Ohne Gomez, Khedira, Schweinsteiger Wem vertraut Bundestrainer Löw wirklich?

23 Spieler hat Bundestrainer Joachim Löw für die EM nominiert. Wirklich zu zählen scheint er nicht auf alle.

23 Spieler hat Bundestrainer Joachim Löw für die EM nominiert. Wirklich zu zählen scheint er nicht auf alle.

(Foto: dpa)

Traut Joachim Löw auch den Reservisten der DFB-Elf zu, in einem EM-Spiel zu bestehen? Absolut, betont der Bundestrainer stets. Nun sind drei Stammspieler verletzt - und Löws Vertrauens-Mantra wird auf eine ganz harte Probe gestellt.

Es ist eine dieser überdosierten Ausgerechnet-Geschichten des Fußballs. Und bei genauer Betrachtung sind es sogar drei Geschichten. Am frühen Sonntagabend verschickte der DFB eine SMS an die Journalisten, die aus dem Quartier der deutsche Nationalmannschaft in Évian berichten. Der Inhalt: Für Angreifer Mario Gomez ist die Europameisterschaft vorbei. Er hat sich einen Muskelfaserriss im Oberschenkel zugezogen. Doch damit nicht genug: Sami Khedira hat eine Adduktorenverletzung. Ob er am Donnerstag in Marseille beim Halbfinale gegen Gastgeber Frankreich spielen kann, ist fraglich. Und Kapitän Bastian Schweinsteiger hat sich ein Außenband im Knie gezerrt. Auch sein Einsatz steht auf der Kippe.

Für jeden dieser Spieler ist das ein harter Schlag. Für Gomez, weil er bei dieser EM eine neue, kaum für mögliche gehaltene Wertschätzung des Bundestrainers Joachim Löw erfahren hat. Und weil die Fans ihn feierten, nachdem sie ihn früher auch dank TV-Kritiker Mehmet Scholl als Chancentod verspottet hatten. Khedira trifft das drohende Aus, weil er schon beim WM-Triumph 2014 das Finale gegen Argentinien verpasste, als er sich beim Aufwärmen verletzte. Und Schweinsteiger, weil sein Körper partout nicht mehr so will, wie der Kapitän es erzwingen möchte.

So sehr sie nach dem ebenso glücklichen wie verdienten Sieg im Viertelfinale über Italien am Samstagabend in Bordeaux gejubelt haben, so erleichtert und froh sie nach dem grotesken Elfmeterschießen waren, so teuer müssen sie diesen Kampf nun bezahlen.

Anleihen bei der Bundeskanzlerin

Wenn Bundeskanzlerin und Bundestrainer volles Vertrauen haben, schrillen die Alarmglocken.

Wenn Bundeskanzlerin und Bundestrainer volles Vertrauen haben, schrillen die Alarmglocken.

(Foto: picture alliance / dpa)

"Es ist sehr bitter, wenn in der entscheidenden Phase des Turniers wichtige Spieler ausfallen. Besonders für Mario tut es mir leid. Er hat bei der EM starke Leistungen gezeigt und der Mannschaft nicht nur mit seinen Toren sehr geholfen", sagte der Bundestrainer noch am Sonntagabend. "Für uns heißt das, dass wir die neue Situation annehmen und Lösungen finden müssen. Und das werden wir. Die Qualität des Kaders ist hoch, ich habe volles Vertrauen in alle Spieler."

Löw klingt wie Kanzlerin Angela Merkel, wenn sie einen in die Kritik geratenen Minister stützen will. Und wie bei der Bundeskanzlerin stellt sich auch beim Bundestrainer die Frage: Ist das wirklich so? Löw hat das zwar in den vergangenen Wochen mehrmals betont. Aber was soll er auch sonst sagen, er musste ja schließlich 23 Spieler für die EM nominieren.

Vertrauen nur Guardiola'sche Worthülse?

Es drängt sich der Verdacht auf, dass Löw insgeheim die Hoffnung hegte, sich nie an seinen Worten messen lassen zu müssen. So wie der britische Noch-Premier David Cameron, der durch diese missglückte Taktik zum Totengräber Europas werden könnte. Für Löw ist die Lage nicht annähernd so dramatisch. Aber für ihn ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem er zeigen muss, ob sein Vertrauen in die Reservisten tatsächlich groß ist - oder doch nur eine guardioleske tiptopsuper Worthülse.

Bei der WM vor zwei Jahren blieb das Dortmunder Feldspielertrio mit Matthias Ginter, Erik Durm und Kevin Großkreutz ohne Einsatz. Und bei dieser EM setzt der Bundestrainer wieder nur auf einen kleinen Teil des Kaders. Mit Leroy Sané, Julian Weigl, Emre Can und Jonathan Tah sind vier Feldspieler noch ohne eine Turnierminute. Mindestens drei allerdings könnten jetzt ihre Chance bekommen - wenn es Löw ernst mit seiner Ankündigung meint, er könne "jeden jederzeit bringen".

