Wie Handballer, die nicht werfen England lacht sich schlapp und quält diese EM weiter

England spielt wieder mit dem Feuer. Wie schon im Achtelfinale dieser Fußball-EM steht man kurz vor dem Aus. Aber diese Mannschaft, die so seltsamen Fußball spielt, reißt sich kurz vor dem Abgrund immer wieder zusammen. Sogar im Elfmeterschießen.

Die englischen Fußball-Fans zeigen bei dieser Europameisterschaft eine ganz besondere Fähigkeit. Sie können sich besonders schnell versöhnen. Zunächst gelang das mit der Stadt Gelsenkirchen. Aus dem "Drecksloch" mit dem fürchterlichen Nahverkehr wurde die Partyzone mit dem lecker Pils. Dann folgte an diesem Samstagabend in Düsseldorf die Wiedereingliederung von Nationaltrainer Gareth Southgate in die rot-weiße Familie. Den hatten zuvor sehr viele wütende Fans verantwortlich dafür gemacht, dass das englische Starensemble wie ein Auto auf drei Reifen durch dieses Turnier eiert. Dabei könnte es, so die gängige Meinung beim Anhang der Three Lions, doch viel hochtouriger, wie ein Rolls-Royce, durch die Spiele rasen.

Als Trent Alexander-Arnold den letzten Elfmeter für England verwertet hatte, als die leidenschaftlich spielende und kämpfende Schweiz im Duell vom Punkt besiegt worden war, brach eine gigantische Party los. Southgate sank auf die Knie, während seine Spieler bereits auf dem Weg zu Jordan Pickford waren. Der Torwart hatte einen Elfmeter gehalten, den von Manuel Akanji. Das reichte, um an diesem Abend den Unterschied zu machen. Alle Engländer trafen und das mit einer bemerkenswerten Souveränität. Etwa Bukayo Saka, der vor drei Jahren im EM-Finale gegen Italien noch ein tragischer Held war und danach einen unerträglichen, rassistischen Hass ertragen musste. Als Southgate wieder stand, rannte er ebenfalls zum Anhang. Und tanzte mit. Er TANZTE!

England - Schweiz 1:1 (1:1/0:0) n.V., 5:3 i.E.

Tore: 0:1 Embolo (75.), 1:1 Saka (80.)
Elfmeterschießen: 1:0 Palmer, Pickford hält gegen Akanji, 2:0 Bellingham, 2:1 Schär, 3:1 Saka, 3:2 Shaqiri, 4:2 Toney, 4:3 Amdouni, 5:3 Alexander-Arnold
England: Pickford - Walker, Stones, Konsa (79. Palmer), Trippier (78. Eze) - Mainoo (78. Shaw), Rice - Saka, Bellingham, Foden (115. Alexander-Arnold) - Kane (110. Toney); Trainer: Southgate
Schweiz: Sommer - Schär, Akanji, Rodríguez - Rieder (64. Zuber), Freuler (118. Sierro), Xhaka, Aebischer (118. Amdouni) - Ndoye (98. Zakaria), Embolo (109. Shaqiri), Vargas (64. Widmer); Trainer: Yakin
Schiedsrichter: Daniele Orsato (Italien)
Gelbe Karten: Kane - Schär, Widmer (3)
Zuschauer: 47.000 (ausverkauft) in Düsseldorf

Vor ein paar Tagen war das noch undenkbar gewesen. In Gelsenkirchen, dem Ort, von dem England einfach nicht mehr loskommt, war er gnadenlos ausgepfiffen worden. Bei der Mannschaftsaufstellung. Kurz vor dem Anpfiff, als er in die Kurve grüßte. Er ist ein Gentleman, der sich nicht aus der Ruhe bringen lässt. Durch die Vorrunde gerumpelt? Egal. Gegen die Slowakei die Nachspielzeit maximal strapaziert, um erst noch den Ausgleich und später den Siegtreffer zu erzielen? Egal! Erfolg macht sexy, auch wenn es der Fußball nicht ist. Und mit einem besonderen Verständnis von sexy kennen sich die Engländer ohnehin aus. In ihren Städten. Auf den Tribünen, wenn der grenzenlose Jubel nicht immer nur ästhetischen Premium-Content offenbart. Egal! Southgate TANZTE!

