Die Schweiz steht im Viertelfinale dieser Fußball-Europameisterschaft. Eine Sensation: der Sieg gegen Weltmeister Frankreich. Der Held: der Gladbacher Torhüter Yann Sommer. Die tragische Figur: Stürmerstar Kylian Mbappé, der harte Worte über sich selbst findet.
Einen Moment lang traute sich Yann Sommer gar nicht zu jubeln. Während das Stadion von Bukarest um den Torhüter der Schweiz herum frenetisch explodierte, versuchte er seinen Mitspielern die Ekstase zu verbieten. Der 32-Jährige stand mit erhobener Hand und fragendem Blick im Tor, schaute zum Schiedsrichter, er fürchtete offenbar eine Wiederholung seines eben gehaltenen Elfmeters - und dann brach es auch aus ihm heraus. Der Keeper von Borussia Mönchengladbach hat seine Schweizer bei der Fußball-Europameisterschaft ins Viertelfinale gehalten.
Es klingt so leicht, einmal zupacken und das bringt den Erfolg. Es ist so schwer, der Druck so groß. Elfmeterschießen, nach 90 regulären Spielminuten, nach 30 weiteren in der Verlängerung. Dann noch die Nerven, die Konzentration und die Kraft für die Elfmeter. Und das ausgerechnet gegen den amtierenden Weltmeister, gegen Frankreich. Fünf Schüsse pro Team, bei Bedarf mehr.
Es schien, als könne dieser Montagabend noch endlos weitergehen, es war bereits weit nach Mitternacht. Neun Schützen waren bereits von der Mittellinie zum Punkt gelaufen, hatten sich den Ball zurechtgelegt, hatten getroffen. Fünf Schweizer überlisteten Frankreichs Keeper Hugo Lloris, vier Franzosen waren bereits an Sommer vorbeigekommen. Nun also Finale furioso oder weiter, immer weiter? Sommer stand niemand geringeres als Kylian Mbappé gegenüber. Der französische Starstürmer.
Doch ihm war im Heldenepos die Rolle der tragischen Figur zugeteilt. Das Team Frankreich, der amtierende Weltmeister. Raus. Aus im Achtelfinale dieser EM. Weil Sommer sich den Heldenstatus zuteilte, indem er die Schussrichtung von Mbappé erahnte und den Ball vor dem Tor entscheidend ablenkte.
"Rufe nachher mal Robert De Niro an"
Als er das Unglaubliche realisierte, rannte der Keeper mit weit ausgestreckten Armen in die Kurve zu den Fans, seine Teamkollegen direkt hinterher. Sommer hatte große Lust, sein Märchen direkt verfilmen zu lassen. Filmreif war es allemal, was er da gerade geleistet hatte. "Wahnsinn, ich rufe nachher mal Robert De Niro an, ob er Lust hat, mich zu spielen im Biopic." Zum ersten Mal seit 67 Jahren erreicht die Schweiz das Viertelfinale eines großen Turniers. Taumelnde Glückseligkeit nach größtmöglichem Drama.
Auf der anderen Seite: bleierne Leere, Fassungslosigkeit und Schmerz nach größtmöglichem Drama. Und bittere Selbstkritik. "Es tut mir leid für den Elfmeter. Ich wollte der Mannschaft helfen, aber ich habe versagt", schrieb Mbappé bei Instagram. "Die Traurigkeit nach unserem Aus ist riesig, wir konnten unser Ziel nicht erreichen." Der 22-Jährige spürte die Last der ganzen Nation: "So etwas passiert leider in diesem Sport, den ich so sehr liebe." Sein Trainer Didier Deschamps wollte ihm keine Vorwürfe machen, niemand könne ihm böse sein: "Die gesamte Mannschaft steht zusammen. Auch wenn es ein enttäuschender Moment ist, wir halten zusammen."
Nach dem Europameister Portugal ist auch Weltmeister Frankreich aus dem Turnier ausgeschieden. "Ich weiß, dass ihr Fans traurig seid, aber ich würde mich gern bei euch für eure Unterstützung bedanken und dafür, dass ihr immer an uns geglaubt habt", schrieb Mbappé an seine knapp 53 Millionen Follower. Der Elfmeter war nur der schmerzende Höhepunkt eines Spiels, in dem der Stürmer von Paris St. Germain beste Chancen ausließ. Er war zwar auffälligster Spieler, zeigte sein Können, traf aber nicht, legte nur ein Tor auf. Wie im gesamten Turnier, das nicht seines sein sollte. Zwei Abseitstore aus dem Auftaktspiel gegen Deutschland gehen nicht in die Statistik ein.
"Jetzt kennt jeder die Schweiz"
Deschamps Team tat sich schwer gegen die Schweiz, die mit neun Bundesliga-Profis in der Startelf ins Spiel ging. Nach dem 1:0-Sieg gegen Deutschland hatten ein 1:1 gegen Ungarn und ein 2:2 gegen Portugal für den Sieg in der Gruppe F, der "Todesgruppe" gereicht. Das 3:3 nach 90 Minuten also fast naheliegend, wenngleich natürlich klar war, dass so kein Weiterkommen möglich ist.
Antoine Griezmann und Karim Benzema leisteten sich ungewöhnlich viele Fehlpässe, der Rückkehrer ins Nationalteam ließ die Hoffnung der Franzosen allerdings nach der Schweizer Führung durch Hasan Seferovic (15.) wieder aufleben. Nachdem Ricardo Rodriguez mit einem fälligen Foulelfmeter an Lloris gescheitert war (55.), brachte Benzema mit einem Blitz-Doppelpack (57./59.) die Franzosen auf Siegkurs. Als dann auch noch Paul Pogba (75.) auf 3:1 erhöhte, schien alles auf einen Favoritensieg hinauszulaufen.
Bis Seferovic (81.) und Mario Gavranovic (90.) das scheinbar Unmögliche schafften und für die Schweiz zum 3:3 ausglichen. 90 Minuten plus Nachspielzeit rum, Verlängerung. In der keine weiteren Tore fielen. Das unausweichliche Elfmeterschießen, in dem das Sommer-Märchen geschrieben wurde, stand an. Ende bekannt, wenn auch vielleicht noch nicht realisiert. Manche Schweizer werden sich kneifen müssen. Sie sind weiter im Turnier dabei, nun geht es am Freitag gegen Spanien (18 Uhr im ntv.de-Liveticker) um den Einzug ins Halbfinale. Da wird Kapitän Granit Xhaka, der Spieler des Spiels, fehlen, er hatte in der zweiten Halbzeit Gelb gesehen - seine zweite im Turnier. Zwangspause. In einem ist er sich allerdings völlig sicher: "Jetzt kennt jeder die Schweiz."
Quelle: ntv.de