Nach EM-Aus gegen Griechenland Schwierige Zukunft für Russland
17.06.2012, 12:58 Uhr
Au weia! Russlands Stürmer Pawel Pogrebnjak ist bedient.
(Foto: dapd)
Nach dem berauschenden 4:1 gegen Tschechien galt Russland als EM-Mitfavorit. Nach dem unerwarteten K.o. sucht die Sbornaja nicht nur einen Trainer, sondern auch eine neue Spielphilosophie. Selbst Bundestrainer Joachim Löw liegt mit seiner Prognose gehörig daneben.
Andrej Arschawin schlich als Letzter vom Platz. Die gelbe Spielführerbinde hatte er sich längst vom Arm gestreift. Lustlos hielt er den Stofffetzen in der linken Hand. Mit gesenktem Kopf verließ der Spielmacher der russischen Nationalmannschaft in Warschau nach zum letzten Mal bei dieser EM den Rasen.
Links von ihm sammelte ein Betreuer der Sbornaja Leibchen und Getränkeflaschen ein, hinter ihm tanzten die griechischen Kontrahenten vor ihrer Fankurve freudetrunken im Kreis. Die unerwartete Pleite zum Gruppenfinale der Fußball-EM zerstörte jäh die aufgekeimten Titel-Hoffnungen der Russen. "Mir fehlen die Worte", klagte der 31-jährige Arschawin zu nächtlicher Stunde. 2008 hatte er auf dem Weg ins EM-Halbfinale Fußball-Europa noch begeistert.
Auch Bundestrainer Joachim Löw hatte sich in diesem Team geirrt - wie fast alle Experten, die das russische Fußball-Ballett nach dem berauschenden 4:1 zum Auftakt gegen Tschechien in den Kreis der Favoriten emporgehoben hatten. "So stark habe ich die Russen noch nie gesehen. Sie spielen absolut ruhig und cool, plötzlich schalten sie um, plötzlich explodieren sie", hatte Löw vor der Partie noch über den möglichen Viertelfinal- oder Halbfinalgegner gesagt.
Kein Durchkommen gegen Außenseiter
Und dann dieser Auftritt ohne Durchsetzungsvermögen. Gegen einen Außenseiter, der vor 55.614 Zuschauern nach dem Tor durch Rekordnationalspieler Georgios Karagounis (45.+2 Minute) eine Hälfte lang mit zehn Mann verteidigte. Gegen ein Team, das den ersten EM-Sieg seit dem überraschenden Triumph 2004 feierte. Gegen eine Auswahl an durchschnittlichen Profis fiel Russland nichts mehr ein.
"Schwarzer Tag für Russlands Fußball", schrieb die Tageszeitung "Moskowski Komsomolez" zur folgenschweren ersten Pleite nach 16 Spielen ohne Niederlage. "Ruhmloses Ende. Karagounis schockt Russland", war in "Sowjetski Sport" zu lesen. Die Tageszeitung "Sport Express" schrieb: "Dunkler Himmel über Warschau und der Sbornaja. Wieder kein großer Titel für Russlands Fußball."
Wegen des schon vor der EM besiegelten Abschieds von Trainer Dick Advocaat muss der russische Verband nun nicht nur einen neuen Coach suchen. Das Team um die alternden Stars Arschawin, Pawel Pogrebnjak und Roman Pawljutschenko braucht neue Inspiration, eine eigene Spielphilosophie und vor allem Einigkeit im zerstrittenen Verband.
Bernd Schuster im Gespräch
Spätestens im Juli soll der Advocaat-Nachfolger präsentiert werden. Einige Medien im Land des WM-Gastgebers 2018 plädieren nach den Holländern Guus Hiddink und Advocaat für eine russische Lösung, andere bringen den früheren deutschen Nationalspieler Bernd Schuster oder Meistertrainer Luciano Spalletti von Zenit St. Petersburg ins Gespräch. In jedem Fall muss sich die heimische Liga verändern: Weniger ausländische Stars für teures Geld wie Samuel Eto'o, mehr Nachwuchsarbeit und Förderung hoffnungsvoller Talente vom Niveau des dreifachen EURO-Torschützen Alan Dsagojew von ZSKA Moskau.
"Ich kann der Mannschaft keinen Vorwurf machen, sie hat gut gespielt. Insgesamt ist die Bilanz jedoch negativ, weil wir ausgeschieden sind. Aber es ist keine Katastrophe", sagte Verbandspräsident Sergej Fursenko über die erste Turnierüberraschung in der vermeintlich leichtesten Gruppe: Russland und Polen sind raus, Tschechien und Griechenland unerwartet im Viertelfinale.
In Russland wird nun aufarbeitet und aufgeräumt. Advocaat hinterlässt mit seinem Wechsel nach Eindhoven ein schwieriges Erbe. Auf die Frage, wie die Menschen in Russland ihn in Erinnerung behalten sollen, antwortete der 64-Jährige kurz vor Mitternacht gewohnt einsilbig und am Daumennagel knibbelnd: "Es ist mir egal, wie die Leute über mich denken. Wir haben 16 Spiele nicht verloren. Das ist Fußball. Aber Kompliment an die Griechen."
Quelle: ntv.de, Wolfgang Müller und Heinz Büse, dpa