Fußball-WM

Chanson, Bier, Elvis - Finale Franzosen fressen Löwen für Messi-Mbappé-Showdown

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Kylian Mbappé erzielte zur Abwechslung mal kein Tor, war aber trotzdem einer der Matchwinner gegen Marokko.

(Foto: IMAGO/Ulmer/Teamfoto)

Nur fünf Minuten dauert Marokkos Traum vom ersten WM-Finale. Dann bricht Antoine Griezmann auf der Seite durch, Kylian Mbappé nimmt es mit einer Hundertschaft im Strafraum auf und Theo Hernandez bricht das stolze Herz der Afrikaner. Das Turnier in Katar bekommt den Showdown der Superstars.

Mitternacht in Al Bayt. Die Fußball-WM bekommt ihren spektakulären Showdown: Argentinien gegen Frankreich. Lionel Messi gegen Kylian Mbappé. Der Traum vom ersten Titel seit 36 Jahren gegen den Traum der ersten Titelverteidigung seit 60 Jahren. Frankreich schlägt im zweiten Halbfinale Marokko, den großen Außenseiter dieser WM, mit 2:0 (1:0).

Der halbe Mond hängt über dem Zelt. Das Wüstenspektakel ist vorbei. Kehraus. Nicht mehr zurück in das Stadion, in dem mit dem Eröffnungsspiel Katar gegen Ecuador am 20. November alles anfing. Bei dem Gedanken kommt auch bei der FIFA für einen kurzen Moment so etwas wie Wehmut auf. Eine gute halbe Stunde vor dem Duell Frankreich gegen Marokko, dem Duell zwischen der ehemaligen Kolonialmacht gegen ihre ehemalige Kolonie, werden die Lautstärkeregler heruntergezogen.

"Es muss irgendwo Lichter geben, die heller scheinen. Es muss Vögel geben, die in einem blaueren Himmel höher fliegen", singt Elvis Presley. Seine Stimme schwebt durch das riesige Beduinenzelt, hinweg über die kleine Kolonie der Franzosen inmitten einer gigantischen roten Wand: "Wenn ich von einem besseren Land träumen kann, in dem all meine Brüder gemeinsam Hand in Hand laufen. Sag mir: Warum kann mein Traum nicht Wahrheit werden."

Der "Atlas Kloppo"

Auf den beiden Videoleinwänden laufen die Highlights der bald endenden Weltmeisterschaft: Die Tränen des Robert Lewandowski, Takuma Asanos Stich ins deutsche Herz, Cristiano Ronaldo und Gareth Bale versenken ihre Elfmeter, Mexikos Guillermo Ochoha hält den Rest. Niemand von ihnen ist mehr in Katar. Eine WM ist auch ein Schaulaufen der Flüchtigkeit des Glücks. Es zerrinnt in parierten Elfmetern, vergebenen Chancen und verlorenen Zweikämpfen.

Marokko ist mit den größten Hoffnungen in Richtung Norden gereist. Tausende von Fans haben sich in den letzten Tagen aus dem Weg aus Marrakesch in Richtung Doha gemacht. Sie alle wollen das Team des kultisch verehrten Trainers Walid Regragui sehen. Dem ist es gelungen, innerhalb weniger Spiele zu einem der Stars der Trainer-Szene aufzusteigen. Schon wird er als "Atlas Kloppo" bezeichnet.

Nicht alle Fans kommen ins Stadion. Nicht alle können überhaupt das Land verlassen, weil zahlreiche Flüge "infolge der jüngsten Einschränkungen der katarischen Behörden" gestrichen werden. Wie bei so vielen im Emirat bleiben genauere Begründungen aus. Trotzdem sind rund 55.000 der 68.294 Zuschauer im Al Bayt. Voller Inbrunst singen sie die Nationalhymne "an-Naschid asch-Scharif". "Auf Brüder! Strebt nach Größe. Zeigt der Welt, dass wir ewig leben."

