Emotionen, Ausraster, Provokationen "Copa ist ein bisschen wilder und heißer"
03.07.2015, 12:38 Uhr
Wenn Copa ist, geht es immer heiß her - auf dem Platz und neben den Stadien.
(Foto: REUTERS)
Argentinien trifft im Copa-Finale auf den Gastgeber Chile. Messi auf Vidal. Spielwitz auf Teamgeist. Ein Duell mit einem kleinen Favoriten, wie Experte Lutz Pfannenstiel im n-tv.de-Interview sagt. Er weiß auch, wer überrascht und enttäuscht hat, ob es einen Superstar bei der Südamerika-Meisterschaft gibt - und warum es die "Finger im Po"-Attacke gab.
n-tv.de: Herr Pfannenstiel, bei der Copa steht das Finale an. Argentinien trifft nach einem fulminanten 6:1 gegen Paraguay auf den Lokalmatadoren Chile. Ist diese Konstellation eine Überraschung?
Lutz Pfannenstiel ist der erste Fußballer, der in seiner Karriere auf sechs Kontinenten gespielt hat: 25 Vereine in 13 Ländern - nachzulesen in "Unhaltbar - Meine Abenteuer als Welttorhüter". Seit seinem Karriereende verantwortete er unter anderem den Bereich International Relations und Scouting beim Fußball-Bundesligisten 1899 Hoffenheim. Er war von 2018 bis 2020 Sportdirektor beim Bundesliga-Traditionsverein Fortuna Düsseldorf. Seit August 2020 ist er Sportdirektor beim MLS-Verein St. Louis City SC.
Pfannenstiel ist zudem als TV-Experte für verschiedene nationale und internationale Sender wie ESPN, SRF, BBC und DAZN tätig. Er ist Auslandsexperte beim DFB und Trainerausbilder bei der FIFA. Pfannenstiel ist zudem der Gründer von Global United FC.
Lutz Pfannenstiel: Nein, absolut nicht. Chile hat ja schon gezeigt, dass man mittlerweile eine Topmannschaft ist - nicht nur in Südamerika, sondern weltweit. Beim Freundschaftsspiel vor der WM 2014 bewies man in Deutschland, dass man mit den ganz Großen mehr als nur mithalten kann. Dazu spielen die Chilenen vor heimischem Publikum, das beflügelt zusätzlich. Von daher war damit zu rechnen, dass Chile sehr weit kommen wird.
Und Argentinien?
Argentinien hatte zwar die üblichen Anfangsschwierigkeiten mit dem 2:2 gegen Paraguay in der Gruppenphase. Danach kam man aber immer besser ins Turnier, und beim 6:1 im Halbfinale zeigte das Team seine ganze Leistungsstärke. Und genauso gilt, dass mit den Argentiniern bei einem Turnier immer zu rechnen ist. Also absolut kein überraschendes Finale.
Wer setzt sich am Ende durch und warum?
Wenn du im eigenen Land ein sehr überzeugendes Turnier spielst, dann hast du schon eine kleine Favoritenrolle inne. Chile ist ja auch in die Copa gestartet, um etwas zu reißen, um den Titel zu holen. Argentinien fährt zu jeder Copa als Mitfavorit. Die individuelle Stärke der einzelnen Spieler spricht eher für die Gauchos, aber Chile trat bisher als die homogenste Einheit bei diesem Turnier auf.
Spricht für Argentinien auch der "Mannschaftsspieler Messi"? Allein im Halbfinale hat er fünf Treffer vorbereitet …

Superstar Messi: Kein Tor, aber fünf Vorlagen beim 6:1-Kantersieg im Halbfinale gegen Paraguay.
