Per Eskalation ins EM-Finale Englands Nervensägen erschüttern das Westfalenstadion

England eskaliert, England träumt: Nach 58 Jahren soll am Sonntag die Sehnsucht nach einem großen internationalen Titel im EM-Finale gegen Spanien gestillt werden. Und die Three Lions gehen mit den größtmöglichen Emotionen in dieses Duell.

Über Gareth Southgate erzählen sie sich in England gerne diesen Witz: Sobald der Akku seines Smartphones in den kritischen Bereich von 99 Prozent Ladung falle, schalte der Teammanager der Fußball-Nationalmannschaft direkt in den Energiesparmodus. Nicht wenige Menschen auf der Insel adaptieren diese überlieferte Panik vor dem Kommunikations-Blackout auf Southgates Plan für die Three Lions. Mit streng dosierter Kraft lässt der 53-Jährige seine Spieler agieren. Das ist schrecklich anzuschauen. Aber oft erfolgreich. Am Mittwochabend zieht England ins Halbfinale der Fußball-EM ein. Und alles ist anders. Der Energiesparminister gibt den Gönnjamin.

Das England, das sich noch die Augen reiben konnte, rieb sich die Augen. Was war geschehen? Mit Southgate, mit den Three Lions. Mit 2:1 (1:1) waren die Niederlande in Dortmund besiegt worden. Aber nicht schnöde im Modus Dienstnachvorschrift, sondern bisweilen enthemmt, mit dem Maximum an Eskalation. In der 90. Minute bekam Joker Ollie Watkins den Ball im Strafraum perfekt zugespielt. Mit dem Rücken zum Tor nahm der Stürmer ihn an, drehte sich und hämmerte den Ball rein. England führte, die Ränge bebten. Ein Wahnsinn, der sich über das Westfalenstadion legte, das mit dem bebenden Wahnsinn bestens vertraut ist. Ein absurder Kontrollverlust, dieser milliardenschweren Beamtentruppe. Nach 58 Jahren voller Schmerz und so großer Tragödien nach dem WM-Titel von 1966 ist die Linderung plötzlich so nah. Auch für den dauerbefeuerten Trainer.

Southgate wird emotional

"Wir alle wollen geliebt werden, oder?", sagte Southgate nach emotionalen Momenten vor der Fankurve. Sein Team habe den Menschen in der Heimat "einen der besten Abende der letzten 50 Jahre beschert. Ich hoffe, sie gönnen sich ein paar Bier". Bringt dieser Erfolg also auch etwas Genugtuung? "Wenn man etwas für sein Land tut und ein stolzer Engländer ist, und wenn man das dann nicht zurückbekommt und nur Kritik einstecken muss, ist das hart", gab Southgate zu. Nun sei er aber "unheimlich stolz darauf", dass er England ins erste große Finale außerhalb des eigenen Landes geführt habe.

Niederlande - England 1:2 (1:1)

Tore: 1:0 Simons (7.), 1:1 Kane (18., Foulelfmeter nach Videobeweis), 1:2 Watkins (90.)
Niederlande: Verbruggen - Dumfries (90. Zirkzee), de Vrij, van Dijk, Aké - Schouten, Reijnders – Malen (46. Weghorst), Simons (90. Brobbey), Gakpo - Depay (35. Veerman). - Trainer: Koeman
England: Pickford - Walker, Stones, Guehi - Saka (90. Konsa), Mainoo (90. Gallagher), Rice, Trippier (46. Shaw) - Bellingham, Foden (80. Palmer) - Kane (81. Watkins). - Trainer: Southgate
Gelbe Karten: Dumfries, van Dijk, Simons - Bellingham, Saka, Trippier
Zuschauer: 62.000 (ausverkauft) in Dortmund

Watkins rannte nach seinem Tor einfach weiter. Und es war egal, wohin er gerannt wäre. Das Glück der Erlösung war plötzlich überall. Er fand es schließlich in den Armen von Harry Kane, der Kapitän hatte für den Stürmer Platz gemacht. Wieder einmal ging beim Star des FC Bayern wenig zusammen, auch wenn er leicht formverbessert agierte. Aber für den so sehr herbeigesehnten ersten Titel in seiner Karriere ist alles egal. Der ausgewechselte Kane hatte an diesem Abend wenig stattgefunden. Alles an seinem Spiel wirkt in diesen Tagen behäbig, nicht kraftvoll, nicht so eiskalt wie sonst. Immerhin hatte er seine Engländer in das Spiel zurückgeholt. Nach 18 Minuten glich er souverän per Elfmeter aus. Er selbst war von Denzel Dumfries gefoult worden, nach VAR-Intervention entschied sich Schiedsrichter Felix Zwayer um. England jubelte, die Party der Niederländer bekam einen dicken Dämpfer. Die Dinge waren wieder in der Reihe. Bereits nach sieben Minuten hatte Xavi Simmons spektakulär für die Elftal getroffen, per Donnerschlag aus der Distanz.

