Fußballfans ticken in Osteuropa anders "EM droht ein Hooligan-Problem"
08.06.2012, 12:02 Uhr
Ein Bundespolizist nimmt einen polnischen Hooligan fest. (Archivbild) Vor der EM vertieften deutsche und polnische Behörden ihre Zusammenarbeit im Kampf gegen Hooliganismus.
(Foto: REUTERS)

Der Journalist und Osteuropa-Kenner Olaf Sundermeyer im Kiewer Endspielstadion.
(Foto: Olaf Sundermeyer / Verlag Die Werkstatt)
Die deutschen Fans freuen sich auf die Fußball-EM in Polen und der Ukraine. Sie erwarten ein Fußball-Spektakel und von der deutschen Nationalelf den Titel. Die Fußballfreude könnte allerdings von Hooligan-Gewalt getrübt werden. Denn in Osteuropa ticken die Fußballfans anders, wie der Experte Olaf Sundermeyer weiß. Er sprach mit n-tv.de über die Hooliganszene in Polen, den Fremdenhass in Osteuropa, die Macht der Oligarchen, Korruption und politische Einflussnahme.
n-tv.de: Herr Sundermeyer, Sie gelten als Osteuropa-Experte, sowohl was die Politik als auch den Fußball angeht. Welchen Stellenwert hat die EM in Polen und der Ukraine für die beiden Länder und die dort lebenden Menschen?
Olaf Sundermeyer: Grundsätzlich ist die Europameisterschaft unterschiedlich zu bewerten - für die Polen und die Ukrainer. Für die Polen geht es darum, zu zeigen, dass man endgültig in Europa angekommen ist. Da geht es nicht nur um Fußball, sondern um gesellschaftlichen Fortschritt. Es geht um Demokratisierung und Europäisierung, die seit dem polnischen EU-Beitritt 2004 erfolgt ist. All das, was man in den vergangenen Jahren politisch und wirtschaftlich geschaffen hat, will man jetzt einer breiten Öffentlichkeit präsentieren.
Und in der Ukraine?
In der Ukraine ist die Fußball-EM eine Kampagne der Oligarchen, die, inszeniert durch die Uefa, durch den europäischen Fußballverband dort einfach dazu führt, dass wenige Menschen viel Geld verdienen können. Die EM ist zu einem Instrument geworden, mit dem die Machtbasis der Oligarchen weiter gestärkt wird.
Wenn man an Polen und die Ukraine denkt, kommen schnell gängige Stereotypen auf: Kriminalität, Gewalt, Korruption. Sind das wirklich nur gut gepflegte Vorurteile oder ist da etwas dran?
Nein! Korruption ist kein Vorurteil. Das ist vor allem in der Ukraine ein Fakt. Und das sage nicht nur ich, der das persönlich am eigenen Leib erlebt hat, sondern das sagt vor allem Transparency International, die jährlich einen Korruptionswahrnehmungsindex herausbringen für sämtliche Staaten der Welt. Und da landet die Ukraine regelmäßig - so auch im vergangenen Jahr - auf dem letzten Platz in Europa. Der Stand der Korruption spiegelt gleichzeitig den Stand der Demokratisierung eines Landes wider, das heißt: Die Ukraine ist unendlich weit von der Demokratie entfernt.
Und in Polen?
In Polen hat sich die Situation die Korruption betreffend in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Da hat Polen zum Rest Europas deutlich aufgeholt und sich weiterentwickelt. Durch die Fußball-EM wird dieser Trend zum Positiven noch verstärkt - ganz im Gegenteil zur Ukraine.
Sie haben beide Länder mehrere Jahre lang bereist, sich jede Menge Fußballspiele vor Ort angeschaut. Was unterscheidet den Fußball in Osteruopa von dem hierzulande?
Auch da sind Polen und die Ukraine völlig unterschiedlich zu bewerten. Der Fußball in der Ukraine ist hochprofessionell, vor allem was die Oligarchenklubs Dynamo Kiew, Schachtar Donezk (Uefa-Cup-Sieger 2009; Anm. d. Red.) und Metallist Charkow angeht. Das sind Klubs, die auf europäischem Spitzenniveau arbeiten: Die haben Spitzenbedingungen mit hochmodernen Stadien und Trainingsgeländen. Die haben auch Spitzenspieler. Das sagen haben aber allein die Oligarchen, die sich von niemandem in die Karten schauen lassen.