(Foto: picture alliance / dpa)
Messi hatte schon immer damit zu kämpfen, dass es hieß: Im Verein Weltklasse, aber in der Nationalelf bringt er bei großen Turnieren nicht dieselbe Leistung. Ich glaube einfach, dass der Druck auf ihn zu groß war. Der Vergleich mit Diego Maradona war eine zu große Last auf seinen Schultern. Das hat sich inzwischen etwas gewandelt, weil auch noch andere Stars wie Di Maria, Higuain oder Agüero herausragen. Zudem ist nicht mehr das ganze Spiel, wie bei der WM-Enttäuschung 2010 in Südafrika, auf ihn abgestimmt, quasi zugeschnitten. Das Team steht mittlerweile wieder im Vordergrund, und Messi ist ein Teil dieses Teams. Das war schon bei der WM in Brasilien im vergangenen Jahr zu sehen. Das sieht man jetzt auch wieder bei der Copa. Aber Messi kann halt auch ein Spiel allein entscheiden.
Das Finale könnte auch Messi gegen Vidal heißen. Wer ist der Star der Copa 2015?
Im Halbfinale war Messi mit seinen fünf Torvorbereitungen überragend. Einfach grandios! Aber Vidal hat das ganze Turnier überzeugend gespielt. Er ist vorangegangen, hat die entscheidenden Situationen eingeleitet und ist die Gallionsfigur des chilenischen Spiels, der Kopf der Mannschaft. Sollte Chile das Finale gewinnen, ist er der Star dieses Turniers. Umgekehrt wird wohl bei einem Sieg Argentiniens Messi der überragende Spieler der Copa 2015.
Und wer gewinnt die Copa?
Wenn Argentinien Paraguay nicht mit 6:1 weggeputzt hätte, wäre Chile mein Favorit gewesen (lacht). So wird es eine ganz enge Kiste mit viel Taktik, aber auch Beißen und Kratzen. Trotzdem tippe ich auf ein 2:1 für Chile.
Welches Team hat beim Turnier überrascht?
Peru hat mich wirklich überrascht. Ich hatte Peru gar nicht auf der Liste, weil sie in den vergangenen WM-Qualifikationen nicht wirklich gut ausgeschaut haben. Bei der Copa scheinen sie aber öfters über sich hinauszuwachsen. Aber das Abschneiden Perus zeigt auch, dass die Leistungsdichte in Südamerika enorm zugenommen hat. Früher gab es die zwei Übermannschaften Brasilien und Argentinien. Sie waren das Maß der Dinge. Bolivien, Venezuela, aber auch Peru und Ecuador waren die vermeintlich Kleinen. Das hat sich klar gewandelt. Mittlerweile kann fast jeder jeden schlagen.
Welche Mannschaft hat enttäuscht?

Lutz Pfannenstiel spielte während seiner Profilaufbahn auch für zwei brasilianische Vereine.
(Foto: Lutz Pfannenstiel)
Mexiko hat mich sehr enttäuscht. Irgendwie scheint der mexikanische Fußball in den vergangenen Jahren in ein Loch gefallen zu sein. In Nord- und Mittelamerika war man jahrzehntelang die Nummer eins. Jetzt ziehen die USA davon. Für die WM-Qualifikationen reicht es meist noch, aber das war's dann. Das ist schade und sollte eigentlich nicht der Anspruch sein, weil Mexiko ein absolutes Fußballland ist.
Und Brasilien? Die wollten ja eigentlich ihre Fans nach dem blamablen Halbfinal-Aus gegen Deutschland bei der Heim-WM versöhnen
Brasilien zählt auch zu den negativen Überraschungen dieser Copa. Nicht nur vom Endprodukt her, sondern auch von der Art und Weise des Spiels, hat die Selecao enttäuscht. Vielleicht hat es auch am frühen Aus von Neymar gelegen, aber der brasilianische Fußball ist momentan im Tief, braucht eine Runderneuerung. Eine Revolution sozusagen, denn der Fisch stinkt vom Kopf her, will sagen: von den Funktionären abwärts...
Apropos: Neymars Rote Karte war nur eine von vielen. Da wäre beispielsweise noch Zambranos Tritt in den Rücken des Chilenen Aranguiz, dazu weitere Ausraster, Provokationen und verbale Scharmützel auf dem Platz: Wieso kochen bei der Copa die Emotionen immer so hoch?