"Wir haben Geschichte geschrieben. Ich bin so stolz auf alle Spieler und Mitarbeiter", sagte Kapitän Kane. "Es ist ein so schwieriges Turnier für uns gewesen. Es war so hart, in dieses Finale zu kommen. Aber wir sind bereit!"

Sie schreien und hören einfach nicht mehr auf

Kane fing Watkins ein. Und den Rest der Mannschaft, schließlich war die Nachspielzeit noch zu gehen. Und wie gut die sich nutzen lässt, hatten die Three Lions gegen die Slowakei selbst vorgemacht. Also alle Mann wieder in die Formation und das Dingen nach Hause spielen. Football is coming home! Kane coachte, Bellingham holte einen Freistoß raus und auf den Rängen bekam niemand in Weiß noch etwas mit. Bereits als sich die Türkei und Georgien in der Vorrunde den spektakulärsten Schlagabtausch dieses EM-Turniers um die Ohren pfeffern, erlebte Dortmund eine Fan-Eskalation in selten erreichten Dimensionen. Ganz nah ran an diesen gigantischen Lärmpegel kamen nun die Engländer. Die Nordtribüne, der Teil des Stadions, der am wenigsten bebend erprobt ist (dort stehen und sitzen normalerweise die Gäste-Fans), war ein Meer aus weißbäuchigen Party-Animals. Don't take me home, schrien sie. Und hörten einfach nicht mehr auf.

"Es gab viel Kritik, aber wir stehen im Finale, und das ist alles, was zählt", sagte der völlig aufgewühlte Watkins: "Wir haben diesen Comeback-Faktor. Wenn wir in Rückstand geraten, scheint uns das einen Schub zu geben." Ihm, dem Joker, ganz besonders: "Ich schwöre beim Leben meiner Kinder: Ich habe zu Cole Palmer gesagt: Wir kommen rein, ich schieße das Tor und du spielst den Pass", sagte Watkins. "Das ist ein unglaubliches Gefühl."

Torwart Jordan Pickford, der nach dem Siegtreffer durch den eigenen Strafraum gerutscht war, als wäre er auf einem unbeherrschbaren Trip der Gefühle, fiel erneut auf den Rasen, als das Spiel noch gar nicht abgepfiffen war. Die Engländer rauschten durch die letzten Minuten ohne zu wissen, wie ihnen hier geschah. Nur General Bellingham behielt den Überblick, bis Zwayer abpfiff. Deren brisante Vorgeschichte war an diesem Abend bestenfalls eine Randnotiz. Am Ende sowieso. Die Stadionregie spielte "Sweet Caroline" ein, Watkins tanzte ein Solo vor der "Nord", seine Mitspieler gaben die Background-Group. Und aus Southgate platzte es heraus. Der Emotionstyp "seelenruhiger Fjord am lauen Sommerabend" wurde zum brodelnden Vulkan. Die Engländer, die sich noch die Augen reiben konnten, rieben sich die Augen. Die anderen sangen einfach weiter. Don't take me home! I just don't wanna go to work! I wanna stay here and drink all your beer! Sie sangen und sangen. Auch eine halbe Stunde nach Spielende noch. Die Gelbe Wand, die dieses Mal Orange war, hatte sich bereits geleert.

Was hat der Trainer in den vergangenen Wochen, Monaten, Jahren alles erdulden müssen. Sobald ein Spiel beendet war, ergossen sich Kübel voller Kritik über ihn. Vergleichbar mit den mächtigen Westfalen-Fällen, die auch an diesem Mittwochabend wieder vom Stadiondach rauschten und einen englischen Fan zum gefeierten Diver zwischen den Sitzreihen machten. Southgate flog der Ansatz des unter Artenschutz gestellten Spektakels gnadenlos um die Ohren. Manchmal wurden die Debatten so vogelwild, dass am Ende das Resultat hängenblieb, dass diese Mannschaft doch lieber noch mit fliegenden Fahnen scheitern solle, als sich zum Titel zu langweilen. Ein aktueller Auswuchs: Ehemalige englische Nationalspieler nannten den Elfmeter gegen Kane einen Witz. So, als würden sie Southgate, ihrem alten Weggefährten, der 1996 im Halbfinale der Heim-EM gegen Deutschland zum tragischen Helden geworden war, die Titel-Erlösung nicht gönnen. Unter gar keinen Umständen.

