Di-Di-Di-Dieeeego macht Schluss Als der zärtliche Killer die Bundesliga überrannte
23.07.2022, 07:04 Uhr
Diego trifft 2006 gegen Bayern München.
Diego betritt 2006 die Bundesliga-Bühne mit einem Knall. Der Werder-Regisseur behandelt den Ball so zärtlich wie kein zweiter, ist schon in jungen Jahren ein eiskalter Killer - und verpasst Olli Kahn eine spezielle Ohrfeige. Jetzt beendet der Brasilianer seine Karriere.
Hach ja, die gute alte Zeit. Wohl jeder Fußball-Fan in Deutschland erinnert sich an den denkwürdigen Freitagabend im Weserstadion im nasskalten April 2007, als Werders Wunder-Brasilianer Diego sein Wundertor aus 63 Metern im Netz von Alemannia Aachen versenkt. Doch viel imposanter, wenngleich im Nachhinein weniger beachtet, ist Diegos Bundesliga-Debüt im August 2006. Der Spielmacher, der nun seine Karriere in Brasilien beendet, zeigt in einem Spiel, was ihn so besonders, was ihn zu einem der herausragendsten Spieler der Liga-Geschichte macht. Es ist der Auftakt einer fulminanten, goldenen Zeit bei den Bremern – nach der sie sich heute noch immer zurücksehnen.
Vorab deshalb die Warnung: Dies wird ein emotionaler, vielleicht schwer zu lesender Text für alle Fußball-Fans, die es mit Werder Bremen halten. Schließlich spielt Diego schon lange nicht mehr bei den Norddeutschen und einen Spieler seines Formats dürfen die Werderaner wohl noch eine halbe Ewigkeit - ja, das schmerzt - nicht mehr in ihrer Mannschaft begrüßen. Alle anderen dürfen genüsslich in den Erinnerungen schwelgen. An Tore und Kunststücke. An den vielleicht technisch besten Spieler, den die Bundesliga je hatte. An den kleinen Brasilianer mit der Nummer 10 auf dem Rücken, der die Liga im Sturm einnahm. Der sie förmlich überrannte.
Also rein in den sonnigen Augustsonntag. Der neue Brasilianer, als Bankdrücker vom FC Porto an die Weser gewechselt, ist in seinem ersten Spiel direkt Dreh- und Angelpunkt der Bremer Offensive. Und wie! Ein echter Zehner, der perfekt ins Rautensystem von Trainer Thomas Schaaf passt. Diego. Ribas. Da Cunha. Der 21-Jährige spielt von der ersten Minute an genauso, wie sein Name klingt. Allein diese Wortaneinanderreihung lässt selbst biederste Betonanmischer aus bundesdeutschen Kleinstadt-Abwehrreihen mit der Zunge schnalzen. Wen hat Werder hier geholt? Welches Geschenk hat die Bundesliga aus dem Nichts erhalten?
"Diegos Debüt lässt Micoud vergessen"
Beim 4:2 in Hannover erzielt Diego gleich mal ein Tor und bereitet zwei vor. Doch es ist die Art und Weise seines Spiels, die noch mehr beeindruckt - in seiner ersten Partie, wie über die kommenden drei Jahre. Wie das nur 173 Zentimeter große Kraftpaket den Ball streichelt, das hat viel von Fürsorglichkeit. Von einer Zärtlichkeit, wie sie die Hanseaten auf den Rängen nur selten gesehen haben. Auch der Ball in Bremen mag sich gefragt haben: "Wer geht da so zärtlich mit mir um? Klar, ich war Johan Micoud, Andreas Herzog und Mario Basler gewöhnt, aber das hier ist technisch noch mal ein neues Level." Jede Ballberührung ist ein Gedicht, geschrieben mit Diegos Füßen. Jede zweite Aktion, mit der er meist mehrere Gegenspieler auf sich zieht, um dann einen perfekt getimten Pass zu spielen, gleicht einem Zaubertrick.
Diego erfüllt das Spiel der Bremer auf eine liebevolle Art und Weise, die man nach dem Abgang von Meistermacher und "Le Chef" Micoud nicht mehr erwartet und seitdem nie mehr aufblitzen sehen hat an der Weser. Aber genauso auf eine zielstrebige. Denn, das wird der Bundesliga von Anfang an klar: Der kleine und blutjunge Brasilianer besitzt einen Killerinstinkt. Eiskalt schlägt er im gegnerischen Sechszehner zu. In noch so brenzligen Situationen behält Diego die Ruhe und trifft dank überragender Technik vorwiegend die richtige Entscheidung. "Diegos Debüt lässt Micoud vergessen", titelt die "FAZ" damals sogar überzogen.
Mal zärtlich, mal aus der Ferne wie gegen Aachen, mal mit Wumms: 38 Tore erzielt Diego für Werder in 84 Bundesligaspielen. Insgesamt ist in diesen Partien an überragenden 73 Treffern direkt beteiligt. In nur seinem siebten Spiel für Bremen schießt er den VfL Bochum mit einem Tor und drei Vorlagen beim 6:0 im Alleingang ab. Diego hat ein gutes Auge, bedient etwa im Heimdebüt gegen Leverkusen Stürmerstar Miro Klose mit einem Zauber-Hackentrick. Aber, neben aller Magie und Zärtlichkeit, Diego haut sich Zeit seiner Karriere in jeden Zweikampf und ist enorm laufstark.
