Fußball

WM-Ernüchterung statt DFB-Rekord Brasilien bestraft Löws Experimentierwut

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In 22 Spielen ohne Niederlage verlernt Fußball-Weltmeister Deutschland das Verlieren. Dann kommt der letzte Test vor der WM-Kadernominierung gegen Rekord-Weltmeister Brasilien - und eine DFB-Niederlage zur Unzeit. Auch, weil sich Bundestrainer Löw personell verzockt.

Immerhin: Die Choreografie vor Spielbeginn, die das komplette Berliner Olympiastadion in eine riesige EM-Werbetafel verwandelte, war hübsch anzusehen. Und als während der brasilianischen Nationalhymne die zusammengeknüllten weißen Choreo-Pappen von den Rängen des Olympiastadions Richtung Rasen segelten und Assoziationen an das Schwenken weißer Taschentücher weckten, hatte auch das erste deutsch-brasilianische Fußballduell seit dem denkwürdigen 7:1 im WM-Halbfinale 2014 seinen surrealen Moment.

Deutschland - Brasilien 0:1 (0:1)

Tor: 0:1 Gabriel Jesus (38.)

Deutschland: Trapp - Kimmich, Rüdiger, Boateng (68. Süle), Plattenhardt - Kroos, Gündogan (81. Werner) - Draxler, Goretzka (61. Brandt), Sané (61. Stindl) - Gomez (62. Gomez)

Brasilien: Allison - Dani Alves, Thiago Silva, Miranda, Marcelo - Fernandinho,  Casemiro, Paulinho - Willian, Gabriel Jesus, Coutinho (73. Douglas Costa)

Schiedsrichter: Jonas Eriksson

Surreal dürfte Fußball-Weltmeister Deutschland aber vor allem das Endergebnis vorgekommen sein, nachdem die DFB-Elf zuvor in 22 Spielen ohne Niederlage das Verlieren verlernt hatte. 0:1 (0:1) hieß es am Ende im Duell des Weltmeisters mit dem Rekordweltmeister, der aktuellen Nr. 1 der Weltrangliste mit der Nr. 2. Für die DFB-Pleite im letzten Testspiel vor der Nominierung des WM-Kaders am 15. Mai, die erste überhaupt seit dem verlorenen EM-Halbfinale 2016 gegen Frankreich, sorgte Gabriel Jesus (38.). Er überwand DFB-Keeper Kevin Trapp mit einem Kopfball aus drei Metern, betrieb damit nach dem WM-Debakel aktive brasilianische Traumabewältigung und verhinderte, dass Deutschland seine Rekordserie von 23 Spielen ohne Niederlage einstellte.

Die besten DFB-Chancen vergaben Ilkay Gündogan (17.) und Mario Gomez (29.). Nach der Pause versandeten vielversprechende Angriff in der brasilianischen Abseitsfalle oder in Ungenauigkeiten beim finalen Pass. Ein Schuss von der Julian Draxler in der Nachspielzeit brachte noch einmal ein kollektives Raunen. Den Ausgleich brachte er nicht.

Großrotation geht nicht auf

Löw imd der ausgewechselte Boateng: Die Null stand erneut nicht.

Löw imd der ausgewechselte Boateng: Die Null stand erneut nicht.

(Foto: picture alliance / Soeren Stache)

Vor dem WM-Auftakt am 17. Juni gegen Mexiko bleiben Löw und seiner DFB-Elf nun die Testspiele gegen Österreich (2. Juni) und Saudi-Arabien (8. Juni), um nach inzwischen vier sieglosen Spielen in Serie noch Erfolgserlebnisse für die Mission WM-Titelverteidigung zu sammeln. Dass es 1357 Tage nach dem Wunder von Belo Horizonte diesmal ausgerechnet gegen das unter Nationalcoach Tite wieder zum WM-Titelanwärter erstarkte Brasilien die Ernüchterung von Berlin setzte und die DFB-Elf am Ende beider Halbzeiten von Pfiffen und Buhrufen in die Kabine begleitet wurde, dazu trug Bundestrainer Joachim Löw mit seiner eigenwilligen Personalpolitik allerdings maßgeblich bei.

Mindestens fünf Wechsel in der Startelf hatte Löw nach dem Testspiel-Leckerbissen gegen Spanien für das Rendezvous mit Brasilien angekündigt und bereits damit den Rekord-Weltmeister pikiert. Am Ende wurden es sogar sieben in Berlin. Der Bundestrainer gefällt sich auch im zwölften Amtsjahr bisweilen noch immer gern als überraschender Großrotator. Von der Löw‘schen Experimentierwut blieben in Berlin lediglich Rechtsverteidiger Joshua Kimmich, Mittelfeldmetronom Toni Kroos und Abwehrchefkritiker Jerome Boateng verschont. Aber ohne Torwart Kevin Trapp, Linksverteidiger Marvin Plattenhardt, Bald-Bayer Leon Goretzka, Innenverteidiger Antonio Rüdiger und Sturmveteran Mario Gomez zu nahe zu treten wollen: Die aufregendsten Neuzugänge in der deutschen Anfangsformation waren das Man-City-Duo Ilkay Gündogan und Leroy Sane, das sich nicht wenige Fans und Experten auch bei der WM in der Startelf wünschen.