England "is still on the pitch"

So weit ist es noch nicht. Am Sonntag in Berlin steht Spanien den Engländern noch im Weg. Die Mannschaft, die in diesem Turnier mit Wunderkind Lamine Yamal und Flügelsensation Nico Williams den Kontinent verzaubert. Mehr Gegensätze gehen nicht. Englands Fußball hat in diesem Turnier so viele Menschen genervt, von Experten bis zu Fans, dass sich kaum jemand Neutrales wünschte, dass die Three Lions nun in Berlin brüllen dürfen. Der eigene Fußball war in etwa so schrecklich wie der eigene Blick auf Gelsenkirchen. Wobei tatsächlich die Frage ist, ob Gelsenkirchen die feine englische Seele gestresst hat, oder ob nicht der eigene Fußball die Stadt mit seiner sündhaft teuren Grausamkeit noch mehr penetriert hatte. Geschenkt. Gelsenkirchen hat sich mit viele Liebe von der EM verabschiedet und England "is still on the pitch", wie die Fans in der Dortmunder Innenstadt sangen.

Dort kam es beim Public Viewing zu Auseinandersetzungen. Schon am Nachmittag hatte es eine Schlägerei in einer Kneipe gegeben. Ansonsten aber blieb es ruhig, Pardon, laut und friedlich. Die Niederländer zogen als schier endloser Lindwurm Richtung Stadion, sprangen von links nach rechts und sangen Lieder, über deren Sinn nicht viel zu berichten ist. Die Engländer, gefühlt klar in der Unterzahl, hielten dagegen. Und sie bekam dieses Mal Futter, um ihre Helden anzutreiben. Von Beginn an war der Löwe nicht an der Kette. Er riss sich mit dem Anpfiff los und blieb 45 Minuten lang ein streunendes Raubtier auf Beutezug. Angriffslustig, clever, zermürbend. Zwar gehörten die ersten Minuten den Niederländern, samt Tor, dann aber herrschte der Löwe. Kane biss zu (18.), Phil Foden beinahe (23.). Doch dessen feine Fummelei im Strafraum wurde auf der Torlinie gerade noch so gestoppt. Die Niederländer köpften mit Dumfries an die Latte (30.). Foden zirkelte den Ball aus großer Distanz elegant an den Außenpfosten (33.). Das Spiel war hinreißend, mitreißend, robust, rasend - es war herrlich.

Mehr zum Thema

Southgates Systemumstellung auf eine Dreierkette zahlte sich aus, weil Superstar Foden im nun praktizierten 3-4-2-1 in die geliebte Spielfeldmitte rücken und sich so freier entfalten kann. Und weil die ohnehin schon schwer zu überwindende Defensive um die "Holding Six" Declan Rice und die Manchester-City-Riesen John Stones und Kyle Walker noch mehr Stabilität bekam.

Das Tempo verlor sich nach dem Seitenwechsel. Die Niederländer bekamen den verzweifelt nach großen Momenten ringenden Bellingham und Foden besser in den Griff. Die englische Schaltzentrale verlor an Macht. Declan Rice rannte alle möglichen Löcher zu. Beide wirkten plötzlich erschrocken von dem Schlagabtausch der ersten 45 Minuten. England suchte Kontrolle und Tiefe, die Niederländer das Tempo. Wenn sie das fanden, wurde es gefährlich. Oder halt nach Standards. Pickford wischte einen Schuss von Virgil van Dijk gerade noch so von der Linie, Kyle Walker grätscht Cody Gakpo einen Ball in höchstem Tempo und in höchster Not vom Fuß. Die Niederlande waren dem Siegtreffer plötzlich näher. Zweimal passten sie jedoch nicht auf. Walker passte von rechts ins Zentrum und Bukayo Saka traf zum vermeintlichen 2:1 für England - das Team von Bondscoach Ronald Koeman hatte Glück, dass Walker im Abseits stand. Doch dann kam Watkins und der Wahnsinn legte sich über das Westfalenstadion. Nach 58 Jahren voller Schmerz ist die Linderung so nah.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen