Neuer, Kimmich und Gündoğan DFB-Analyse mit Lienen: "Diese Aufstellung ist nicht zielführend"

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Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft stolpert mit einer schwachen Leistung und einem glücklichen Sieg in Richtung Heim-Europameisterschaft. Das Spiel gegen Griechenland sorgt eher für Ernüchterung statt Euphorie. Keeper Manuel Neuer leistet sich erneut einen Fehler, wie zuletzt schon beim FC Bayern oder auch im ersten Testspiel gegen die Ukraine, als er einen Ball an der Mittellinie unglücklich klärte. Trainer-Legende Ewald Lienen hat trotz der phasenweise erschreckenden Leistung noch Ruhepuls, wünscht sich aber im ntv.de-Interview eine große personelle Veränderung im DFB-Team.

ntv.de: Hallo Herr Lienen, fallen wir direkt mit der Tür ins Haus: Hat Deutschland ein Manuel-Neuer-Problem?

Ewald Lienen: Ich sage ja schon sehr lange, dass die Zeit reif ist, Marc-André ter Stegen eine Chance zu geben. Ich kann ja nicht wegdiskutieren, dass Manuel Neuer immer wieder Weltklasse-Aktionen im Spiel hat, wie heute gegen Christos Tzolis oder zuletzt auch gegen die Ukraine. Da sieht man ja, wie beweglich er noch ist. Aber er hat durch seine Verletzungen keine Kontinuität über einen längeren Zeitraum. Dadurch passieren dann solche Fehler wie vor dem 0:1 gegen Griechenland. Oder auch im Spiel des FC Bayern gegen Real Madrid. Und im März, als wir alle dachten, Deutschland spielt jetzt plötzlich so toll wie Bayer Leverkusen oder der VfB Stuttgart, da stand ja ter Stegen im Tor!

Also Torwartwechsel jetzt?!

Ich hätte schon lange gewechselt. Und jetzt erst recht. Nicht, dass wir uns falsch verstehen. Manuel Neuer war über Jahre hinweg einer der besten Torhüter der Welt, wahrscheinlich sogar der Beste. Aber da kann man dann doch sagen, ich lasse jetzt mal die anderen ran.

Was macht das denn mit der Hintermannschaft des DFB-Teams, wenn man merkt, dass Manuel Neuer sich immer mal wieder einen Patzer erlaubt?

Ach, das hat keine Auswirkungen, glaube ich. Die Jungs vertrauen Manuel. Und das können sie auch. Die vielen gefährlichen Situationen, die wir heute gegen Griechenland gesehen haben, hatten ja nichts mit Neuer zu tun. Das sind grundsätzliche Geschichten, wie ich mir diese Konter einfange. Das entsteht nicht dadurch, dass die Spieler nicht mehr an Neuer glauben.

Was waren denn dann gegen Griechenland die Probleme?

Naja, zum Beispiel Joshua Kimmich. Als ich bei der Aufstellung gesehen habe, dass Christos Tzolis spielt (Anmerk. d. Red: Torschützenkönig der 2. Fußball-Bundesliga), wusste ich, dass der Deutschland Probleme bereiten würde. Das muss man sich mal vorstellen, der war zuletzt gar nicht im Kader. Da habe ich zu meinen griechischen Freunden gesagt, was müsst ihr für eine Riesentruppe haben, wenn er nicht mal dabei ist. Der ist ein Spieler, der den Unterschied machen kann, der hat Tempo, ist torgefährlich und erobert sich selbst den Ball. Und gegen solche schnellen Spieler hat Kimmich als Rechtsverteidiger Probleme. Und Tzolis gehört ja jetzt auch nicht zu den Allerbesten. Da gibt es bei der EM noch andere Kaliber. Er braucht da unbedingt Unterstützung von einem Flügelspieler vor ihm. So wie von Sané, der ja auch in höchster Not ausgeholfen hat.

Also diskutieren wir nun auch über Kimmich?

Ich hätte einen anderen Spieler auf rechts hinten aufgebaut. Kimmich hat seit Jahren im defensiven Mittelfeld gespielt. Das hat einen Grund. Seine herausragende Qualität ist das Passspiel. Pässe hinter die gegnerische Abwehr beim FC Bayern hat fast nur er gespielt. Er hat Bälle auf die Außenstürmer Serge Gnabry, Leroy Sané oder Kingsley Coman geschlagen. Aber als klar war, dass Toni Kroos ins DFB-Team zurückkommt, war auch klar, dass Kimmich nicht neben ihm spielen kann. Wir haben heute gesehen, als Pascal Groß gekommen und Robert Andrich gegangen ist, wie offen wir waren. Groß ist auch ein Passspieler wie Kimmich, wir hatten dann keine Absicherung mehr. Wenn Groß, der ein tolles Tor geschossen hat, die Alternative zu Andrich sein soll, kann ich das nicht nachvollziehen. Da ist ein Leon Goretzka in der Balleroberung eine Klasse besser. Ein Kroos funktioniert, wenn ein robuster Typ wie Andrich neben ihm spielt. Und Kimmich funktioniert, wenn er auf dem Flügel offensiv und defensiv Unterstützung bekommt. Ich habe beim System grundsätzlich andere Vorstellungen.

Podcast "Der Sechzehner"

Im Podcast "Der Sechzehner" setzen sich Trainer-Legende Ewald Lienen und Kommentator Michael Born mit allen wichtigen Ereignissen im Fußball auseinander, liefern sich aber auch immer wieder die ein oder andere bissig-humoristische Auseinandersetzung. Während der Europameisterschaft kooperiert das Duo mit ntv.de.

