Mesut Özil beendet Karriere Das Fußball-Genie, das Deutschland spaltete
22.03.2023, 14:04 Uhr
(Foto: dpa)
Mesut Özil beginnt seine Karriere bei Schalke 04 im August 2006. Sie endet über 16 Jahre später bei Basaksehir in der Türkei. Einmal ist er der größte Star des deutschen Fußballs. Dann beginnt ein ungebremster Absturz. Bei seinem letzten Auftritt in Deutschland wird er ausgepfiffen. Was ist passiert?
Er steht in der Tradition der größten Spielmacher aller Zeiten um Michel Platini, Socrates oder Juan Riquelme - und dennoch ist er fast vergessen: Mesut Özil ist bis zu diesem Mittwoch offiziell aktiver Fußballprofi. Wobei die Bezeichnung aktiv irreführend ist. In acht Spielen für Basaksehir FK steht er in dieser Saison gerade einmal 187 Minuten auf dem Platz. 45 davon spult er am 2. Februar ab. Es sind tatsächlich die letzten in seiner Karriere, hernach entscheidet er, dass die Fortsetzung seiner ebenso großartigen wie polarisierenden Laufbahn keinen Sinn mehr macht. Wenige Tage später kommen die ersten Gerüchte auf. Bis zu seiner endgültigen Entscheidung dauert es beinahe zwei Monate. Dann ist es vorbei: Auch, weil der Körper nicht mehr so richtig will. Rückenprobleme stellen ihn in dieser Saison monatelang außer Dienst.
An seinen besten Tagen, und er hat viele beste Tage, kann Özil den tödlichen Pass in die Spitze mit einer ungeheuren Präzision spielen. Er sieht Laufwege, die sonst keiner sieht. Er macht das bei Real Madrid an der Seite von Cristiano Ronaldo, beim FC Arsenal und natürlich auch in der deutschen Nationalmannschaft. Aufgrund dieser einzigartigen Fähigkeiten schneidet Bundestrainer Joachim Löw das Spiel seiner Offensive auch fast komplett auf ihn zu. Bei der WM 2010 deutet sich an, wie gewinnbringend das sein kann. Vier Jahre später zahlt es sich aus. Doch den Heldenstatus, den sich der Spielmacher international erworben hatte, der bleibt ihm in Deutschland überwiegend verwehrt. Das Ende seiner Karriere im DFB-Team wird sogar richtig schmutzig und artet in eine rassistische Debatte aus.
Kurz vor der peinlich vergeigten Weltmeisterschaft 2018 in Russland lassen sich Özil und sein DFB-Kollege İlkay Gündoğan mit dem international umstrittenen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ablichten. Ein knackiger Shitstorm ergießt sich über die beiden Fußballer aus dem Ruhrgebiet. Doch während Gündoğan später spricht, schweigt Özil lange - und vergiftet damit auch die Diskussion um seine Person, die jegliche Hemmung verliert und zu einer der dreckigsten der jüngeren deutschen Fußballgeschichte wird. Über Monate hinweg.
Özil, der Ballstreichler
Als sich der erste Sturm legt, facht Özil die Glut neu an. Seine in drei Akten bis zur Katharsis "DFB-Ende" vollzogene Twitterrüge ist eine Abrechnung mit dem wuchernden Rassismus, den Özil, der da schon seit acht Jahren kein Bundesliga-Spieler mehr ist, in Deutschland auf nahezu allen Ebenen spürt: bei Fans, bei Medien, bei Sponsoren, bei Politikern und ganz besonders an der Spitze des DFB, beim damaligen Präsidenten Reinhard Grindel. Die Affäre ist übergroß und politisch in einer Öffentlichkeit, die Özil scheut und doch sucht. Sie ändert alles.
Mesut Özil ist stets einer, der mit seinem überragenden Talent nur auf dem Platz agieren will. Und in den sozialen Medien. Bei Facebook, Twitter, Instagram. Seiner Öffentlichkeit, einer selbstbestimmten. Denn auch dort gedeihen und funktionieren Heldengeschichten. Dort inszenieren sich nicht nur junge Mädchen mit perfekten Fotos als neue Werbeikonen der Schönheits- und Modeindustrie, dort lassen sich nicht nur ganz normale Jungs von Unternehmen für Jungsthemen instrumentalisieren, dort leben auch Fußballer ihr "Ich" aus. Und sie tun das umso exzessiver, je weniger sie der Öffentlichkeit sagen wollen oder können. So wie Mesut Özil. Knapp 25 Millionen Instagram-Followern gibt der Kreativling regelmäßig Eindrücke aus seinem Leben. Es geht fast ausschließlich um Fußball. Geschrieben sind seine Botschaften fast immer in Englisch. Meist sind die an die muslimische Welt gerichtet. Dort ist er immer noch ein Star.
Womöglich wäre er ein ganz anderer Typ geworden, hätte es nicht diese Diskrepanz gegeben zwischen dem, was er zeigte und dem, was wahrgenommen wurde. Schon früh wird seine Körpersprache kritisiert und immer, wenn es nicht läuft, wird ihm Lustlosigkeit vorgeworfen. "Wenn ich mich bei Spielanalysen selbst auf Video sehe, dann verstehe ich auch, was damit gemeint ist", sagt er während der WM 2014 und verspricht eine Karriere lang Besserung. Es will ihm nicht gelingen, es wird diesen womöglich virtuosesten deutschen Fußballer aller Zeiten immer begleiten.