"Doch diese Elf ist anders"

"Manchmal", sagte er, müsse "man seinen Job auch genießen". Wenn nicht hier und jetzt, wäre es ja wirklich Zeitverschwendung. England steht im Halbfinale. Vor dem Turnier wäre das ja keine Überraschung gewesen. Doch nach den Tagen zwischen Gelsenkirchen und Düsseldorf, zwischen tristem Ruhrpott-Idyll und dem Glanz der Landeshauptstadt, verzweifeln viele Menschen daran, dieser Mannschaft zuschauen zu müssen. Was beschreibt den Fußball der Three Lions am besten? Pragmatismus auf dem niederschwelligsten Niveau? Die perfekte Einteilung der Kräfte zum Leidwesen der Zusehenden? Eine zermürbende Qual für alle Seiten? Immerhin: Die ersten 45 Minuten waren die beste Leistung im Turnier. Von gut waren sie aber noch weit entfernt. "Wenn es nicht gefällt, tut es mir leid", sagte der Trainer nach seinem 100. Spiel im Amt mit einem verkniffenen Sorry: "Das sind keine normalen Fußballspiele, sondern nationale Ereignisse mit enormem Druck."

Es gebe eine Idealvorstellung, die man habe, sagte Southgate als Rechtfertigung für die erneute Kritik an der spielerischen Leistung. Mit England sei es oft so gewesen: 25 Minuten gut gespielt, geführt und in den frühen K.-o.-Runden ausgeschieden. "Doch diese Elf ist anders. Sie hält die Positionen länger. Wir können nicht immer glänzen. Die Spieler zeigen unglaublichen Charakter und Widerstandsfähigkeit." Wie Frankreich, wie Spanien. Auch die mit offensivem Talent reichlich gesegnete Équipe Tricolore lässt das spielerische Element außer Acht und verteidigt mit einer bemerkenswerten Leidenschaft. Und die leichtfüßigen Spanier entdeckten gegen das DFB-Team das robuste Handwerk für sich. Tiki-Taka war bisweilen ein Treten und Wüten. "Wir wollen noch ein großes Ding liefern. Außerhalb Englands waren wir noch nie im Finale, wir haben noch nie die Euro gewonnen. Diese zwei Geschichtsstücke wollen wir noch schaffen", hielt Southgate fest. Er ist auf einem guten Weg.

Die genialen Momente werden streng dosiert

Und dennoch fallen die Urteile zu den Auftritten sehr unterschiedlich aus. Nur in eine Richtung mag das Pendel nicht schlagen: Begeisterung! Mitgerissen werden die Fans nur in homöopathischen Dosen. Wenn etwa ein Jude Bellingham die Zidane-Drehung vollzieht und den nächsten Gegenspieler mit einem kleinen Lupfer blöd dastehen lässt. Oder wenn Bukayo Saka einen gechippten Ball aus der Luft holt, als wäre es eine fürchterliche Banalität. Das Problem: Diese Aktionen gibt es (viel) zu selten. Was ist mit Superstar Phil Foden? Wo ist seine Leichtigkeit? Was ist mit Declan Rice? Wo ist sein Taktstock? Was ist mit Harry Kane? Und warum spielen Top-Talente wie Cole Palmer und Eberechi Eze so wenig? England absolviert im besten Fall Dienst nach Vorschrift. "Wir haben gegen drei Teams gespielt, die auf eine Fünferkette gesetzt haben und sehr gut organisiert waren", sagte Southgate. Dazu seien die Plätze in Deutschland "ein bisschen holprig, da braucht man den Extrakontakt, und dann ist der freie Raum wieder weg."

Aber mit diesem Dienst streng nach Vorschrift ist England verdammt erfolgreich. Zum dritten Mal beim vierten Großturnier steht die Mannschaft jetzt im Halbfinale. Am kommenden Mittwoch (21 Uhr in Dortmund) sind die Niederlande der nächste Gegner. Die hatten die Türkei per Doppelschlag aus der EM gekegelt und damit der Inszenierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Mesut Özil einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die Engländer können derweil ihr Glück kaum noch einfangen. Erst meinte es der Turnierbaum gnädig mit ihnen, schickte gleich eine große Zahl von Favoriten auf die andere Seite: Deutschland, Spanien, Frankreich, Belgien und Portugal räumen sich in einem knallharten Fußball-Darwinismus selbst aus dem Weg, während England jetzt in Dortmund seine vermutlich schwierigste Aufgabe im Turnier bekommt. Aber gut, man nimmt die Dinge auch auf der Insel so, wie sie kommen. Und wenn sie gut sind, umso besser. Noch emotionaler lässt sich die Reise feiern, wenn das Drama die eigene Seele streichelt. England tanzt am Abgrund. Es ist ein stocksteifer Tanz, der in den Momenten vor dem Absturz plötzlich zu einem Ecstatic Dance wird. Schnell, kunstvoll, rauschhaft.

