einen Mann. Einen Teenager. Güler. Arda Güler. Das türkische Tabloid "Hürriyet" titelt in der Online-Ausgabe Stunden vor dem Spiel: "Steht Arda Güler in der Startelf?" Die Fans in Hamburg, die schon mit etwa 20.000 Menschen in zwei Fan-Märsche zum Stadion pilgern, sprechen über kaum etwas anderes.

Der Grund: Coach Montella war in der oft reißerischen Presse vom Bosporus scharf attackiert worden, weil er den Super-Youngster bei der Pleite im zweiten Gruppenspiel gegen Portugal 70 Minuten lang auf der Bank hatte schmoren lassen. Die Kritik wurde so heftig, dass sich der Präsident türkischen Fußball-Verbandes (TFF), Mehmet Büyükeksi, genötigt sah, seinem Coach den Rücken zu stärken und von einer "böswilligen und schmutzigen Kampagne" sprach. Auch einen Tag vor dem Duell gegen Tschechien musste sich Montella in der Güler-Causa nochmals vor den Medien rechtfertigen: "Er konnte nicht von der ersten bis zur letzten Minute spielen. Das habe nicht ich beschlossen, das haben die Ärzte beschlossen."

Güler trifft fast per Seitfallzieher

Nun brennen alle auf den Youngster. Und er spielt von Anfang an und erhält bei den Startaufstellungen natürlich den wärmsten Applaus im Volksparkstadion, das zu 75 Prozent mit türkischen Anhängerinnen und Anhängern gefüllt ist. Als Güler in der fünften Minute zum ersten Mal den Ball zentral vor dem Sechszehner der Tschechen erhält, brüllen seine Fans, damit er aus der Distanz abzieht. Doch der Teenager dribbelt nach links und die Chance verpufft.

Acht Minuten später bekommt er das Leder in der Nähe des Mittelkreises und treibt es durch die Spielfeldmitte, ohne angegriffen zu werden. Wieder schallen die lauten Schuss-Aufrufe durchs Rund, diesmal leistet der Youngster Folge - doch zielt deutlich über den Kasten. Trotzdem ertönen sofort Arda-Güler-Sprechchöre. Mitte der ersten Halbzeit explodiert die Hamburger Arena dann beinahe vor lauter Ekstase: Güler nimmt nach einer schönen türkischen Kombination eine kurze Chip-Flanke kurzerhand per Seitfallzieher aus der Luft - aber seine akrobatische Aktion wird gerade noch zur Ecke geklärt (27.)

Dabei ist der Youngster durchaus ein Mann für besondere Tore. So wie bei seinem ersten Länderspieltor gegen Wales, ein Fernschuss, so wie bei seinem ersten EM-Tor im Auftaktmatch gegen Georgien. Ein Traumtor, das den Hype um den Teenager in neue Sphären katapultiert. Obwohl Güler - der im vergangenen Sommer von Fener Fenerbahçe Istanbul, wo er mit Mesut Özil zusammenspielte, zu Real Madrid wechselte (Ablöse etwa 30 Millionen Euro, Gesamtpaket über sechs Vertragsjahre etwa 130 Millionen) - in der fußballverrückten Türkei ohnehin schon in unerreichbare und ungesunde Höhen gelobt wird.

Güler: "Türkischer Messi" mit Luftballons

Die Medien seiner Heimat machten ihn etwa zum "türkischen Messi". Mal wieder einer, muss man sagen. Der Vergleich ist natürlich Quatsch, aber diesmal ist wohl doch mehr dran als etwa beim ehemaligen BVB-Wirbelwind Emre Mor, der ebenfalls den undankbaren Spitznamen erhalten hatte.

Sein Vater erzählte einst, er habe Baby-Arda Luftballons und Fußbälle vor seinen linken Fuß gelegt, damit er zum Linksfuß werde. Mit diesem trifft er nun gerne, wenn er in Robben-Manier vom rechten Flügen nach innen zieht. Der 175 Zentimeter große Güler wurde stets als zu schmächtig eingeschätzt, konnte sich auch wegen eines Meniskusschadens im vergangenen Jahr bisher nicht bei Real durchsetzen in der elitär besetzten Offensive und erzielte für die Königlichen dennoch sechs Tore in nur 379 Minuten (63 Minuten pro Tor) in seinen zehn Ligaeinsätzen.

