Ein Stadion voller Narren Bei Borussia Dortmund ist alles herrlich außer Kontrolle
02.05.2024, 05:34 Uhr
Edin in Ekstase.
(Foto: IMAGO/Kirchner-Media)
Borussia Dortmund feiert die nächste magische Nacht auf der europäischen Bühne. Das erste Halbfinale gegen Paris St. Germain wird knapp gewonnen. Die BVB-Spieler liefern vor eigenem Publikum einen mitreißenden Kampf ab, mit Momenten der Atemlosigkeit.
Karim Adeyemi konnte nicht mehr. Auf dem Weg zur Auswechselbank brach der kleine Stürmer des BVB unter der Erschöpfung fast zusammen. Sein Gegenspieler Achraf Hakimi ging mehrfach in die Knie, rang nach Luft. In der 83. Minute bekam das Spiel zwischen Borussia Dortmund Paris St. Germain einen Moment zum Atmen. Aber lange währte diese Pause nicht. Der nie zu stoppende Jadon Sancho sprintete Sekunden später auf das Tor der Gäste los, wählte den genialen Steckpass und gab BVB-Spielmacher Julian Brandt die große Möglichkeit, das alte Westfalenstadion komplett durchdrehen zu lassen. Doch dessen Schuss wurde von PSG-Kapitän Marquinhos mit einer Monster-Grätsche geblockt. Es stand weiter 1:0. Der Fußball-Tempel bebte, zitterte. Der Puls des Spiels raste, auf den Tribünen wurden die Fans völlig verrückt. Ein Franzose schrie anerkennend: "Un stade rempli de malades mentaux". Ein Stadion voll Geisteskranker. Fußball-Verrückter wäre der bessere Begriff gewesen.
Um 22.55 Uhr beendete Schiedsrichter Anthony Taylor das mitreißende erste Halbfinal-Duell zwischen dem BVB und dem Superstar-Ensemble aus der französischen Hauptstadt. Die Gastgeber hatten das 1:0 über die Ziellinie geschleppt und dürfen weiter groß vom zweiten Champions-League-Endspiel in Wembley träumen. Womöglich geht es dann wieder gegen den FC Bayern (der das erste Duell mit 2:2 gegen Real Madrid beendete), womöglich gibt es dann die Revanche für das bittere 1:2 aus Dortmunder Sicht, herbeigeführt durch Arjen Robben in der vorletzten Minute. Doch der Weg zurück an diesen magischen Ort wird knüppelhart, am nächsten Dienstag in Paris.
Dortmund: Kobel - Ryerson (87. Wolf), Schlotterbeck, Hummels, Maatsen - Sabitzer, Can - Adeyemi (83. Reus), Brandt (87. Nmecha), Sancho - Füllkrug (90.+1 Moukoko); Trainer: Terzic
Paris: Donnarumma - Hakimi, Marquinhos, Hernandez (42. Berlando), Nuno Mendes - Zaire-Emery, Vitinha, Fabian Ruiz - Dembele, Mbappe, Barcola (65. Kolo Muani); Trainer: Luis Enrique
Schiedsrichter: Anthony Taylor (England)
Tor: 1:0 Füllkrug (36.)
Gelbe Karten: Maatsen, Schlotterbeck - Fabian Ruiz
Zuschauer: 81.365 (ausverkauft)
Die Südtribüne bat die Helden des Abends nach der Schicht am Tag der Arbeit vor sich auf den Rasen. Auf den donnernden Applaus folgend, sangen sie gemeinsam das Lied von Dortmund international, vom Europapokal. Die erschöpften Fußballer sprangen plötzlich wieder umher, sprangen ineinander und aufeinander. Das Adrenalin brach sich wie wild Bahn. Und bei Jamie Carragher offenbar der Alkohol. Die Liverpool-Legende hatte sich zur Gelben Wand gesellt, offenbar ordentlich gelötet und führte später Interviews als Experte der CBS. Er schwärmte von seiner neuen Familie, war einfach ganz und gar mitgenommen, forderte Sancho auf, es ihm künftig gleich zu tun. Party mit der Gelben Wand. Alles war außer Kontrolle. Und ganz egal, was kommende Woche passiert, mit dem Sieg sicherte der BVB sich das erneute Startrecht für die Königsklasse. Denn auch der Fünfte der Fußball-Bundesliga ist nun garantiert dabei. Und derzeit deutet alles darauf hin, dass das die Schwarzgelben nach einer völlig verkorksten Saison im Brot-und-Butter-Wettbewerb untergehen werden. Erst am vergangenen Wochenende gab es 1:4-Lasche bei RB Leipzig.