Was ist nur mit Harry Kane los?

Nach der 75. Minute waren die Three Lions aus ihrem Schleichgang gerissen worden. Die Schweiz hatte die Führung erzielt. Eine doppelt abgefälschte Hereingabe drückte Breel Embolo ins Tor. Die Kuhglocken-Party kannte keine Grenzen mehr. Doch der Löwe schüttelte sich. Und plötzlich wurden Dinge möglich, die vorher unmöglich schienen. England rannte mit sieben, acht Spielern in vollem Tempo nach vorne (!). England passte schnell hin und her. Und England schoss aufs Tor! In der 80. Minute zum ersten Mal, 1:1. Verrückt. Bukayo Saka war von außen nach innen gezogen, hatte die Lücke gesehen, abgezogen, Innenpfosten, drin. Ein typisches Sala-Dingen. Die Kuhglocken verstimmten, Football is coming home! Prinz William strahlte vor Entzückung!

Es folgen die 15 besten Minuten in diesem Spiel. England drückt, die Schweiz drückt dagegen. Eberechi Eze scheitert aus kurzer Distanz (88.), Embolo nimmt seinem Mitspieler die Dan Ndoye die große Chance. Wäre der Torschütze nicht zum Ball gegangen, hätte Ndoye ihn aus kurzer Distanz verwerten können.

Huch, wo kam diese Eskalation der Ereignisse denn her? Bis zum ersten Tor hatten beide Teams feinstes Schach gespielt. England hatte sich taktisch etwas einfallen lassen, hatte auf Dreierkette mit hohen Außenverteidigern umgestellt. Sie hatten der Schweiz den Platz für ihr Tempospiel genommen. Nach vorne war's dagegen weiter die gewohnt ideenlose Suche nach dem genialen Moment. Wie Handballspieler formierten sie sich um den Schweizer Strafraum. Das Problem: Sie hatten weder einen Mann, der aus dem Rückraum feuern konnte, noch hatten sie einen Kreisläufer. Harry Kane hätte das sein können. Aber der Bayern-Star war in seiner Rolle quasi nicht präsent. Und wenn doch, agierte er behäbig und umständlich. Bis zur 110. Minute blieb er auf dem Platz, musste dann verletzt runter. Ausgerechnet Kane, der sichere Elfmeterschütze. Längst hatte sich das Stadion darauf eingestellt, dass die Partie auf den ultimativen Showdown zulaufen würde.

Elfmeterschießen! England! Oje!

England hatte zwar noch ein weiteres Mal aufs Tor geschossen, Declan Rice setzt Yann Sommer unter Stress (95.) und die Schweizer ließen es in den letzten drei Minuten noch einmal krachen, unter anderem mit einem Eckball ans Lattenkreuz, aber dieses Duell musste eben bis zum Äußersten gehen. Elfmeterschießen! England! Oje!

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Aber Southgate wollte nicht wieder das Nachsehen haben. Niederlagen im Nerven zerfetzenden Duell hängen ihm wie Pech an den Kleidern. 1996 stürzte er die Nation in Tränen, als er im Halbfinale gegen Deutschland vergab. Und vor drei Jahren verzockte er sich mit der Wahl der jungen Schützen, die er extra eingewechselt hatte. Das Drama für den Coach war vorbestimmt. Aber er hatte alles getan, um seine Jungs vorzubereiten. Pickford bekam eine Trinkflasche zugesteckt, auf der vermerkt war, wo jeder einzelne Schweizer bevorzugt hinschießt. Direkt beim ersten Schützen lagen Analyst und Torwart richtig. Pickford fischte sich den schwachen Versuch von Akanji. Seine Mitspieler waren dagegen eiskalt, einer nach dem anderen haute das Ding rein. Besonders schön die Geschichte von Saka, der danach vor Erleichterung einen kleinen Lachanfall bekam.

Dann kommt Alexander-Arnold, Tor. Party. England lacht sich kaputt, Southgate tanzt. Und die Fans singen sein Lied: "Southgate, you're the one, you still turn me on, football's coming home again."

Quelle: ntv.de

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