"Ohrfeige" für Olli Kahn
Dann, direkt nach der Bochum-Gala, wartet der FC Bayern. Und auch diese Partie steht sinnbildlich für Diegos Karriere und seine Power und Durchsetzungskraft. Die Münchner sind sichtlich genervt vom neuen Zauberfuß in Bremen. Nach Werders Meisterschaft 2003/04 hat der Rekordmeister die Kräfteverhältnisse wieder nach seinen Vorstellungen gefestigt und zwei Ligatitel in Folge klargemacht. Was die Bayern von diesem Brasilianer halten, der da im Weserstadion durch ihre Defensivreihen wuselt, macht Oliver Kahn bereits in der zehnten Spielminute klipp und klar. Der Keeper fängt eine ungefährliche Flanke ab und rast mit dem in seinen Armen vergrabenen Ball auf den mehrere Meter entfernt abdrehenden Diego zu. "Ein harter Schulter-Check und der Liga-Neuling wird schon verstehen, mit wem er es hier zu tun hat" - so wohl Kahns Gedankengang: "Der soll sich bloß nichts einbilden auf den kurzen Erfolgslauf in seinen ersten Spielen".
Diegos Überlegungen nach dem Rempler dürften dagegen in etwa folgende gewesen sein: "Na warte, Kollege, wenn du spielen willst, dann spielen wir." Es dauert exakt 50 Sekunden, bis sich Bremens zärtlicher Killer für den Check auf die für Kahn übelste Art und Weise rächt. Einen Steckpass in den Strafraum nimmt Diego zweikampfstark mit links an, schüttelt Bayerns Lucio ab - und zimmert die Kugel mit solch einer Urgewalt an die Unterkante der Latte und in die Maschen, dass Kahn nicht mal reagieren kann. Welch eine Ohrfeige! Während der 21-Jährige jubelnd abdreht, steht die Keeper-Größe versteinert im Strafraum, die Arme verblüfft in die Hüfte gestemmt, die Wangen aufgebläht.
Werder gewinnt nach dem Hammer mit 3:1 und ist Tabellenerster. Zwar holt Diego keine Meisterschaft mit Bremen, dennoch prägt er die Bundesliga mit seinem Können und Spielwitz nachhaltig. Fan-Liebling ist er beileibe nicht nur in der Hansestadt. "Di-Di-Di-Di-Dieeeego", schallt es damals durch so ziemlich jedes Stadion, wenn Werder zu Gast ist. Denn Diego ist Show, jeden Abend. Ihn wollen die Leute sehen, er allein ist das Eintrittsgeld wert. "Diese Leute kommen hierher, um eine Show von mir zu sehen", sagte Michael Jordan, der größte Basketballer aller Zeiten einmal. "Ich muss ihnen jeden Abend etwas zeigen, was sie noch nie gesehen haben." Ohne einen Vergleich ziehen - und für so eine Aussage ist Diego ohnehin stets viel zu sehr Teamplayer - und ohne den Brasilianer in die Riege der besten aller Zeiten heben zu wollen: Doch auch bei Bremens Zehner wissen alle, dass jederzeit etwas Besonderes passieren kann.
Ein würdiger Abschluss
2009 führt Diego die Grün-Weißen ins Finale der Europa League (das er gelb gesperrt verpasst) und feiert mit seinem kongenialen Partner Mesut Özil den Sieg des DFB-Pokals. "Ich liebe Werder Bremen", ruft er einer jubelnden Fan-Masse vom Rathausbalkon anschließend auf Deutsch zu. Ein würdiger Abschluss. Das Niveau, das er in Bremen auf den Platz bringt, kann er in seinen folgenden Stationen bei Juventus Turin, Atlético Madrid oder dem VfL Wolfsburg nicht mehr ganz halten. Immerhin, mit Flamengo Rio de Janeiro gewinnt er zweimal die brasilianische Meisterschaft und einmal die Copa Libertadores.
Nun verkündet der mittlerweile 37-Jährige unter der Woche das Ende seiner Karriere. In Brasilien zumindest. Er hält sich tatsächlich noch die Option offen, nach Vertragsende im Dezember bei Flamengo noch eine Auslandsstation an die Profilaufbahn anzuhängen. Manch ein Werder-Fan mag dabei ins Träumen geraten. Ein Kurz-Comeback, nachdem Bundesliga-Aufsteiger Bremen die ersten 17 Saisonspiele mehr schlecht als recht auf den Rasen bringt und besonders in der kreativen Schaltzentrale nach Input sucht? Wer weiß das schon. Eine schöne Vorstellung, zumindest für alle, die eine liebevolle Beziehung zum beliebtesten Spielgerät der Welt hegen. Aber wohl eine hoffnungslose.
Über drei Jahre drückt Diego seine unnachahmliche Zuneigung zum Ball in Bremen aus. Die gute alte Zeit - mögen die Werder-Fans sich zurückerinnern. So zärtlich, mit so viel Killerinstinkt, so kraftvoll ging es an der Weser seitdem nie wieder zu. Hach ja.
Quelle: ntv.de