
Der Tempodribbler, den das Spiel des DFB-Teams braucht: Leroy Sané.
(Foto: picture alliance / pressefoto Mika Volkmann)
Vor allem, wenn es um die deutsche Fußball-Nationalmannschaft geht, kann Leroy Sané bislang sein enormes Potenzial noch nie zeigen. Seine DFB-Bilanz ist bitter, doch am Freitag könnte er die Chance bekommen, das aufzubessern: im EM-Viertelfinale gegen Spanien.
Fast schon bedrohlich legen sich die dunklen Wolken über das DFB-Quartier in Herzogenaurach. Es regnet nicht, die Wetter-App sagt den Niederschlag erst für den Abend voraus. Ein Gewitter liegt trotzdem in der Luft. Doch den älteren Mann vor den Absperrungen am Medienzentrum schreckt das nicht ab. Er trägt ein 2014er-Deutschlandtrikot und ist auf der Jagd nach Autogrammen - auch wenn es hier keinerlei Chance gibt. Eigentlich soll es Thomas Müller sein, doch zur Pressekonferenz kommt Leroy Sané. Auch das würde er nehmen, sagt er.
Drinnen steht Sané erst mal den Journalistinnen und Journalisten zur Verfügung. Und es geht direkt los. Gestern waren die Außenverteidiger Joshua Kimmich und David Raum da. Vor allem letzterer hatte schon seine besondere Aktion, die Flanke auf Niclas Füllkrug zum ganz späten 1:1-Ausgleich gegen die Schweiz. Auch Sané hofft, dass er bald seinen Turniermoment bekommt. "Das ist meine Aufgabe, die ich auch erfüllen möchte", sagt der 28-jährige Bayern-Star. Am besten schon am Freitag gegen Spanien (18 Uhr/ARD, MagentaTV und im ntv.de-Liveticker), im Viertelfinale der Heim-Europameisterschaft.
Denn das wäre in mehrfacher Hinsicht ein besonderer Moment. Früher, als man es noch benutzt hat, konnte man bei Facebook den Beziehungsstatus als "Es ist kompliziert" angeben. Das beschreibt die Kombination aus Leroy Sané und großen Turnieren mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft eigentlich ganz gut. Es ist fast nicht zu glauben: So einem talentierten Offensivspieler, der insgesamt 101 Millionen Euro Transfererlöse erzeugt hat, gelang bisher nur eine einzige Vorlage bei einem großen Turnier.
Löw ignoriert und verzweifelt
Bei der Europameisterschaft 2016 bekommt der damals 20-jährige Sané nur auf einen Kurzeinsatz beim 0:1 im Halbfinale gegen Frankreich. Das Spiel war da schon entschieden, sein Einfluss überschaubar. Ähnlich war das beim Confed-Cup-Triumph ein Jahr später. Als die DFB-Elf ihren (bis zum 14. Juli?) letzten Titel holt, glänzt Sané mit Abwesenheit. Er musste kurzfristig wegen einer Nasenoperation absagen.
Bei der Weltmeisterschaft 2018 in Russland reiste er mit dem DFB-Team gar nicht erst ins Quartier nach Watutinki, sondern blieb in Deutschland. Bundestrainer Löw ließ den vielversprechenden Flügelstürmer überraschend daheim, er nahm stattdessen den damals Noch-Leverkusener Julian Brandt mit. Dabei war Sané als Stammkraft in der Saison mit Manchester City noch Meister geworden und hatte unter Trainerguru Pep Guardiola den nächsten Schritt gemacht, war konstanter geworden.
Weshalb Löw ihn damals daheim gelassen hatte, wurde nie so richtig aufgelöst. Denn Sané hätte eigentlich eine Lücke im Kader gefüllt, über die Löw sich zwei Jahre zuvor noch beschwert hatte: Ein Tempodribbler, der schnell und durchsetzungsfähig über die Flügel das Eins-gegen-Eins sucht. Einige mutmaßten damals, dass es an der Hauspolitik gelegen habe - Löw nahm stattdessen Brandt mit, den er zwei Jahre zuvor noch daheim gelassen hatte. Es soll aber auch Zweifel wegen Sanés angeblich mangelnder Einstellung und Körpersprache gegeben haben.