Warum genau, ließ sich in der Berliner Experimentalelf lediglich in Ansätzen bestaunen. In der 17. Minute leitete Gündogan mit einem öffnenden Pass auf Sane den ersten konstruktiven DFB-Angriff ein. Über Draxler, der von der Grundlinie mit Übersicht zurücklegte, landete der Ball im Strafraum wieder bei Gündogan. Zu dessen Abschluss aus halblinker Position hätte die Stadionregie allerdings "Über den Wolken" einspielen können, sein Schuss aus dreizehn Metern ging ungefähr vierzehn Meter am Tor vorbei und fünfzehn Meter drüber.

Experimentelles Stückwerk

Silva und Wagner im Zweikampf

Silva und Wagner im Zweikampf

(Foto: picture alliance / Christian Cha)

Ansonsten blieb ziemlich lange ziemlich viel experimentelles Stückwerk im deutschen Angriffsspiel. War beim surrealen 7:1 vor vier Jahren in Belo Horizonte nach 29 Minuten beim Stand von 5:0 für Deutschland bereits alles entschieden, fehlte es der Partie in Berlin zu diesem Zeitpunkt immer noch an Rhythmus, auf beiden Seiten. In der 27. Minute schwappte zwar die erste La Ola durchs Olympiastadion, allerdings weniger aus Begeisterung über das Geschehen auf dem Rasen denn angesichts der kühlen Temperaturen im Stadion. Nach dem Feinschmeckerfußball gegen Spanien, in dem beide Teams mit Technik, Tempo und Passsicherheit bestochen hatten, boten beide WM-Aspiranten vergleichsweise biedere Fußballkost.

Die erste echte Großchance hatte Gabriel Jesus in der 36. Minute, als er nach einem Konter die deutsche Innenverteidigung um Kapitän Boateng und Rüdiger schön aussteigen ließ, sich im Strafraum die Zeit nahm, zielte - und den Ball dann übers rechte Toreck jagte. Schon zwei Minuten später betrieb der Sturmstar von Man City aber Wiedergutmachung. Nach einer schönen Flanke von Willian, den Plattenhardt nicht entscheidend störte, kam Jesus aus drei Metern völlig frei zum Kopfball. Trapp war dran, der Ball dreht sich aber über ihn hinweg ins deutsche Tor.

Mit Pfiffen ging es in die Pause. Die Hoffnung der deutschen Fans auf einen Sturmlauf nach der Pause erfüllte sich nicht. Brasilien war lange näher am zweiten Tor. Mit seinen insgesamt fünf Wechseln konnte Löw das Stückwerk im deutschen Spiel nicht beheben, die Statik der Partie nicht entscheidend zugunsten der DFB-Elf verändern. Spätestens mit der Einwechslung von Niklas Süle für Abwehrchef Boateng in der 68. Minute schien es dann, als würde nun Löw die weiße Fahne schwenken.

Der erste Anzug sitzt, aber ...

Was im vor allem aus Brasilien beförderten Trauma-Trubel vor dem Spiel etwas untergegangen war: Die deutsche Gesamtbilanz gegen Brasilien ist bescheiden, das 7:1 im WM-Halbfinale war überhaupt erst der fünfte Sieg in 22 Duellen gewesen. In Berlin, wo sich die DFB-Elf traditionell schwer tut, kam nun die 13. Niederlage hinzu. Auch, weil Brasiliens Nationalcoach Tite seine in Abwesenheit der verletzten PSG-Stars Neymar und Marquinhos seine stärkste Elf aufbot und ihr mit nur einem Wechsel Gelegenheit bot, sich einzuspielen und Selbstvertrauen zu sammeln.

Löw wird die Niederlage verschmerzen können, der WM-Titel hat ihn gelassener gemacht. Vor der Partie hatte sich der Bundestrainer primär Erkenntnisse für sein WM-Casting erhofft. An gewinnbringenden Erkenntnissen durfte er aus Berlin mitnehmen: Der erste DFB-Anzug passt immer noch recht vorzüglich. Der zweite sorgt zumindest gegen Topteams wie die souveräne Brasilianer bisweilen doch für unschöne Flickschusterei im DFB-Spiel, wenn nicht jeder Akteur in Topform agiert. Der aktuellen deutschen Fußballmode, die Tempo, Ballkontrolle und defensive Stabilität vereint, genügt die zweite Garnitur nicht.

Trotzdem: Sofern sich keiner der 26 WM-Aspiranten im Kader für den Doppelkracher-Test gegen Spanien und Brasilien verletzt, dürften bis zum WM-Start keine größeren Umbauarbeiten mehr nötig sein. Ein Marco Reus in Topform würde dem deutschen Spiel mit seiner Geschwindigkeit und seiner Abschlussstärke gut tun. Und das abwesende Weltmeister-Trio Mario Götze, Benedikt Höwedes und Andre Schürrle? Es wurde nicht vermisst.

Quelle: ntv.de

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