Keine Euphorie in Deutschland Die große Chance auf einen wuchtigen Neustart

Noch ist in Deutschland wenig von EM-Euphorie zu spüren. Auch wenn hier in Hamburg-Bramfeld eine Fahne hängt.

Noch ist in Deutschland wenig von EM-Euphorie zu spüren. Auch wenn hier in Hamburg-Bramfeld eine Fahne hängt.

(Foto: imago images/Hanno Bode)

Die Fußball-Europameisterschaft ist noch nicht im deutschen Hinterland angekommen. Da interessiert der Sommer und die Unbeschwertheit nach den bleiernen Lockdown-Monaten. Das ist eine Chance für das Team um Bundestrainer Joachim Löw.

Es ist Sommer im norddeutschen Hinterland. An einem Badesee sitzen die Jugendlichen. Sie reden, lachen und flirten. Eine Gruppe rast mit Rädern den Hügel hinunter. Sie bremsen und springen ab. "Wenn Mbappé gegen Deutschland trifft, schreie ich krass!", ruft einer im Hannover-96-Shirt. Seine Stimme wird von den lauten Gesprächen der anderen verschluckt.

Alle Aufmerksamkeit gehört ohnehin der Schwanenfamilie, die ihre Zöglinge über die Wiese paradiert, um sich dann fauchend ihren Weg ins Wasser zu schlagen. Auf der anderen Seite stürzen sich ein paar Wagemutige von den Bäumen der Uferumrandung. In der nahegelegenen Stadt bieten nicht einmal die Euro-Läden ihren bei Turnieren sonst üblichen Ramsch an. An einigen Fenstern hängen Fahnen - spanische, polnische, türkische und ganz selten auch einmal eine deutsche. Die EM wird zwar registriert, doch das Land ist nicht "verschlandet", wie so oft zuvor. Das Turnier kann sich in aller Ruhe entwickeln.

Eine zeitgemäße Europameisterschaft

Tief unten im Süden, in München, warten ein paar versprengte Personen vor dem Team-Hotel der deutschen Nationalmannschaft. Es sind nur noch wenige Stunden bis zum Auftaktspiel gegen Frankreich. Tags zuvor stand niemand dort, um ein Blick auf die anreisende Elf zu grüßen. Die Polizisten standen sich die Beine in den Bauch. Das Interesse an der Europameisterschaft könnte kaum geringer sind, die Erwartungen an das Team ebenfalls nicht. Darin liegt eine große Chance für das Team um den scheidenden Bundestrainer Joachim Löw, das sich seit dem großen Erfolg von Rio vor sieben Jahren auf eine lange Talfahrt begeben hat.

Ausbleibender sportlicher Erfolg, die Sloganisierung des Umfelds, die steigenden Ticketpreise und die Unnahbarkeit des Teams. All dem wirkte der von jahrelangen Machtkämpfen zerrüttete DFB meist tollpatschig entgegen. Die Maßnahmen zur Steigerung der Beliebtheit liefen ins Leere. Die Nationalmannschaft ist längst nicht mehr das Lieblingskind der Deutschen, sie wird wenig geschätzt und ist umstritten.

Umstritten war auch die erste paneuropäische Fußball-EM, ein größenwahnsinniges Projekt mit tausenden von Kilometern zwischen den einzelnen Spielorten. Beschlossen weit vor den aktuellen Klimakrisen-Debatten wirkt diese EM nun aus der Zeit gefallen. Sie stand gegen die Verdichtung auf einen Ort, auf ein Land und die großen Fanfeste, auf denen sich die Zuschauer aus den Teilnehmerländern trafen.

Der Fußball hatte sich entkoppelt von einem seiner wichtigsten Akteure: den Fans, die in das Sportspiel Fußball eine kulturelle und gesellschaftliche Ebene einziehen. Als Corona kam, die Zuschauer aus den Stadien verschwanden, veränderte sich das. Der Fußball war nun rein, das Spiel entfaltete sich ausschließlich auf dem Rasen und, zumindest in der Bundesliga, dämmerten viele TV-Zuschauer weg. Die Jahre der Bayern-Dominanz haben sie ohnehin ermüden lassen. Kein Wettbewerb, keine Zuschauer. Das Scheitern - auf Schalke, in Hamburg, wo wieder der Aufstieg verpasst wurde - stand im Vordergrund. Doch ein Sport, der sich nur über das Scheitern der Protagonisten definiert, ist am Ende selbst zum Scheitern verurteilt.

