Das Tagebuch zur WM in Katar Auch Fake Fans können WM-Stimmung nicht mehr heben
06.12.2022, 13:27 Uhr
Alles echte Fans?
(Foto: IMAGO/Ulmer/Teamfoto)
Die erste und letzte Stadt-WM aller Zeiten endet bald. Es wird, das ist jetzt schon klar, die beste WM aller Zeiten werden. Da lässt FIFA-Präsident Gianni Infantino nicht mit sich diskutieren. Auf den Tribünen spielen sich seltsame Szenen ab, die Stadt ist ein Boulevard der Selbstdarsteller.
Die erste und letzte Stadt-Weltmeisterschaft wird in wenigen Tagen als die beste WM aller Zeiten verkauft werden. FIFA-Präsident Gianni Infantino, der mit seiner furios-irren Rede am Tag vor dem Eröffnungsspiel die Aufmerksamkeit der Welt-Öffentlichkeit auf das umstrittene Turnier in diesem psychedelischen Wüstenort im Mittleren Osten gelenkt hat. Die irrwitzige Stadt mit ihren Scheinwelten ist dieser Tage Schauplatz des großen Verschwindens.
Mit dem Ende der Gruppenphase und der Heimreise der meisten Nationen verschwinden auch die Fans. In den Stadien waren sie bei einem Großteil der Spiele ohnehin nicht. Dort sind weiterhin die zu sehen, die dieses Turnier noch bizarrer machen, als es Gianni Infantino mit seiner Rede versprochen hat. Beim Achtelfinale zwischen den Niederlanden und den USA ist ein Block im Oberrang gut gefüllt. Er kann guten Gewissens als der Stimmungsblock des Khalifa-Stadions bezeichnet werden. Überwiegend sitzen dort Personen, die Fußball als etwas begreifen, was niemand versteht. Die Fernsehkameras können den Block nicht einfangen.
Als die Mannschaft von Louis van Gaal wieder einmal das Spiel in der Behäbigkeit der abwartenden Dominanz ertränkt, regt sich auf den Tribünen nichts mehr. Nur im Stimmungsblock ist - wie könnte es anders sein - mordsmäßig was los. Einer im Trikot der Elftal ist offensichtlich der Organisator. Er zählt runter und dann geht sie los: die mexikanische Welle, die La-Ola-Welle! Mit Mühe und Not überwindet sie die erste Kurve im Stadion. Dann endet sie. Der Mann im Oranje-Trikot jubelt! Was für ein Erfolg. Doch plötzlich passiert etwas auf dem Rasen, die USA treffen aus dem Nichts. Der Stimmungsblock ist aus dem Häuschen! "USA, USA, USA", rufen sie und hüpfen begeistert in ihren Trikots der niederländischen Nationalmannschaft. Wo ist hier der Notausgang?
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Am berühmten Markt in Doha, am Souq Waqif, wo nach den grandiosen WM-Siegen Saudi-Arabiens oder Irans viele ausgelassen getanzt und gesungen haben, ist die Stimmung längst nicht mehr WM-würdig. Mit Marokko befindet sich nur noch eine arabische Mannschaft in diesem arabischen Turnier. Das schlägt auf die Laune. Auch viele Fans aus Lateinamerika sind schon heimgekehrt. Vereinzelte Fan-Gruppen ziehen von Café zu Restaurant zu Souvenirshop. Aber eigentlich gleicht die Gegend eher einem Laufsteg. Frauen wie Männer, in traditioneller islamischer oder westlicher Kleidung, stolzieren aufgebrezelt hin und her. Sehen und gesehen werden. Vielleicht wird man ja doch noch von einem der TV-Teams interviewt, die weiterhin ihre Kameras am Markt platziert haben.
Hier gibt es auch ein kleines Kunstmuseum. Drinnen spielt ein Mann eine Oud, die arabische Laute. Künstlerinnen und Künstler malen mit Ölfarbe. Der Emir Al Thani ist ein beliebtes Motiv oder auch traditionelle Handelsschiffe aus Holz vor der modernen Skyline Dohas. Samt Sonnenuntergang, versteht sich. In einer Ecke hängen zudem Gemälde von Fußball-Stars. Eine Künstlerin malt wenige Stunden vor dem Achtelfinale noch eifrig den japanischen Anführer Wataru Endo. Ob sie weiß, dass er im Ländle für den VfB Stuttgart kickt? Wenige Stunden darauf scheidet der Profi im Elfmeterschießen mit seiner Mannschaft gegen Kroatien aus. Im Museum stört das wahrscheinlich niemanden. Nicht nur hier in diesen eisig heruntergekühlten Räumen ist die WM ganz weit weg.
Toni Kroos ist der deutsche WM-Held
Frostig geht es auch im nächsten Zimmer zu. Gleich neben Superstar Cristiano Ronaldo hängt ein deutsches Porträt. Thomas Müller, Manuel Neuer oder İlkay Gündoğan? Nein, Toni Kroos, der seit der EM im vergangenen Sommer nicht mehr für die Nationalmannschaft aufläuft, lächelt den Besucherinnen und Besuchern entgegen. Nachträgliche Häme für die DFB-Elf? Auch ein strahlender Neymar hängt an der Wand. Logo. An diesem Abend feiert er eine Samba-Party der Extraklasse mit seiner Mannschaft. Doch wo ist sie, die WM-Stimmung? Nach dem grandiosen Kantersieg der Brasilianer gegen Südkorea wird rund um das Stadion 974 noch kurz gefeiert, hauptsächlich für die Kamerateams, die sich besonders schrill angezogene Fans greifen.
Aber dann springen die Menschen in Busse, Taxis oder Uber und rollen in ihre Hotels zurück. Ist ja schließlich auch Mitternacht hier. Und wohin sollen sie auch sonst? Rund um die Arenen gibt es keinerlei Punkte der Zusammenkunft. Keine Cafés. Keine Shisha-Bars. Keine Restaurants. Nur Parkplätze, kilometerweit. Und Schnellstraßen. Betonwüste neben der Sandwüste. Die Feierlaune ist dadurch dann auch eher Wüste.
Die Locals und Expats vertreiben sich unterdessen ihre Zeit in den Malls der Stadt. Sie lieben es. Weil es sonst nichts gibt, was zu lieben sich lohnt.
Quelle: ntv.de