"Wir nehmen das komplett wahr"
Es gehört zu den ganz großen Mysterien dieser Spielzeit, dass der BVB in der Liga ein ums andere Mal rätselhaft schwache Leistung abruft, um dann auf der großen Bühne den ramponierten Ruf wiederherzustellen. Der grenzenlosen Liebe der Fans kann sich der Verein immer sicher sein, der Zustimmung zu den Auftritten nicht. So wurde zwischenzeitlich vieles bis alles infrage gestellt. Coach Edin Terzić etwa. Oder auch die Transferpolitik. Aber an diesem Mittwochabend wirken all die Debatten wie aus einer anderen Zeit. Der plötzliche Sommereinbruch flutete die Stadt mit einer kollektiven Glückseligkeit: Das ganz große Ding ist zu Gast. Die Champions League. Das erste Halbfinale. "Wir nehmen das komplett wahr. In den sozialen Medien, aber auch vor dem Spiel, wenn wir ankommen. Die Fans sind das, was Borussia Dortmund ausmacht", sagte Mats Hummels. Ein Quell der Kraft. Eine fiebrige Stimmung. Und ein Vorgeschmack auf den EM-Sommer, der ja auch in der Ruhrgebietsmetropole einen prominenten Standort hat.
Wenn der Vorhang für dieses Spektakel namens Champions League beiseite gezogen wird, dann ist alles noch ein bisschen wilder, ein bisschen intensiver als sonst. Die Hymne "You'll never walk alone" entfaltet eine gigantische Power, die Anfeuerungen für das eigene Team schallen lauter, die Pfiffe für den Gegner sind dröhnender. So baut sich eine atemberaubende Kulisse über die Südtribüne auf, die schnell das ganze Stadion umfasst, in dem auch mehrere tausend ausgelassene PSG-Anhänger eine große Party feierten. Alles friedlich. Der BVB knallte direkt los. Mit Mut. Und mit einem Jadon Sancho, der richtig Bock auf kicken hat. Das Schaufenster, das sich bot, war ein großes und wichtiges für ihn. Ob er beim BVB bleibt, ist unklar. Ob er zurück zu Manchester United muss, ebenfalls. Und einen Platz im englischen EM-Kader hat der Flügelstürmer, der so lange in der Krise steckte, auch längst nicht sicher. Sancho haute alles rein, Tempo, Finesse, Leidenschaft. Er spielte wie früher, als er Europa mit dem BVB eroberte. Er darf das Spiel als sehr gute Bewerbung für alles, was noch zu kommen hat, werten.
Das Geschehen auf dem Rasen hatte eine direkte Wirkung auf das Tun auf den Rängen. Rannte der BVB nach vorne, sprang das Stadion auf. Ließ PSG den Ball zirkulieren, ging es zurück in die Sitzschale. Weil das Spiel hin und her wogte, war das für viele Besucher ein überraschend anstrengendes Workout am Feiertag. Die erste Welle der schwarzgelben Attacken verebbte, und lediglich einmal sprang die Gischt richtig hoch. Marcel Sabitzer scheiterte nach 14 Minuten aus spitzem Winkel, er war von Sancho schön freigespielt worden. Lars Ricken, dem neuen Geschäftsführer Sport, gefiel, was er sah. Wenn die Leistung der Dortmunder am ersten Arbeitstag der Klub-Legende im neuen Amt die Benchmark für alles Zukünftige ist, dann entsteht da was Großes.
Adeyemi ackerte wie wild nach hinten
Aber mit dem Schuss von Sabitzer verabschiedete sich die schwarzgelbe Herrlichkeit vorerst von der Bühne. Als zweiter Protagonist trat nun Ex-Spieler Ousmane Dembélé in Erscheinung. Dessen Tempo und Kunst am Ball sind noch immer eine Augenweide, auch wenn der Flügelstürmer schwierige Jahre hinter sich hat. Immer wieder zog er gegen Ian Maatsen an, der Leihspieler des BVB musste mächtig leiden, hielt aber auch voll dagegen. Nach 18 Minuten hatte Dembélé bereits zweimal auf das Dortmunder Tor geschossen. Beide Mannschaften suchten das Tempo und versuchten dem Gegner des Tempo zu nehmen. Es wurde ein rasende Nacht.
Auftritt des dritten Protagonisten: Karim Adeyemi, der Torschütze beim letzten Duell Ende Dezember in der Gruppenphase. Was ihn mit Sancho und Dembélé eint: Nicht immer ist es einfach für ihn. Schnell ist er ja, aber in seiner letzten Aktion eben nicht immer glücklich. Ein Fan schimpfte nach einer frühen Hereingabe ins Nichts: "Das ist manchmal scheiße und dann ist es eben kacke." An diesem Abend packte sich Adeyemi aber selbst beim Schopfe und glänzte im Blaumann. Nach 32 Minuten sprintete er Dembélé hinterher und lief ihm den Ball ab. Nicht zum ersten Mal, aber nun besonders beeindruckend. Der nicht für seine defensive Hartnäckigkeit bekannte Offensivspieler bekam danach großen Applaus und Becker-Fäuste von den Abwehrkollegen Mats Hummels und Nico Schlotterbeck.