Einer, der den Ball mit seinem linken Außenrist streichelt, den Gegner mit seinen schnellen Berührungen stehen lässt, der mit seinen Augen überall ist und mit seinen Pässen Lücken findet, die nur die Größten finden. Er streichelt die Bälle mit Präzision und Übersicht in den Strafraum. Immer wieder von links, immer wieder wird kurz darauf gejubelt. Wenn es nicht anders geht, hebelt er mit einem Blick gesamte Verteidigungen aus. Aber Mesut Özil kann noch etwas. Er kann das Spiel radikal verlangsamen, es zäh verschleppen, es beruhigen. Das sieht manchmal lustlos, ja verhuscht ängstlich aus. Ein Führungsspieler ist er so nicht. Dafür wird er von manchem verachtet, gehasst. Er könnte doch so viel mehr sein. Und ja, Hass ist das richtige Wort.
Ronaldo lobt Özil
Özil ist der einzige Spieler, der in einer Saison sowohl in der Bundesliga als auch in der Primera Division und der Premier League erfolgreichster Vorlagengeber war. Für Liebhaber des schönen Spiels ist er einer der Besten, die es in Deutschland je gab. Seine Technik ist brillant. Ebenso wie Kroos verliert er selbst unter Stress nur ganz selten Ball und Kontrolle. Er ist jederzeit in der Lage, das Spiel seiner Mannschaft besser zu machen, zu öffnen, zu beschleunigen, es wunderschön und gefährlich zu machen.
Unvergessen der englische Kommentar beim Spiel, das Mesut Özil auf die Landkarte des internationalen Fußballs setzt: "Müller hat wieder unglaublich viel Platz. Und Özil findet ihn. Deutschland steht im Viertelfinale der Weltmeisterschaft." Drei Sätze. Vorgetragen nach einem perfekten Konter der DFB-Elf im Achtelfinale der WM 2010 gegen England. Der bemitleidenswerte Gareth Barry versucht noch irgendwie den Durchbruch Özils zu stoppen, doch gelingen will ihm das nicht. Der damalige Spieler von Werder Bremen stürmt die linke Seite entlang, bewegt sich in den Strafraum und sieht Thomas Müller. 4:1 für das Team von Joachim Löw, das bei dem Turnier in Südafrika den wohl schönsten DFB-Fußball der vergangenen Jahrzehnte zeigt.
Özil gewinnt bei diesem Turnier die Herzen der Beobachter, und am Ende des Sommers findet er sich bei Real Madrid wieder. José Mourinho hatte sich in den damals 21-Jährigen verliebt. Der Gelsenkirchener kommt im Doppelpack mit Sami Khedira, den es vom VfB Stuttgart zu den Königlichen zieht. Im ersten Jahr holen sie den spanischen Pokal. Cristiano Ronaldo schwärmt: "Mesut hat mich besser gemacht". Und im nächsten Jahr gewinnen sie die Meisterschaft. Die Welt liegt dem Mittelfeldspieler zu Füßen. Er orchestriert das Spiel und befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Als er nach der Ankunft von Carlo Ancelotti keinen Platz mehr bei den Königlichen hat, wechselt er zu Arsenal. Der Hype ist unermesslich. Es dauert ein wenig, dann rechtfertigt er die über 40 Millionen Euro, die die Gunners für ihn zahlen. Immerhin haben sie im Sommer 2014 einen Weltmeister im Kader. Özil & Co vollenden in Brasilien das, was sie vier Jahre zuvor in Südafrika begonnen haben.
Der in Gelsenkirchen aufgewachsene Weltstar beendet seine Laufbahn nun in der Türkei, mit Deutschland hat er längst gebrochen, und Deutschland mit ihm. Bei seinem letzten Auftritt in seiner Heimat wird er bei einem Europa-League-Spiel in Frankfurt ausgepfiffen. Irgendwas ist passiert. Dabei fängt alles so euphorisch an. Bei Bremen, mit denen er 2009 den DFB-Pokal gewann, Werders bislang letzter Titel. In der Nationalmannschaft, dessen beliebtester Repräsentant er lange ist, und für die er erstmals am 11. Februar 2009 bei einer Niederlage gegen Norwegen aufläuft. Nur 18 Monate später zählt er zu den verheißungsvollsten Spielern des Weltfußballs. Er wird dieses Niveau über etliche Jahre halten. Bis zum beinahe letzten Tag des Jahres 2015.
Abstieg und Erdogan
In der Hinserie der Spielzeit 2015/2016 ist er bei Arsenal nicht zu stoppen. Er legt Tor um Tor auf, 16 Assists sind es allein in der Liga zwischen August und Dezember 2015, doch dann zerbricht etwas. In der Rückrunde gelingen ihm nur noch drei Vorlagen. Arsenal müht sich durch die letzten Jahre mit Arsène Wenger, und Özil verliert den Anschluss. Parallel dazu entschwindet auch seine DFB-Karriere. Wie so viele Weltmeister von 2014 passt es bei ihm auch nicht mehr. Immer weniger Spielzeit, und irgendwann ist er weg. Er wird zum „Spitzenspieler ohne Mannschaft“, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“ im Oktober 2020.
Da hat ihn der neue Trainer Mikel Arteta endgültig aus dem Kader der Gunners gestrichen. Es gibt keinen Weg zurück mehr, auch wenn Arteta alle Schuld auf sich lädt. "Ich habe als Trainer versagt", sagt er, und doch steckt wohl mehr dahinter. Özil setzt sich für das unterdrückte Volk der Uiguren in China ein, der Klub der Premier League will Geschäfte dort machen. Da ist kein Platz für die Rechte der muslimischen Minderheit. Er wolle weiterhin seine "Stimme gegen Unmenschlichkeit und für Gerechtigkeit einsetzen" sagt Özil, wechselt bald in die Türkei, sein Weg kreuzt noch immer häufiger den des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der auch sein Trauzeuge wird.
Mesut Özils sportlicher Absturz geht ungebremst weiter. Jetzt endet seine große Karriere.
Quelle: ntv.de