Bei der Kontinental-Europameisterschaft 2021 war Sané dann endlich wieder dabei. Ein Jahr zuvor, im ersten Corona-Sommer, war er aus England zum FC Bayern gewechselt, kurierte in der Zeit noch die Nachwehen seines Kreuzbandrisses aus. Seinen ersten EM-Startelf-Auftritt hatte er im dritten Gruppenspiel gegen Ungarn, er sollte den angeschlagenen Thomas Müller ersetzen. Und er enttäuschte, am Ende ließ er sogar Bundestrainer Joachim Löw noch laut fluchen. Die DFB-Elf schaffte trotzdem ein 2:2 und den Achtelfinaleinzug. Dort war dann mit 0:1 gegen England Schluss.
Und Sanés Geschichte bei der Wüsten-Weltmeisterschaft 2022 in Katar ist auch schnell erzählt. Die 1:2-Auftaktniederlage gegen Japan verpasst er wegen Knieproblemen. Beim zweiten Spiel gegen Spanien wird der Angreifer zeitgleich mit Superjoker Niclas Füllkrug eingewechselt, doch der Bremer trifft prompt das Tor, Sané nicht. Dafür bekommt er einen 90-minütigen Einsatz im letzten Gruppenspiel beim 4:2 über Costa Rica. Bekanntermaßen flogen die DFB-Graugänse trotz des Sieges danach wieder heim.
Startelf-Einsatz könnte den Plan verraten
Und diesmal? Wird die Heim-EM 2024 sein Turnier? Sané war neben Manuel Neuer der einzige Spieler, dem der Bundestrainer schon während der März-Länderspiele eine Sonderrolle einräumte. Er werde keinesfalls auf Sané verzichten, sagte Julian Nagelsmann schon vor drei Monaten. Immer wieder betonte er, welch besonderen Draht beide haben. Beide kennen sich noch aus Klubzeiten. Auch Nagelsmann weiß, dass es eigentlich nicht so klar ist, welchen Sané er diesmal bekommt: den starken aus der Hinrunde, der ein Unterschiedsspieler sein kann, vom FC Bayern oder den wankelmütigen aus der Rückrunde.
Denn es ist so: Der Flügelstürmer laborierte in den vergangenen Wochen und Monaten an einer Schambein-Verletzung. Eine fiese Angelegenheit, wie Sané auch auf der Pressekonferenz erklärt, denn so richtig kann man den Bereich nicht schonen und noch weniger einschätzen. Immer wieder fühlte er sich vor Spielen gut, doch danach begann es wieder zu ziehen. Es habe dann manchmal wieder "fünf, sechs Tage" gedauert, bis es wieder ging, sagt Sané. Doch er habe sich weitestgehend kuriert. Es sei noch nicht komplett weg, erklärt er, doch er habe keine Schmerzen mehr. "Das ist das Positive."
Bislang ist es noch nicht das Turnier des Leroy Sané, damit lehnt sich niemand aus dem Fenster. Der Bayern-Star bekam in den drei Gruppenspielen immer wieder seine Einsatzzeiten, doch konnte keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Im Achtelfinale gegen Dänemark startete er dann überraschend für Florian Wirtz, Nagelsmann erhoffte sich etwas, was dem Spiel des DFB-Teams zuletzt abging: mehr Tiefe, mehr Tempo, mehr Läufe hinter die gegnerische Abwehrkette. Das klappte auch eigentlich ganz okay. Sané zeigte Einsatz, war sich für keinen Sprint zu schade. Egal, ob offensiv oder defensiv. Doch man sah ihm die fehlende Spielpraxis vor allem in der ersten Hälfte an: Mal lief er zu früh los, mal zu spät.
Ob er auch gegen Spanien in der Startelf steht? Er wisse das noch nicht, sagt Sané. Gegen Dänemark habe er das auch erst am Spieltag erfahren. "Mir hat es sehr gutgetan, mal wieder eine längere Spielzeit zu haben. Es war ja eine Weile her." In Nagelsmanns Rollensystem ist er die vierte Kraft für die drei Plätze im offensiven Mittelfeld, neben Bessermacher Kapitän İlkay Gündoğan und den Zauberern Jamal Musiala und Wirtz. Ein Sané in der Startelf könnte auch ein Hinweis sein, was der Bundestrainer gegen die Spanier plant: schnell und direkt (Sané) oder viel Ballbesitz (Wirtz)?
Für Sané gilt dagegen: Ein entscheidendes Tor, eine brillante Vorlage gegen einen großen Gegner, gegen den die DFB-Elf zuletzt 1988 in einem Pflichtspiel gewonnen hat, das wäre doch eine gute Gelegenheit, um endlich mal einen Turniermoment zu haben. Dann stehen sicher auch mehr Autogrammjäger vor dem DFB-Quartier.
Quelle: ntv.de