Zurück nach Hamburg, wo die Partie zusätzlich Drama erhält, weil Antonin Barak in der 20. Minute zurecht Gelb-Rot sieht, aber Kenan Yildiz nach zwei harten Foulspielen (tritt auf Knöchel/Achillessehne und dann Ellenbogencheck beim Kopfball) direkt nacheinander insgesamt mit einer Gelben Karte davonkommt. Trotz Unterzahl haben die Tschechen kurz vor der Pause die beste Chance bis dato, aber David Jurasek trifft in der 45. Minute nach toller Vorarbeit und Lukas Provod nicht. Die letzte Aktion gehört passenderweise Güler, der vor dem Strafraum die Kugel erhält, aber nur mit dem schwächeren rechten Fuß abschließen kann und über den Kasten schießt und dabei auf den Hosenboden fällt.

Tschechien - Türkei 1:2 (0:0)

Tore: 0:1 Çalhanoğlu (51.), 1:1 Soucek (66.), 1:2 Tosun (90.+4)
Tschechien: Staněk (55. Kovar) - Holeš, Hranac, Krejci - Coufal, Soucek, Provod (75. Lingr), Jurasek (81. Jurasek) - Chytil (55. Kuchta), Barak, Hlozek (55. Chorý). - Trainer: Hašek
Türkei: Günok - Müldür, Akaydin, Demiral, Kadioglu - Yüksek (63. Yokuşlu), Özcan (46. Ayhan) - Güler (75. Tosun), Çalhanoğlu (87. Kökçü), Yildiz (76. Aktürkoğlu) - Yilmaz. - Trainer: Montella
Schiedsrichter: Istvan Kovacs (Rumänien)
Gelbe Karten: Schick (2), Cerv, Jaros, Soucek (2), Krejci - Özcan, Yildiz, Yüksek, Günok, Çalhanoğlu (2), Çakır, Müldür, Akaydin (2), Güler
Gelb-Rote Karte: Barak (Tschechien) wegen wiederholten Foulspiels (20.)
Rote Karte: Chory (Tschechien) wegen einer Tätligkeit (Nach Apfiff)
Zuschauer: 49.000 (ausverkauft) in Hamburg

Die zweite Hälfte beginnt mit einer türkischen Eruption nach einer Mehrfachchance. Yilmaz tankt sich auf rechts abermals gewitzt durch, in der Mitte kommt Yildiz zum Abschluss, doch Keeper Jindrich Stanek hält überragend. Dann ist es Hakan Çalhanoğlu, er wirbelte von 2013 bis 2014 beim HSV, der in seinem alten Wohnzimmer aus dem Hintergrund flach ins lange Eck trifft.

Happy End für zwei Unglücksraben

Während die türkischen Fans mit lauten Gesängen, Pyrotechnik und Handylichtern reagieren, steckt Güler mitten in der Jubeltraube. Bald darauf leistet sich der Youngster seinen bitteren Patzer, mit der kurzen Strafe im Gegenzug. Die Fans liebe ihren "türkischen Messi" trotzdem. Um 22.33 Uhr verlässt er in der 75. Minute unter großem Applaus den Platz.

Diesmal verpasst Güler seinen Treffer. Das Zaubertor gegen Georgien aus der Distanz war das erste eines Teenagers bei einer EM seit Cristiano Ronaldo 2004. Sein Debüt in Istanbul war nicht minder spektakulär: Weniger als zwei Minuten nach seiner späten Einwechslung gab er im August 2021 als 16-Jähriger seinen ersten Assist. Später wurde Güler mit seinem ersten Tor zum jüngsten Fener-Torschützen jemals und erzeugt seitdem eine Ekstase im ganzen Land, die zuletzt Arda Turan nach starken Leistungen bei Galatasaray in der Saison 2004/05 zuteilwurde.

Auf einmal zieht Arda Güler aber noch einmal einen Sprint an. Obwohl ja bereits ausgewechselt. Von der Bank spurtet der 19-Jährige los, weil der für ihn eingewechselte Tosun zur 2:1-Entscheidung trifft (94.). Nachdem die Tschechen in den letzten zehn Minuten des Spiels enorm drücken, ein Tor schießen, das wegen Stürmerfouls nicht zählt, aber sonst glücklos agieren. Der Jungstar von Real Madrid aber feiert nicht etwa mit dem Torschützen, sondern mit Samet Akaydin. Dem Unglücksraben vom Samstag, der die Pleite gegen Portugal mit einem Slapstick-Eigentor besiegelt hatte. Schöne Geste, Güler kann sich womöglich aufgrund seines Luftschusses gut mit ihm identifizieren. Ein kitschiges Happy End.

Nun stehen beide im Achtelfinale der Europameisterschaft, denn nach einer Rudelbildung ist der hitzige Krimi vorüber. Und der hochgelobte Teenager hat mit seiner jungen türkischen Mannschaft, der zweitjüngsten des Turniers, und den furiosen Fans im Rücken noch einiges vor.

Quelle: ntv.de

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