Und in Polen ist das fußballerische Niveau anders?
In Polen ist der Fußball insgesamt auf einem sportlich niedrigeren Level, weil dort einfach nicht so viel Geld drinsteckt wie in der Ukraine. In Polen gibt es keine Oligarchen. Dennoch ist in den vergangenen Jahren ein positiver sportlicher Trend erkennbar. Bis der Fußball aber europäisches Niveau erreicht hat, wird es noch Jahre dauern.
Und die Fans - sind die "anders drauf"?
Ja. Es gibt ein hohes Maß an Menschenfeindlichkeit unter Fußballfans in Osteuropa insgesamt. Dort sind rassistische, antisemitische, homophobe und antiziganistische Einstellungen weit verbreitet. In Polen gibt es beispielsweise sehr viel antisemitische, rassistische Symbolik, vor allem im Umfeld der Stadien. In den modernisierten Arenen nimmt das Ganze insgesamt ab, weil dort stärker kontrolliert und überwacht wird. In der Ukraine kann man fast homogen davon sprechen, dass die Ultra-Szene dort eine starke rechtsradikale Tendenz hat. Im Süden der Ukraine ist auch der Antiziganismus stark verbreitet: Dort leben viele Roma. Die will man nicht in den Stadien haben. Das sagen die Fans dort bewusst und ganz direkt.
Droht der EM ein Hooligan-Problem?
Ja, natürlich. Das Risiko besteht durchaus. Darauf müssen die Sicherheitsbehörden in beiden Ländern hundertprozentig vorbereitet und eingestellt sein. Allein in Polen gibt es 5000 äußerst gewaltbereite Hooligans. Ob dort Aktionen bereits vor der EM geplant wurden, kann ich nicht sagen. Aber die Möglichkeit besteht durchaus - trotz aller im EM-Vorfeld getroffenen Vorsichtsmaßnahmen wie Absprachen zwischen deutschen und polnischen Behörden, Fanprojekten oder die Einführung einer funktionierenden Hooligan-Datei.
Das ist Polen - und wie sieht es in der Ukraine aus?
Die Zustände in der Ukraine sind ganz andere: Fußballverband, Funktionäre, Klubeigentümer und Politik negieren das ganze Thema. Sie verschließen die Augen vor der Problematik, kümmern sich einfach nicht darum - also gibt es ein Hooligan-Problem dort ihrer Meinung auch nicht. In Wirklichkeit sieht das natürlich anders aus.
Was ist von Ihren zahlreichen Reisen hängengeblieben? Gab es einschneidende Erlebnisse, sowohl positiv als auch negativ?
Da gab es viele. Da wären die Begegnungen mit den Oligarchen beispielsweise, die einen bei einem Interviewtermin stundenlang warten lassen, allein, um ihre Machtposition zu demonstrieren. Ein prägendes Erlebnis, was mir für immer in Erinnerung bleiben wird, ist der Dreh bei einem Lokalderby in Warschau zwischen Polonia und Legia, deren Fans sich zum Teil abgrundtief hassen. Dort ging es richtig zur Sache zwischen den Hooligans der verfeindeten Lager. Ich geriet mit meinem Kamerateam plötzlich zwischen die Fronten. Polonia-Hooligans schützten uns dann vor denen von Legia, weil sie sagten, dass es nicht sein kann, dass ein deutsches Kamerateam, das sich für Polen und den polnischen Fußball interessiert und das auch noch polnisch spricht, angegriffen wird. Da war der Fußball das verbindende Element und wog am Ende schwerer als die allgemeine Verachtung der Hooligans für den Journalismus an sich.
Sie haben jede Menge Politiker, Oligarchen, Fußballstars und -funktionäre getroffen und interviewt. Mit welcher Person würden Sie gern ein Fußballspiel besuchen?
(grübelt) Am liebsten mit jemandem, der etwas davon versteht - dem Bundespräsidenten beispielsweise, Herrn Gauck. Das fände ich ganz interessant. Er hat sich zum einen ja frühzeitig dafür ausgesprochen, die EM in der Ukraine nicht zu besuchen. Zum anderen weiß ich von ihm, dass er sich für Fußball interessiert und auch auskennt.
Wie halten Sie es mit einem Boykott der EM aufgrund der politischen Situation in der Ukraine?
Ich bin ganz klar gegen einen Boykott. Ich bin aber dafür, dass Politiker dorthin fahren und die Probleme im Land - seien es die Menschenrechtsverletzungen, die Korruption oder die Macht der Oligarchen - aufgreifen und zum Thema machen.
Stichwort Oligarchen: Kann man Klubs wie Schachtar Donezk oder Metallist Charkow mit Vereinen wie dem VfL Wolfsburg oder der TSG Hoffenheim vergleichen?
Auf keinen Fall. Ein Oligarch macht Politik mit seinem Verein und schafft sich einen regionalen Rückhalt in der Bevölkerung, profiliert sich so gewissermaßen als Wohltäter der Region. Er nutzt den Fußball absolutistisch nach dem Brot-und-Spiele-Prinzip, egal, ob das jetzt Rinat Achmetow in der Donbas-Region oder Alexander Jaroslawski in der Region um Charkow ist. Man könnte Wolfsburg oder Leverkusen höchstens mit Zenit St. Petersburg vergleichen, einem Werksklub von Gazprom. Wobei Gazprom wiederum ein halbstaatliches Unternehmen ist und Volkswagen sowie Bayer privatwirtschaftliche Konzerne sind.
Sie nannten das Beispiel Gazprom und Zenit St. Petersburg. Welche Rolle spielt der Kreml im russischen Fußball? Und lässt sich die Situation in Russland mit der in der Ukraine vergleichen?
Nein. In Russland hat der Staat das Sagen. Gazprom wird von Wladimir Putin kontrolliert und auch gezielt von der Politik als Instrument im Sport eingesetzt. Mit dieser "Resowjetisierung des Sports" versucht Putin und der Kreml seine strategischen politischen Ziele in Russland und auch außerhalb durchzusetzen. In der Ukraine gibt es dagegen keinen starken Staat. Dort sind die Politiker nur Erfüllungsgehilfen der Oligarchen, die den gesamten Staat für ihre Privatangelegenheiten missbrauchen. So auch im Fußball. Ein ukrainischer Kollege, der Chefredakteur des ukrainischen Fußballmagazins "Futbol" Artem Frankow, hat das einmal passenderweise so formuliert: "Das, was es in der Ukraine zu wenig an Staat gibt, gibt es in Russland zuviel." Will heißen: In Russland hat Putin die Oligarchen im Griff. Sie machen, was er will. In der Ukraine machen die Politiker, was die Oligarchen wollen.
Und zum Abschluss natürlich die wichtigsten Fragen an den osteuropäischen Fußballkenner: Wie weit kommen die beiden Gastgeber dieser EM?
(lacht) Naja. Ich bin von der ukrainischen "Sbornaja" sehr enttäuscht. Seitdem sie bei der Fußball-WM in Deutschland 2006 zu den Überraschungsteams gehörte, hat sich die Nationalelf kaum weiterentwickelt. Durch die EM-Gastgeberrolle musste man keine Qualifikation spielen. Es fehlte der Druck im Team. Nach einer Niederlage gegen Schweden hat sich meiner Meinung nach die EM für die Ukraine nach der Vorrunde bereits erledigt.
Und Polen?
Polen könnte eine der Überraschungen sein bei dieser EM. Heimturnier - getragen von der Euphorie, ist das Viertelfinale auf alle Fälle drin. Das Potenzial ist da, auch dank des Dortmunder Trios Lewandowski, Blasczykowski und Piszczek. Die kommen kraftstrotzend zur "Reprezentacja" und wollen dort weitermachen, wo sie nach der schönen Meistersaison aufgehört haben.
Sie sind Dortmund-Fan, nehme ich an?
(lacht) Absolut!
Wie weit kommt Deutschland?
Ins Endspiel.
Und wer wird Europameister?
(lacht) Deutschland!
Mit Olaf Sundermeyer sprach Thomas Badtke
Quelle: ntv.de