Spaniens Nico Williams spielt Italien beim EM-Duell Knoten in die Beine, der Linksaußen wird als "Spieler des Spiels" ausgezeichnet. Das heizt das Interesse am 21-Jährigen weiter an. Der FC Bayern gehört zu den Interessenten des Mannes, der eine ganz besondere Familiengeschichte hat.
Nico Williams schreit frustriert auf, schlägt dann die Hände auf den Boden. In der 71. Minute im Spiel gegen Italien wäre es fast so weit gewesen, beinahe hätte der 21-jährige Spanier sein erstes Turnier-Tor für die Nationalmannschaft geschossen. Sein Schuss von der linken Strafraumgrenze kracht sehenswert ans rechte Lattenkreuz. Zentimeter fehlen, dann hätte Williams seinem Top-Spiel noch den Höhepunkt hinzugefügt.
Auch ohne eigenes Tor wird Williams als "Spieler des Spiels" ausgezeichnet. Dribblings, schnelle Antritte, gefährliche Flanken, viel Übersicht - der Linksaußen spielt seinen Gegenspieler Giovanni di Lorenzo schwindelig. "Von solchen Spielen habe ich immer geträumt. Es war meine bislang beste Leistung mit Spanien", sagt er nach dem Sieg, mit dem Spanien das Achtelfinale bucht und bereits als Sieger der Gruppe B feststeht. "Meine Mitspieler haben mir applaudiert in der Kabine, darüber habe ich mich sehr gefreut."
Denn sehr zum Leidwesen der Italiener bereitet Williams in der 55. Minute auch den 1:0-Siegtreffer vor. Er setzt sich auf dem Flügel durch, flankt den Ball in den Strafraum. Álvaro Morata ist noch mit den Haarspitzen dran, Italiens Torhüter Gianluigi Donnarumma kommt nur mit den Fingern an den Ball, lenkt diesen aber entscheidend ans Knie seines Verteidigers Riccardo Calafiori. Vom Bein des 22-Jährigen prallt der Ball unhaltbar ins Tor.
"Wollen natürlich Europameister werden"
"Ich bin sehr stolz. Es war ein super Spiel. Nach und nach haben wir uns gelöst. Wir wollten etwas Großes machen, das ist uns gelungen. Wir haben unsere Chance genutzt und gewonnen", so Williams. Mit den Auftritten gegen Kroatien (3:0) zum Auftakt und jetzt gegen den Titelverteidiger Italien ist Spanien gemeinsam mit Deutschland das bislang überzeugendste Team dieser EM und Titelfavorit. "Wir wollen natürlich Europameister werden", gibt Williams das Ziel aus.
Bis dahin ist noch viel Zeit, fünf Spiele sind bis zum möglichen Finale noch zu absolvieren. Doch Spanien glänzt mit Leistung, während andere Teams - allen voran England - bislang enttäuschen. Dass das DFB-Team vermutlich schon im Viertelfinale auf die Spanier trifft, ist eine gewaltige Aufgabe.
Denn allen voran mit Williams und seinem Gegenüber Lamine Yamal, der mit 16 Jahren und 338 Tagen gegen Kroatien zum jüngsten EM-Spieler aller Zeiten wurde, auf dem rechten Flügel stehen zwei schnelle, technisch versierte und mutige Youngster in der Offensive der Spanier. Sie harmonieren im Verbund mit ihren älteren Teamkollegen wie Morata oder Dani Carvajal. Die Flügelzange wird von ihren Mitspielern möglichst schnell mit Pässen gefüttert, sie bringen den Gegner gehörig durcheinander. Siehe di Lorenzo, dem Williams regelrecht Knoten in die Beine spielt.
Bewegende Geschichte der Williams-Brüder
Nico Williams kennt das Zusammenspiel mit seinem Flügelpartner aus dem Verein. Bei Athletic Bilbao ist es sein acht Jahre älterer Bruder Iñaki, der auf Rechtsaußen mit ihm gemeinsam wirbelt. Die Williams-Brüder sind mitverantwortlich, dass sich der Bilbao in der abgelaufenen Saison als Fünfter der spanischen Liga für die Europa League qualifiziert hat und zudem erstmals seit 40 Jahren die Copa del Rey gewann.
Die Geschichte der Brüder ist eine, in der die Luxuswelt der Fußballer und der Traum vom Spielen in der Nationalmannschaft ganz weit weg ist. Anfang der 90er-Jahre flüchten ihre Eltern Maria und Felix aus Ghanas Hauptstadt Accra auch zu Fuß - barfuß gar - durch die Sahara bis zur spanischen Exklave Melilla. Als sie ankommen, ist Maria im siebten Monat schwanger. Das Paar gibt an, aus Liberia zu stammen, so werden sie als Kriegsflüchtlinge anerkannt und nach Bilbao geschickt. Dort nimmt ein Priester namens Iñaki Mardones von der Caritas sie in Empfang. Er kümmert sich rührend um die junge Familie, so sehr, dass der erste Sohn nach ihm benannt wird.