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Zuletzt im März, bei den herausragenden Leistungen gegen Frankreich und die Niederlande, schienen alle Spieler ihre Rollen gefunden zu haben. Was ist passiert? Was ist nun anders?

Ich habe es absolut genossen, diese Mannschaft im März zu sehen. Aber das war eine Ausnahmesituation. Das Team stand mit dem Rücken zur Wand. In den Monaten davor gab es katastrophale Auftritte. Von der Aufstellung bis zur Grundordnung hat nichts gepasst. Dann kommen zwei Top-Nationen, das erhöht die Aufmerksamkeit der Spieler. Und es war ja klar, dass da Entscheidungen fallen, wer mit zur EM kommt. So haben alle Spieler dann auch agiert, mit vollem Fokus, mit aller Konsequenz. Sie haben aber auch, so ehrlich müssen wir sein, wenig Gegenwehr bekommen. Für Deutschland ging es um alles, für Frankreich und die Niederlande um nichts.

Wie steht's denn um Ihren Puls mit Blick auf die Europameisterschaft?

Machen Sie sich keine Sorgen, ich habe Ruhepuls, bin ganz entspannt. Erhöhten Puls habe ich immer dann, wenn eine Mannschaft richtig gut spielt und dann nicht das Tor macht. Das habe ich heute in der ersten Halbzeit nicht erkennen können. Ich bin ja nicht grundsätzlich aufgeregt, nur weil Deutschland spielt. Mich ärgert es einfach, wenn eine richtig gute Mannschaft nicht ihren verdienten Sieg einfährt. Am Ende habe ich den Jungs aber den Sieg gewünscht, weil ein paar von den Spielern auf dem Feld standen, die ich gerne sehe.

Zum Beispiel?

Leroy Sané!

Das dürfen Sie gerne weiter ausführen ...

... Die Aufstellung, mit der Deutschland heute gespielt hat, ist für mich nicht zielführend. Du spielst mit İlkay Gündoğan, mit Florian Wirtz und Jamal Musiala, die sind alle für Tiki-Taka gemacht. Aber da fehlt ein echter Außenstürmer. Du hast so gar keine Möglichkeit mehr zum Steilpass. Auch, weil du heute keine offensiven Außenverteidiger hattest. Musiala hat auch agiert wie in seinen bisher schlechtesten Spielen. 100.000 Kontakte, Dribblings in unsinnigen Räumen. In den Topspielen gegen Frankreich und die Niederlande im März war das noch anders. Da hat er mit ein, zwei Kontakten gespielt, wie die anderen auch. Da hat er tolle Aktionen generiert. Aber heute waren da vor allem Ballverluste, das hat mir nicht gefallen.

Dann nochmal zu Sané, wenn er spielen soll, müsste ja einer aus dem Trio weichen. Wer?

Völlig klar, Gündoğan muss dann raus. In seiner aktuellen Rolle vorne hat er immer jemanden auf den Füßen stehen, immer viel Druck. Da fehlt ihm dann das Tempo und die Dribbelstärke, um sich zu befreien. Wir brauchen mindestens einen Top-Außenstürmer, auch damit die Verteidiger wie Kimmich, oder die eingewechselten David Raum und Benjamin Henrichs aufrücken und nachschieben können. Damit Druck auf die Seiten kommt und wir nicht nur Spieler haben, die nach innen rücken. Da stehen sich Wirtz, Gündoğan und Musiala dann auf den Füßen. Auch hier übrigens bitte nicht falsch verstehen: İlkay ist ein Top-Fußballer. Aber das passt so nicht. Gegen Frankreich und die Niederlande war das die richtige Aufstellung, aber sie ist für mich nicht zukunftsträchtig.

Wenn Gündoğan draußen bleibt, braucht es einen anderen Kapitän. Wer soll's machen?

Das ist mir völlig egal, Herr Nordmann. Du hast genug Leute, die die Binde auf den Platz schleppen können.

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Dann blicken wir voraus: Müssen wir uns Sorgen machen?

Sorgen, wir sollten uns um andere Dinge Sorgen machen: Um Krieg und Klima etwa.

Anders gefragt: Wird es schwerer als gedacht für Deutschland in der Vorrunde gegen Schottland, Ungarn und die Schweiz?

Du musst dich auf jedes Spiel neu einstellen, immer bereit sein, an die Schmerzgrenze zu gehen. Die haben alle Spieler aus Top-Ligen in ihren Kadern, die Selbstvertrauen gesammelt haben. Ungarn und die Schweiz spielen zudem sehr körperbetont, da musst du voll da sein. Aber es geht auch nicht um irgendwelche Schönheitspreise. Du musst spielen wie im März, nicht wie heute. Nicht rumstehen und zuschauen.

Und dann werden wir Europameister, wie die Fans in Mönchengladbach vor dem Spiel mit ihrer Choreo geträumt haben?

Werden wir Europameister sein. Was soll das denn heißen? Das ist übrigens etwas, was mich wahnsinnig aufregt. Dieses Gelaber immer. Lasst die Jungs doch mal spielen. Diese Arroganz ist im deutschen Sport beispielhaft, das habe ich nirgendwo anders erlebt. Diese Forderungen setzen die Leute unglaublich unter Druck. Die Basketballer etwa, die sind letztes Jahr auf den Philippinen Weltmeister geworden, weil niemand dabei war. Die brauchten sich den Unsinn nicht anzuhören!

Mit Ewald Lienen sprach Tobias Nordmann

Quelle: ntv.de

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