"Finger im Po"-Attacke des Chilenen Jara bei dem Kolumbianer Cavani: eine Szene mit folgen für Cavani, der sieht die Rote Karte.
(Foto: REUTERS)
Das hat mit der südamerikanischen Mentalität zu tun. Gelbe und Rote Karten gehören in den Ligaspielen in Brasilien und Argentinien zur Tagesordnung, auch in den Partien der Copa Libertadores sieht man unglaubliche Szenen. Es kommt auch öfter vor, dass der Schiedsrichter angegriffen wird. Das ist da leider so und liegt auch am heißblütigen, hitzigen Temperament der Spieler. Nickligkeiten und Provokationen, wie beispielsweise der Finger von Jara im Hintern von Cavani - so ist einfach der südamerikanische Fußball. Es wird einfach mit härteren Bandagen gespielt als in Europa beispielsweise. Getreu dem Motto: Hier bin ich Macho, hier darf ich's noch sein.
Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass bei der Copa zwei mittelamerikanische Teams per Wild Card mitspielen dürfen. Wäre so ein Vorgehen auch bei der Euro denkbar? Eine EM mit Argentinien, Australien oder Japan?
Nein, auf gar keinen Fall. In Südamerika hat man zehn Mannschaften. Man könnte zwei Gruppen mit je fünf Teams bilden. Man hat sich aber für den Griff in die Trickkiste, die Zwölf-Mannschaften-Variante, entschieden. Dann brauchst du eben noch zwei weitere. In Europa gibt es so viele Mannschaften inklusive einer harten EM-Qualifikation, dass sich diese Frage gar nicht stellt.
Gibt es weitere Unterschiede zu anderen Kontinentalmeisterschaften wie beispielsweise der Euro?
Ja, bei der Copa kennen sich die Länder in- und auswendig. Sie spielen auch in der WM-Qualifikation gegeneinander, dann bei der Copa. Irgendwann weißt du genau, wer wann wie wo spielt. In Europa wäre das vergleichbar damit, wenn etwa nur Deutschland, Spanien, England, Italien, Frankreich, Portugal immer gegeneinander spielen: erst die WM-Quali, dann die Europameisterschaft. Das wäre ein ständiges Wiedersehen, ein ständiges Déjà-vu.
Spricht das eher für oder gegen das spielerische Niveau?
Ich glaube, dass das Niveau bei einer Euro höher einzuschätzen ist. Auch weil es Überraschungsmomente gibt. Es gibt in Europa einfach mehr Topteams. Aber man muss auch sagen: Nach der Euro ist die Copa ohne Frage die zweitbeste Kontinentalmeisterschaft der Welt.
Was macht die Copa für den Fußballfan so speziell?
Die Emotionen. Die Stimmung in den Stadien. Es ist alles ein bisschen wilder, ein bisschen heißer. Die Rivalität zwischen den Ländern ist noch extremer als in Europa. Zudem gibt es keine Sprachbarriere. In allen Ländern wird spanisch gesprochen, bis auf Brasilien. Aber Portugiesisch und Spanisch sind sich nicht so fremd wie beispielsweise Russisch, Deutsch, Isländisch und Englisch. Das vereinfacht die Kommunikation auf dem Platz, auf den Rängen und um die Stadien. Als Fußballfan sollte man auf alle Fälle einmal bei der Copa gewesen sein!
Was bleibt am Ende von der Copa 2015?
(Lacht) Auf alle Fälle bleibt die Finger-im-Po-Attacke von Chiles Jara in den Köpfen der Fans hängen. Dazu aber auch, dass das Niveau der Mannschaften sich annähert und sich Chile als dritte Topkraft des Kontinents etabliert hat. Und: Dass Topspieler nicht nur aus Brasilien und Argentinien kommen müssen.
Mit Lutz Pfannenstiel sprach Thomas Badtke
Quelle: ntv.de