Eine Chance für den Kontinent

Aber diese Europameisterschaft hat das Potenzial, die Menschen wieder mitzunehmen, sie dem Fußball, der nie weg, aber so fern war, ein Stück näherzubringen. Nach der Corona-Pause der europäischen Gesellschaft, nach den nunmehr 15-monatigen Lockdown-Maßnahmen unterschiedlichster Prägung erleben wir die Rückkehr zur Normalität. Eben nicht nur an den Badeseen des deutschen Hinterlands, sondern auch an den Empfangsgeräten, die uns die Bilder der inbrünstig singenden Schotten, der erst schockierten und dann aufmunternden Reaktionen der Zuschauer in Kopenhagen, die Atmosphäre in Amsterdam und in Sevilla nach Hause spielen. Ein Kontinent schleppt sich aus der Corona-Krise, zaghaft und voller Furcht vor einer Umkehr, vor einem Rückfall. Jeder noch so kleine Öffnungsschritt wird aus gutem Grund mit Argwohn betrachtet, so auch die nun wieder etwas gefüllten Stadien bei der gleichzeitigen Ausbreitung der Delta-Variante.

Auch die großen und kleinen internationalen Krisen und Debatten strahlen tief in das Turnier: Der Ukraine-Konflikt, die ewigen Wirrungen auf dem Balkan (am Beispiel Arnautovic), die Spaltung des Kontinents zwischen Autokraten und Demokraten, die sich auch in den "Take A Knee"-Solidaritätsbekundungen einiger Nationen und den Pfiffen anderer zeigt. In dieser Zeit werden neue Vorbilder geboren, so wie der Belgier Romelu Lukaku, der die Pfiffe des russischen Publikums mit Toren beantwortet und dabei an seinen Inter-Teamkollegen, den Dänen Christian Eriksen, dachte.

Keine Euphorie

Niemand in Deutschland erwartet nun die Lukaku-Werdung Timo Werners, doch auch die Nationalmannschaft ist eine, die sich in die Herzen spielen könnte. Antonio Rüdigers Kampf gegen den Rassismus; Robin Gosens erstaunlicher Aufstieg vom Amateur- zum Nationalspieler, Leon Goretzka, der zeigt, dass Fußballer nicht nur Fußballer sein müssen oder auch Kai Havertz, der sich in London gegen viele Widerstände durchsetzen konnte und Chelsea zum Champions-League-Erfolg schoss. Die Rückkehr des von vielen geliebten Thomas Müller, das Warten auf İlkay Gündoğans großen Moment bei einem Turnier: Die deutsche Nationalmannschaft kann viele Geschichten erzählen. Niemand erwartet groß etwas von diesem Team. Es gibt keine Euphorie, es gibt nicht einmal eine aufgesetzte Euphorie. Dafür war das gesamtheitliche Scheitern der Idee deutsche Fußballnationalmannschaft der Herren zu eindeutig.

Der Sommer im norddeutschen Hinterland lässt sich auch gut am Badesee verbringen. Die Gruppe hat sich mittlerweile auf einem Handtuch niedergelassen. Die Schwäne haben sich in den hinteren Teil des Sees zurückgezogen. Der im Hannover-96-Shirt sagt: "Und wenn Deutschland dann gegen Frankreich gewinnt, schreie ich noch krasser. Das ist eine gute Mannschaft." Er wird kaum beachtet. Doch sein Schrei nach einem Sieg gegen Frankreich würde man hören. Sein Schweigen würde nicht interessieren. Es ist alles bereit für ein großes Turnier. In diesem Sommer, in dem ein Kontinent wieder auf Start drückt. Vielleicht gelingt es der Nationalmannschaft auch. Das hätte eine enorme Wucht.

Quelle: ntv.de

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