Marokko kennt keine Niederlagen mehr

Die Fans kennen plötzlich nur noch den Erfolg. Die Bilanz der Löwen von Atlas in den bisherigen 2020er Jahren ist atemberaubend: 41 Spiele, 31 Siege, acht Unentschieden und nur zwei Niederlagen - gegen Ägypten im Afrika-Cup und die USA bei einem Freundschaftsspiel in diesem Juni. Bei dieser WM haben sie mit Belgien, Spanien und Portugal den zweiten, siebten und neunten der Weltrangliste aus dem Turnier geworfen. Sie haben vor dem Halbfinale nur einen Treffer kassiert, waren nie in Rückstand geraten.

Gegen Frankreich dauert es keine fünf Minuten. Dann sind alle Statistiken über den Haufen geworfen. Am Ende einer langen Fehler- und Unglückskette, die beim ausrutschenden Jawad El Yamiq rund 30 Meter vorm Tor beginnt, haut Achraf Dari neben den Ball. Der war erst nach dem Aufwärmen für den angeschlagenen Nayef Aguerd ins Team gerutscht. Es ist nicht das Spiel des 23-Jährige von Stade Brest, einem Abstiegskandidaten in der französischen Ligue 1. Kein Wunder: Geht es für ihn doch gegen Kylian Mbappé:

Kylian gegen den Rest der Welt

Mbappé, der schweigende Superstar. Der Rekordjäger. Der mit seinen 23 Jahren nun schon neun WM-Tore auf dem Buckel hat, auf dem besten Weg ist, den Rekord von Miroslav Klose (16 Treffer) zu knacken und am Sonntag seinen zweiten WM-Titel einsacken könnte.

Zu Beginn des Turniers spricht der Angreifer nur mit eben diesen Toren auf dem Fußballfeld. Gegenüber der Presse gibt er keinen Ton von sich. Selbst wenn er müsste, weil er den Preis des Mans of the Match zugesprochen bekommt. Die Welt interessiert so einiges in Bezug auf den PSG-Stürmer. Zum Beispiel seine Zukunft - bleibt er bei Frankreichs Top-Team oder geht es doch zu Real Madrid? Aber Mbappé will keine Spekulationen, kein Gerede, keine Ablenkung. Die Strafgelder für sein Schweigen, so sagt er, zahlt er gerne.

An jener fünften Minute, dem frühen Schock für Marokko, ist der verstummte Megastar, natürlich, auch beteiligt. Zunächst findet ein perfekt getimeter Pass von Raphael Varane Antoine Griezmann, der in die Tiefe startet und Glück hat, dass El Yamiq am Ball vorbeigrätscht. Der Pass des besten Vorlagengebers der französischen Nationalmannschaftsgeschichte in den Rücken der Abwehr findet schließlich Mbappé, nachdem er sich gleich gegen einen ganzen Haufen an Gegenspielern in der näheren Umgebung clever davongestohlen hat. Der Superstar zieht direkt ab, wird zweimal geblockt, aber seinen letzten Abpraller verwertet Theo Hernández akrobatisch per Seitfallzieher am linken Pfosten.

Vorbild Mbappé schweigt

Sobald Mbappé angespielt wird, stürmen zwei Mann im Affenzahn auf ihn los, hindern in direkt bei der Ballannahme. Das macht aber wenig, denn Les Bleus haben ja in Olivier Giroud einen weiteren Topscorer der WM in den Reihen. Ein langer Ball hebelt die komplette Hintermannschaft der Marokkaner aus, weil der 36-Jährige sich körperlich stark durchsetzt und anschließend mit der Kugel am Fuß auf das Tor zumarschiert. Sein humorloser Strahl klatscht an den linken Außenpfosten! Glück für die Atlaslöwen.

Zurück zum Schweigen des Superstars, das noch einen anderen Grund hat. Auf dem Instagram-Kanal des Franzosen sorgt ein Bild mit seiner MVP-Trophäe für Aufsehen, weil er das Budweiser-Logo wegdreht. Die Biermarke sponsert den Pokal, der nach jeder Partie vergeben wird. Eine Kollision von Interessen. Mbappé will nicht mit alkoholischen Getränken in Verbindung gebracht werden, sein Vertrag über die eigenen Bildrechte untersagt ihm das genauso wie Verknüpfungen mit Junkfood oder Sportwetten. Der PSG-Star will für seine vielen jungen Fans Vorbild bleiben.

Wegen der Beschwerde des Stürmers und anderer Spieler trifft Sponsor Budweiser anschließend "alternative, kulturell angemessene" Vorkehrungen. Dann spricht Mbappé nach dem Sieg gegen Polen im Achtelfinale auch wieder. "Ich habe nichts gegen Journalisten", erklärt er. "Wenn ich nicht zum Reden gekommen bin, dann deshalb, weil ich mich voll und ganz auf den Wettbewerb konzentrieren und keine Energie auf andere Dinge verschwenden muss. Ich habe mich sowohl körperlich als auch geistig optimal vorbereitet, um dieses Turnier zu gewinnen."

Plötzlich trällert er ein Chanson

Für den WM-Sieg muss erstmal das Finale her. Die Chancen hat Frankreich, nur lässt das Team von Didier Deschamps sie sträflich liegen. Aurélien Tchouaméni setzt sich im Mittelfeld stark durch und leitet damit einen Gegenstoß ein. Der Pass des 22-Jährigen in die Schnittstelle zu, natürlich, Mbappé sitzt, doch wieder scheitert der PSG-Stürmer. Den Abpraller schickt Tchouaméni zu Giroud, der per Direktabnahme knapp neben den linken Pfosten zielt.

Die zweite Halbzeit wartet mit einem Sprint für die Geschichtsbücher auf. Weit in der eigenen Hälfte erhält der nicht mehr schweigende Mbappé den Ball an der Außenlinie. Wieder schwirren die Marokkaner aus, attackieren ihn wie ein Schwarm Wespen. Mit vier Gegenspielern um sich herum sprintet der Franzose mit der Kugel am Fuß los - und ist schneller als der erste Marokkaner. Als der zweite. Als der dritte und vierte. Mbappé überquert bei seinem Spurt, der selbst Usain Bolt beinahe neidisch machen dürfte, sogar die Seitenlinie, holt den Ball am gegnerischen Strafraum wieder ein - und wird rüde von der eingesprungenen Grätsche Sofyan Amrabats gelegt. Der Schiedsrichter lässt aber weiterlaufen.

... und Marokko fällt auf die Knie

Dann aber spricht der Superstar so richtig. Nein, Mbappé singt. Trällert ein Chanson. Ob nun von Jaques Brel, Charles Trenet, oder Édith Piaf. Aber, und das ist wichtig: Er tut es mit den Füßen. Mit einer geschickten Drehung am Strafraum nimmt der Stürmer den ersten Angreifer traumhaft schön aus dem Spiel, doch das ist nur der Anfang. Der Ball geht zum eingewechselten Marcus Thuram, der direkt zurück zu Mbappé legt. Und daraufhin schmettert dieser erst so richtig los - ob mit Bass oder Tenor, bleibt bislang unbekannt.

Schon die Ballannahme ist ein Hingucker, weil Mbappé sie mit einer Körpertäuschung kombiniert, die seinen Gegenspieler ins Leere laufen lässt. Mit Eleganz und Kraft dringt er in den Strafraum ein, setzt zum herrlichen Slalomlauf an und seziert damit die komplette marokkanische Defensive. Hier ein Haken, dort eine Verzögerung. Wow. Sein Abschluss will zwar wieder nicht ganz gelingen, aber geschenkt. Das Chanson ist im vollen Gange und der erst 43 Sekunden auf dem Feld stehende Frankfurter Kolo Muani stimmt freudig in den Refrain mit ein. Sein Schuss landet zum 2:0 im Netz. Marokkos WM-Märchen ist beendet und Mbappé und der Titelverteidiger fordern Lionel Messi und Argentinien im Traum-Finale, dem Duell der Superstars, am Sonntag.

Als alles vorbei ist, fallen Marokkos Spieler auf den Boden. Aber als die Franzosen schon längst in der Kabine sind und als die Spieler Marokkos die erste Trauer über ihre Niederlage überwunden haben, gehen sie vor ihren Fans auf die Knie.

Quelle: ntv.de

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