Eine große Erkenntnis der EM Ganz Europa zeigt Löw, wie es richtig geht
12.07.2021, 12:03 UhrAußenverteidiger werden im Fußball gerne als die unwichtigsten Spieler auf dem Feld wahrgenommen. Dabei hat die Europameisterschaft bewiesen, dass sie den Unterschied ausmachen können. Bei den Deutschen wurde derweil Potenzial verschenkt.
Taktische Trendsetter sind die großen internationalen Wettbewerbe selten. Zu konservativ verhalten sich die Nationaltrainer angetrieben durch die Furcht, dass jeder gröbere Fehler das Aus bedeuten könnte. Trotzdem sind die Turniere nicht gänzlich frei von spielerischen Besonderheiten. Bei der abgelaufenen Europameisterschaft etwa trat eine Spielergruppe in den Vordergrund, die gerne mal als die unwichtigste auf dem ganzen Feld angesehen wird: nämlich die Außenverteidiger.
Wir alle erinnern uns noch an die EM-Vorbereitung der deutschen Nationalmannschaft. Als bekannt wurde, dass sich Bundestrainer Joachim Löw dazu entschieden hatte, in den anstehenden Wochen auf eine Dreierkette ganz hinten zu setzen, kam direkt die Frage auf, wer denn die Außenbahnen besetzen würde. Auf links war Senkrechtstarter Robin Gosens schnell gesetzt; auf rechts sah es zunächst nach Lukas Klostermann aus, bevor Joshua Kimmich die Position übernahm (übernehmen musste).
Ein Raunen ging durch Fußball-Deutschland. Der Mittelfeldanker von Bayern München werde von Löw auf dem rechten Flügel verschenkt, lautete das Urteil. Kimmich selbst sagte im Verlauf des Turniers: "Es ist oft so, dass das Spiel vermeintlich abseits von einem selbst stattfindet und man vermeintlich auftragslos ist - auch wenn das nicht stimmt."
Eine Frage der Ausrichtung
Andere Nationen waren in dieser Hinsicht dem DFB-Team einen Schritt voraus. Die erfolgreichsten Mannschaften bei der EM verfügten allesamt über starke Außenverteidiger, die noch dazu offensiv dominant auftreten durften und konnten: England mit Luke Shaw und Kyle Walker, Italien mit Leonardo Spinazzola, Dänemark mit Joakim Maehle, Spanien mit Jordi Alba, selbst Tschechien mit Vladimir Coufal oder die Schweiz mit Steven Zuber.
Die Trainer erkannten die Wichtigkeit ihrer Außenverteidiger und ermutigten sie dazu, das Spiel anzutreiben. Während die Spielfeldmitte zumeist dicht war, konnten die Maehles und Spinazzolas nach vorn marschieren und Lücken gekonnt ausnutzen. Es war keine Frage der Qualität der einzelnen Spieler, sondern eine Frage der taktischen Ausrichtung.
Kimmich und Gosens müssen sich nicht vor den oben genannten verstecken. Gosens etwa spielt bei seinem Klub Atalanta eine ebenso wichtige Rolle wie Maehle, der dort auf rechts das Pendant zu dem Deutschen bildet. Die "Sportschau" titelte, Maehle sei für Dänemark der "Held aus dem Nichts". Fußballkenner wussten jedoch um das Talent des 24-Jährigen, zumal Atalanta in den vergangenen sechs Monaten, seitdem Maehle dort spielt, regelmäßig atemberaubenden Fußball gezeigt hat. Aber es war eben auch der Einfluss von Dänemark-Trainer Kasper Hjulmand, der seinen Außenverteidiger in den Wochen der EM glänzen ließ.
Timing oder Dampfwalze
Die von Kimmich angesprochene Auftragslosigkeit gab es in anderen Mannschaften auf jeden Fall nicht. Dort wurden die Außenverteidiger schnell zu Stars. Dabei kann ihre Rolle auch eine undankbare sein. Denn gerade in Spielsystemen mit Dreierabwehrreihen besetzen die Außenverteidiger - in diesem Fall im Englischen auch "Wing Backs" und einst im deutschen Sprachraum "Flügelläufer" genannt - die Außenbahnen allein und müssen unglaubliche viele Meter machen. Sie marschieren nach vorn und sollten im besten Fall beim Gegenangriff sofort wieder hinten absichern. Das kann schlauchen, besonders wenn der eigene Anteil am Spiel eher gering ausfällt.
Im Umkehrschluss kann es aber auch außerordentlich belohnend sein, Freiräume außen zu finden und diese gewinnbringend zu nutzen. Bei den beiden Finalisten Italien und England waren die Außenverteidiger sehr geschickt darin, Freiräume zu finden und mit perfektem Timing nach vorn zu stoßen. Insbesondere der englische Linksverteidiger Luke Shaw tauchte immer dann ganz vorn auf, wenn der Fokus der gegnerischen Abwehr woanders lag. Die italienischen Außenverteidiger hingegen verfolgten das Prinzip Dampfwalze, da sie einfach unablässig nach vorn marschierten in der Gewissheit, dass sich schon irgendwann eine Lücke auftun würde. Spinazzola, der sich im Viertelfinale gegen Belgien einen Achillessehnenriss zuzog, verkörperte diese Spielweise mustergültig.
Southgate mit genialer Idee
Der angesprochene Shaw spielte auch im Finale am Sonntag eine Hauptrolle. England-Trainer Gareth Southgate hatte sich für das Duell mit Italien eine taktische Umstellung überlegt. Er wechselte vom 4-2-3-1 auf ein 3-4-3 und beorderte sowohl Shaw als auch den rechten "Wing Back" Kieran Trippier weit nach vorn, um Italien sehr früh unter Druck zu setzen. Die Azzurri wussten darauf zunächst keine Antwort und offenbarten strukturelle Schwächen in der Deckung. Shaw und Trippier standen bei englischen Angriffen mehrfach auf dem jeweils ballfernen Flügel frei und konnten Verlagerungspässe annehmen oder im Fall von Shaw sogar als Torschütze glänzen.
Das Endspiel kippte zugunsten der Italiener, als die beiden englischen Außen weniger forsch nach vorn gingen und im Gegenzug etwa Italiens Linksverteidiger Emerson, der Ersatzmann des verletzten Spinazzola, mehr und mehr Vorstöße unternahm. Also auch dieses letzte Spiel des Turniers wurde erheblich geprägt durch die Außenverteidiger und deren offensiven Einfluss auf das Geschehen.
Wenngleich diese Europameisterschaft - wie auch schon viele internationale Wettbewerbe zuvor - keine taktischen Innovationen hervorbrachte, so trägt sie vielleicht wenigstens etwas dazu bei, die Außenverteidiger in den Augen der breiten Mehrheit aus der Ecke der Bedeutungslosigkeit zu holen. Außenverteidiger sind genauso wichtig wie alle anderen auf dem Feld und in der richtigen Konstellation können sie sogar den Unterschied ausmachen. Deutschland musste das am eigenen Leib erfahren.
Quelle: ntv.de