Trotz der Hilfe ist das Leben hart, die Arbeit knapp. Vater Felix geht nach Großbritannien, fern der Familie, die ohne ihn klarkommen muss. Nico, der 2002 geboren wird, wächst viel ohne seinen Vater auf. So richtig bessert sich die Situation erst, als Iñaki es zum Fußballprofi schafft. "Es war nicht nur das Debüt selbst ... Es bedeutete, meinen Vater aus London zurückzubringen, meine Familie nach zehn Jahren wieder zu vereinen", sagt er mal rückblickend.
Zwei Brüder, zwei verschiedene Nationalteams
Iñaki Williams spielt sich bei dem Team mit den besonderen Regeln fest. Bilbao hat sich auferlegt, nur Spieler zu beschäftigen, die im Baskenland geboren wurden oder ihre Wurzeln dort haben. Das wurde schon so manchem zum Verhängnis - sogar eine deutsche Nationalspielerin muss Beweise vorlegen, dass sie berechtigt ist, für den Klub zu spielen. Iñaki kam tatsächlich erst auf die Welt, als seine Eltern schon in Bilbao angekommen waren. Inzwischen ist er eine Legende bei Athletic. Er ist im Februar 2015 der erste schwarze Spieler, der ein Tor für den Klub schießt. Und von April 2016 bis Januar 2023 verpasst er kein einziges Ligaspiel - absolviert 251 Partien in Serie. Das ist Weltrekord. Erst eine Muskelverletzung stoppt ihn.
Als Nico Williams im April 2021 bei Athletic debütiert, stehen die Brüder erstmals gemeinsam auf dem Platz. Im Nationalteam kommt es allerdings nicht dazu. Zwar durchlaufen beide die U-Teams Spaniens und Iñaki steht 2016 sogar bei einem Testspiel für das A-Team auf dem Feld, doch ein offizielles Spiel für Spanien bestreitet er nicht. Als sich abzeichnet, dass er nicht berücksichtigt werden wird, wechselt er den Verband. Er ist Nationalspieler Ghanas, läuft für das Geburtsland seiner Eltern auf. Brüder, die getrennt sind, das ist gar nicht so selten. Prominente Beispiele sind etwa Jerome und Kevin Prince Boateng, die für Deutschland und Ghana spielten sowie Thiago und Rafinha, die für Spanien und Brasilien aufliefen.
Im September 2022 debütiert Iñaki für das westafrikanische Team - und nur 24 Stunden später spielt Nico erstmals für Spanien. Bei der Weltmeisterschaft 2022 sind beide dabei, treffen aber nicht aufeinander. Ghana übersteht die Vorrunde nicht, Spanien kommt zwar durch die Gruppe mit Deutschland, scheitert aber im Achtelfinale im Elfmeterschießen an Marokko.
FC Bayern beobachtet Williams
In den Nationalfarben getrennt - und auch bald im Verein? Nico Williams steht nach einer sehr guten Saison mit 27 Torbeteiligungen bei 38 Einsätzen auf dem Transfermarkt hoch im Kurs. Schon im Mai sprießen die Transfergerüchte aus dem Boden. Der FC Bayern soll Interesse haben, meldet das spanische Portal Relevo. Damit sind sie nicht die Einzigen. Neben den Münchnern sollen auch der FC Arsenal und weitere Premier-League-Klubs sowie der FC Barcelona und Real Madrid interessiert sein. Zwar hatte er seinen Vertrag erst im Dezember 2023 bis 2027 verlängert, seine Ausstiegsklausel ist laut Transferexperte Fabrizio Romano aber mit lediglich 58 Millionen Euro festgelegt. Für finanzstarke Klubs stellt das keine große Hürde dar - im Gegenteil. Es ist eher nur die Frage, wer am schnellsten zugreift. Nach einem Spiel, nach dem sein Bruder einer der ersten Gratulanten ist: "Es ist sehr wichtig, seine Unterstützung zu haben, den Rückhalt meiner Eltern und der ganzen Williams-Familie."
"Das Interesse ist normal, aber Nico ist sehr glücklich in Bilbao - und wir sind sehr glücklich mit ihm. Wir machen uns keine Sorgen", sagte Athletic-Präsident Jon Uriarte jüngst über seinen Linksaußen. Doch die EM ist eine große Bühne für Williams. Und der FC Bayern soll ihn laut Relevo bei der EM ganz genau im Blick haben. Bayerns Linksaußen Kingsley Coman wird immer wieder von Verletzungen zurückgeworfen, Mathys Tel traute Ex-Trainer Thomas Tuchel noch nicht ganz so viel zu. Winter-Neuzugang Bryan Zaragoza erlebte in München eine enttäuschende Rückrunde. Der neue Trainer Vincent Kompany soll während der EM entscheiden, ob Sportvorstand Max Eberl und Sportdirektor Christoph Freund ein Angebot für Williams bei Athletic Bilbao und dessen Manager einreichen. Spätestens nach dem Spiel gegen Italien dürfte es wenig Gründe dagegen geben.
Quelle: ntv.de