Er weiß jedenfalls, dass er sich etwas einfallen lassen muss, um mit der DFB-Elf ins Endspiel am 10. Juli einzuziehen, denn die hoch gewetteten Franzosen sind endlich ins Rollen gekommen. Das 5:2 (4:0) gegen die Sensationsmannschaft aus Island am Sonntagabend in Saint Denis war zumindest in der Offensive eine Demonstration der Stärke - und macht drei DFB-Szenarien für das Halbfinale wahrscheinlich:

1. Unehrliches Vertrauen:

Variante 1

Tor: Neuer
Abwehr: Hector, Boateng, Mustafi, Höwedes
Mittelfeld: Kimmich, Kroos – Draxler, Özil, Müller
Sturm: Götze

Gegen den EM-Gastgeber und seine wilde Offensive um die Stars Paul Pogba, Antoine Griezmann und Dimitri Payet gilt es am Donnerstag (ab 21 Uhr im n-tv.de-Liveticker) ja nicht nur Gomez und wahrscheinlich Khedira sowie Schweinsteiger zu ersetzen. Auch Mats Hummels, im WM-Viertelfinale 2014 der Siegtorschütze gegen Frankreich, steht wegen seiner Gelbsperre nicht zur Verfügung. Das bedeutet: Auf mindestens drei Positionen muss der Bundestrainer etwas ändern. Und folgt er seiner bisherigen Maxime, möglichst vielen Weltmeistern zu vertrauen, könnte die Startelf so aussehen: Neuer - Hector, Boateng, Mustafi, Höwedes - Kimmich, Kroos – Draxler, Özil, Müller - Götze.

Dieses Team hätte den Vorteil, dass es in dieser Besetzung mit Ausnahme von Kimmich bei der EM schon einmal genauso zusammengespielt hat, nämlich im ersten Spiel gegen die Ukraine. Doch in Lille - jaja, es war ja nur der Auftakt - offenbarte dieses Team vor allem in der ersten Halbzeit eklatante Mängel im Defensivverhalten und auch das Zusammenspiel der Offensivkräfte mit dem fleißigen, aber unglücklichen Götze sorgte nicht unbedingt für begeisterte Gesichter auf der DFB-Bank. Angesichts von Löws unbändigem Vertrauen in seine Weltmeister darf diese erfahrene Aufstellung gegen die individuell so starken Franzosen aber dennoch als wahrscheinlich gelten. Für die Youngster würde das bedeuten: Ganz so überzeugt, wie Löw und seine Co-Trainer regelmäßig betonen, scheinen sie von ihrer Turniertauglichkeit (noch) nicht zu sein.

Variante 2

Tor: Neuer
Abwehr: Hector, Boateng, Mustafi, Höwedes
Mittelfeld: Kimmich, Kroos – Draxler (Götze), Özil, Müller
Sturm: Götze (Sané)

2. Logische Ergänzungen:

Joshua Kimmich hat seine Turniertauglichkeit mit guten Leistungen auf der Position des rechten Verteidigers nachgewiesen. Dabei fühlt er sich im zentralen defensiven Mittelfeld nach eigenem Bekunden noch wohler. Dort tut sich nun nach den wahrscheinlichen Ausfällen von Khedira und Schweinsteiger eine Lücke auf, der spielintelligente Kimmich könnte sie besetzen. Für die Abwehr würde das bedeuten, dass erneut die EM-Auftaktviererkette spielt. Bliebe noch die Planstelle im Sturm. Bei Götze weiß der Bundestrainer, was er bekommt: Einen Spieler, der auf kleinem Raum agieren und Spiele entscheiden kann. Das allerdings nur, wenn er gut in Form ist - was nach seinen bisherigen Auftritten aber durchaus angezweifelt werden darf. Die Alternative könnte Leroy Sané sein. Mit seinen Dribblings, seinem Tempo, seiner Kreativität und seiner Unberechenbarkeit macht er die Top-Klubs in ganz Europa wuschig. Warum also nicht auch Deutschlands Halbfinal-Gegner, der in der zentralen Defensive mit den nicht immer sicheren Laurent Koscielny und Adil Rami seine größte Kaderbaustelle hat? Denkbar ist auch: Müller rückt in die Spitze.

Variante 3

Tor: Neuer
Abwehr: Hector, Boateng, Höwedes, Kimmich
Mittelfeld: Kroos, Can (Weigl) – Draxler (Götze), Özil, Müller
Sturm: Sané

3. Ganz große Überraschungen

Vielleicht hält der Bundestrainer ja auch Wort und vertraut seinem kompletten Kader, so wie er sagt. Das könnte dann zu einer Aufstellung führen, die zwar auch gegen Pogba und Co. taktisch Sinn ergeben würde, bei Löws eher dezentem Mut zu ganz großen Veränderungen aber eigentlich ausgeschlossen werden kann.

Möglich wäre dennoch Folgendes: Die Viererkette verändert sich nur auf einer Position. Höwedes ersetzt Hummels im Abwehrzentrum, ansonsten bleibt es bei Hector auf links, Boateng ebenfalls in der Mitte und Kimmich auf rechts. Der vakante Platz neben Kroos würde dann entweder von Dortmunds Julian Weigl, der in seiner ersten Bundesliga-Saison mit seiner Ruhe und Ballsicherheit schwer beeindruckte, oder dem zweikampfstarken Emre Can besetzt werden, dem in Liverpool regelmäßig Top-Leistungen auf der "Sechs" bescheinigt werden. Den Platz in der Spitze würde erneut (siehe oben) Sané einnehmen.

Jung, mutig, unberechenbar wäre diese Mannschaft – dem Bundestrainer aber wahrscheinlich deutlich zu unberechenbar, vor allem gegen die so starken Franzosen. Aber falls es Löw doch wagt, könnte es durchaus die nächste Ausgerechnet-Geschichte der EM werden.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen