55 Jahre Bundesliga

Redelings über die Saison 68/69 Beckenbauer macht den Manneken Pis

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Beckenbauer grüßt mit Nelke, vorher zeigt er dem "verehrten Publikum" eine weniger charmante Geste.

Beckenbauer grüßt mit Nelke, vorher zeigt er dem "verehrten Publikum" eine weniger charmante Geste.

(Foto: imago sportfotodienst)

Randalierende Lauterer, ein fast blinder MSV-Trainer und die Aachener Kartoffelkäfer sorgen für eine ereignisreiche Spielzeit. Am Ende werden die Bayern erstmals Meister – obwohl sie in Hannover für einen unvergesslichen Eklat sorgen!

Er kann es einfach nicht lassen. Am 30. Oktober 1968 wird HSV-Profi Charly Dörfel im Hamburger Volksparkstadion vor 30.000 Zuschauern von Schiedsrichter Edgar Deuschel aus Ludwigshafen des Feldes verwiesen. Der bekannte Nationalspieler und populäre Schlagersänger Dörfel antwortet nach einem Foulspiel an einem Gegenspieler auf die Frage des Schiris "Wie heißen Sie?" mit einer knappen, aber leider falschen Antwort: "Schulze."

Müller pausiert, Ehefrau Uschi serviert.

Müller pausiert, Ehefrau Uschi serviert.

Der FC Bayern München holt seine erste Bundesliga-Meisterschaft. Souverän gewinnen die Bayern nicht nur die ersten fünf Partien, sondern stehen 34 Spieltage ununterbrochen an der Tabellenspitze. Eine Bilderbuchsaison – wenn da nicht der "Eklat des Jahres" wäre. Das Spiel in Hannover gerät völlig außer Kontrolle. Franz Beckenbauer stellt sich im Niedersachsen-Stadion vor die Fans von Hannover 96 und zeigt mit einer "Manneken Pis"-Bewegung "dem verehrten Publikum" (O-Ton Beckenbauer) seine innere Gemütsverfassung. Der Bayern-Star fühlt sich zu Unrecht ausgepfiffen. 1000 Mark Strafe, 50 Mark Verfahrenskosten, zwei Entschuldigungsbriefe und der Eintrag in die Sünderkartei der Frankfurter Zeppelin-Allee sind die Konsequenz. Auch Sepp Maier lässt sich an diesem Tag zu einer Dummheit hinreißen: Er verpasst einem Fan von Hannover 96 eine Ohrfeige. Er bleibt allerdings straffrei. Im Gegensatz zu Gerd Müller, der nach einem harmlosen Schubser vom Platz gestellt wird. Acht Wochen fehlt er den Bayern, in denen sie nur drei Tore schießen und 2:6-Punkte holen.

"Wir brauchen keinen Seeler"

Claessen weiß auch abseits des Platzes aufzufallen.

Claessen weiß auch abseits des Platzes aufzufallen.

Überraschend Zweiter wird mit acht Punkten Rückstand auf den Meister Alemannia Aachen. Die Fans intonieren stolz ihr Vereinslied: "Wir brauchen keinen Seeler, wir brauchen keinen Brülls – wir kaufen unsere Spieler alle in Marl-Hüls." Die Alemannia-Kicker aus dem äußersten Westen bilden eine verschworene Einheit, die mit dem extrovertierten belgischen Stürmer Roger Claessen verstärkt wurde. Den Starspieler haben sie sich in Aachen ordentlich was kosten lassen. Belgiens Sportler des Jahres wechselt für 300.000 Mark von Standard Lüttich zu den "Kartoffelkäfern". Den berauschenden Erfolg dieser Saison kann Alemannia Aachen jedoch nie wiederholen. Bereits im kommenden Jahr steigt man als Tabellenletzter chancenlos ab.

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In Duisburg sorgt MSV-Trainer Robert Gebhardt, genannt "Zapf", für Erheiterung. Montags lässt er seine Spieler immer als erstes Seilchenspringen. Das Problem: Der Übungsleiter kann nur sehr, sehr schlecht sehen – ist aber zu eitel, eine Brille zu tragen. Dieses Handicap wissen die Spieler trefflich zu nutzen. Torwart Manfred "Cassius" Manglitz muss grinsen, wenn er sich an die Montagmorgenstunden von einst erinnert: "Die Seilchen wurden nach den ersten Metern eingerollt und erst auf der Ziellinie wieder ausgepackt." Da sich "Zapf" ein zweites Standbein mit dem Verkauf von Kinderspielzeug aufgebaut hat, versucht er sich die Gunst seiner Spieler zu erkaufen. Und so ist die Frage "Willst du ein Auto für deinen Sohn?" eine Art Running Gag unter den MSV-Kickern.

Das Drama dieser Spielzeit ereignet sich beim amtierenden Deutschen Meister. Eigentlich läuft es beim 1. FC Nürnberg von Anfang an nicht rund. Dann verliert auch Trainer Max Merkel die Übersicht und meckert über seine Kicker. Seinen jugoslawischen Nationalspieler Cebinac will er gar am liebsten auf der Stelle loswerden: "Wenn ich mir vorstelle, was er gekostet hat und wie viele Tore Cebinac schießt, da ist der Pelé direkt billig."

Lautern fliegt und verliert

Dass das mit dem Klassenerhalt des Club schwierig wird, ahnte Nürnbergs Vorsitzender Walter Luther spätestens am Vorabend des Spiels der Clubberer gegen Borussia Dortmund. Kapitän Luggi Müller ist zu Luther nach Hause gekommen und fordert vom Präsidenten eine sechsstellige Summe. Würde diese nicht gezahlt, sehe sich die Mannschaft außerstande, am folgenden Tag mit vollem Einsatz zu spielen. Ein Sieg, so Müller, sei unter diesen Umständen natürlich nicht möglich. "Nach diesem Gespräch war mir klar, dass die meisten Spieler mit ihrem Herzen längst nicht mehr beim 1. FC Nürnberg waren", sagt der Vorsitzende und rechnet mit dem Schlimmsten.

Für den größten Aufreger der Saison sorgen aber die Lauterer. Vor dem Auswärtsspiel gegen den HSV macht die Mannschaft in einem Hotel in Quickborn Halt. Lauter junge Männer im besten Lausbubenalter und ein völlig überforderter Trainer Egon Piechaczek. Die Spieler machen sich einen Spaß daraus, den Speisesaal von einer Empore aus mit Hagebutten zu bewerfen. Einige Früchte landen auf den weißen Tischtüchern, andere direkt in den tiefen Ausschnitten der feinen Damen. Der Hoteldirektor ist empört. Mit erhobenem Zeigefinger droht er: "Noch einmal, dann …" Doch die Ansage kommt zu spät. Mittelfeldstratege Otto Geisert hat eine Blumenschale vom Podest geworfen, die nun – mitten in die Worte des Direktors hinein – klangvoll in tausend Stücke zerbricht. Einige Minuten später steht die Mannschaft des 1. FC Kaiserslautern mit gepackten Koffern auf der Straße. Das Spiel am nächsten Tag endet übrigens 3:1 für den HSV. Die Vorlage zum zwischenzeitlichen 1:1 durch Gerhard Kentsch gab gewohnt treffsicher: Otto Geisert.

Alle Artikel unserer wöchentlichen Serie "55 Jahre Bundesliga" finden Sie hier. Unser Kolumnist Ben Redelings ist mit seinen Bühnen-Programmen republikweit unterwegs: Infos und Tickets zur Tour.

Quelle: ntv.de

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