Der (also Schlotterbeck) hatte vier Minuten später eine Sensationsidee und lupfte den Ball perfekt in den Lauf von Niclas Füllkrug, der den Ball perfekt mitnahm und mit einem Schuss aus rund 14 Metern perfekt in die kurze Ecke nagelte. Grüße an Bundestrainer Julian Nagelsmann, der ja mit Ausnahme von Füllkrug alle DFB-Kandidaten der Borussia zuletzt außer Dienst gestellt hatte.
Tatsächlich musste an diesem Abend vieles perfekt laufen, um das Luxus-Ensemble aus Paris niederzuringen. Offensiv gelang das nicht immer, viel zu oft wurden Angriffe mit schlampigen Bällen zunichtegemacht, Chancen vergeben. Sabitzer ließ das 2:0 in der 44. Minute aus, sein Abschluss landete direkt bei Gianluigi Donnarumma.
PSG spielt den BVB minutenlang schwindelig
Aber dafür stimmte die Arbeit gegen den Ball und das Selbstvertrauen, sich spielerisch aus dem immer wieder aufblitzenden Druck der Gäste zu befreien. Phasenweise war das ein feuriger Tanz mit dem Leichtsinn, aber immer wieder gelang die Drehung bevor der Abgrund zu nah kam. Die Innenverteidiger und die Außenspieler Julian Ryerson und Ian Maatsen kämpften erfolgreich bis zum Umfallen gegen die schnellen, technisch brillanten PSG-"Raketen" (so Füllkrug).
Für ein paar Minuten richtig schwindelig wurde es den Borussen nach der Pause. PSG zog das Tempo an. Und wie. Superstar Kylian Mbappé, auf den sich stets zahlreiche BVB-Spieler stürzten, knallte den Ball an den Innenpfosten (51.). Sekunden später das nächste donnernde Peng, Hakami tat es Mbappé gleich. Das ging plötzlich alles viel zu schnell für die Dortmunder. Wieder Mbappé (54.), dieses Mal rettete Gregor Kobel. Dann Fabián Ruiz, er köpft aus kurzer Distanz daneben (55.). Ängstliche Blicke im Stadion, die Stimmung intensiv, angespannt, mitreißend. Königsklasse. "Un stade rempli de malades mentaux!" Die Südtribüne gab den kräftigen Takt vor. "Es fühlt sich in diesem Stadion immer so an, als wenn man schon mit 1:0 ins Spiel geht, weil man diese wahnsinnige Unterstützung hat, besonders auch in Phasen, in denen es nicht so gut läuft", schwärmte Füllkrug.
Plötzlich sprintete Sancho wieder los, ließ Gott und die Welt stehen, drang in den Strafraum ein, sah Füllkrug in der Nähe des Elfmeterpunkts, allein. Sein Pass kam an, aber der Ball segelte drüber. Da war die Vorentscheidung möglich gewesen (61.). Drei Minuten später flankt Julian Brandt auf Füllkrug, der wird beim Kopfball gestoßen. Kein Elfmeter, vermutlich die richtige Entscheidung. Der BVB hatte den Houdini gemacht und sich befreit. Wieder Füllkrug frei, wieder drüber (66.). Dann meldete sich Paris zurück. Das Momentum wusste gar nicht mehr, wohin es rasen sollte. Alles außer Kontrolle. Keine Ordnung mehr im Spiel, nirgendwo. Nur noch hochklassiges Chaos. In diesem wirbelte Dembélé. Finte hier, Finte dort. Abschluss hier, Abschluss dort. Ein Tor aber fiel nicht mehr. Weil der BVB alles in diesen Kampf reinwarf, der zuvor in der Gruppenphase einmal im großen Frust geendet (0:2 in Paris) und einmal ein heißer Höllentanz gewesen war (1:1).
Anführer der Dortmunder Blaumann-Group war Mats Hummels. Ein echter Tatortverhinderer. Immer da, bevor etwas ganz Schlimmes passiert war. "Es war ein echtes Topspiel", jubelte er. Sein vielleicht letztes CL-Spiel für den BVB im heimischen Stadion. Seine Zukunft ist noch immer unklar, und "nichts entscheiden", wie er betonte. "Wir waren sehr erwachsen und sehr reif. Du kannst einen Mbappé, einen Barcola oder einen Dembélé nicht 90 Minuten ausschalten. Dass da Chancen entstehen, ist normal. Trotzdem mussten wir ins Risiko, denn wenn man auf diesem Niveau erfolgreich sein will, geht es nicht anders." Die Fans sangen: "Auf geht's Dortmund kämpfen und siegen. Und weil wir dich so lieben, gewinnst du dieses Spiel für uns!" Und die taten, wie ihnen geheißen. Alles war außer Kontrolle. Wie herrlich.
Quelle: ntv.de