Legendär schlechtestes Team Die wahre Geschichte hinter der Tasmania
31.10.2020, 07:58 Uhr
Gestatten, die Tasmanen!
(Foto: imago/Horstmüller)
Der FC Schalke 04 jagt einen alten Jahrhundert-Rekord. In der Saison 1965/66 konnte Tasmania Berlin 31 Spieltage nacheinander nicht gewinnen. Die Berliner gelten als die schlechteste Mannschaft der Bundesliga-Geschichte. Doch das hatte einen triftigen Grund!
Sommer 1965. Hans-Günter "Atze" Becker, Kapitän der Regionalligamannschaft von Tasmania 1900 Berlin, genießt seinen wohlverdienten Urlaub am Strand. Plötzlich kommt ein Freund auf ihn zugelaufen: "Hör mal, Atze, Radio Luxemburg hat gerade durchgegeben: Ihr sollt so bald wie möglich nach Hause kommen!" - "Na, wieso das denn?", fragt Becker verblüfft zurück. Der Freund: "Ihr spielt jetzt in der Bundesliga!" In diesem Moment war der Anfang vom Ende eigentlich schon vorprogrammiert.
Rückblende: Einige Wochen zuvor hatte ein erster großer Skandal die Bundesliga erschüttert. Bei der Berliner Hertha hatte man den Erfolg auf Deubel komm raus einkaufen wollen. Für viel Geld - vor allem üppige Handgelder, die weit außerhalb des Erlaubten lagen - hatte man Spieler verpflichtet. Schnell geriet man in eine finanzielle Schieflage, die man kreativ zu lösen versuchte. Herthas Schatzmeister Herzog ließ 55.000 Karten schwarz bei einer Druckerei anfertigen, holte sie persönlich ab und lagerte diese in einem Sarg in seinem Beerdigungsinstitut.
Irgendwann jedoch verlor man bei der Hertha den Überblick, verstrickte sich in immer neue Widersprüche und musste schlussendlich mit ansehen, wie der Verein durch übereinstimmende Sport- und Bundesgerichtsurteile wegen "schwerer Verstöße gegen das Statut" aus der Bundesliga verbannt wurde.
So begann das Himmelfahrtskommando
Nun musste schnell gehandelt werden. Auf einem außerordentlichen Bundestag beschloss der DFB Ende Juli - nur 14 Tage vor dem Start der Liga - die Aufhebung des Abstiegs nicht nur des Karlsruher SC, sondern auch des FC Schalke 04. Gleichzeitig wurde Tasmania 1900 Berlin ohne jegliche sportliche Qualifikation in die Bundesliga aufgenommen. Mit dieser "Berlin-Hilfe" traf der DFB eine politische Entscheidung, um die Anbindung der geteilten Stadt an das restliche Bundesgebiet sportlich nicht zu gefährden. Doch für die Tasmanen war es von Anfang an nur ein Himmelfahrtskommando ohne eine echte Chance auf Erfolg.
Dennoch ging die Mannschaft erst einmal mit Eifer an die Aufgabe Bundesliga heran. Uli Sand, der behäbige Stürmer der Tasmania, hatte eine Stärke, auf die er ganz besonders stolz war: seine Freistöße. Im Grunde genommen war es auch seine einzige. Nicht, dass Sand es damit jemals zu vielen Toren gebracht hätte, aber sein Bumms war immerhin stadtbekannt und gefürchtet. Nur hatte sich dies natürlich noch nicht bis in die Höhen der Bundesliga rumgesprochen.
Etwas, das Sand offensichtlich nicht bedacht hatte, als er sich am fünften Spieltag den Ball kurz hinter der Mittellinie, knapp fünfzig Meter vor dem Tor des Gegners, zurechtlegte. Verdutzt hielt er vor der Ausführung noch einmal kurz inne und kratzte sich am Kopf. Irgendetwas war heute anders als gewöhnlich, bemerkte er, und fragte sichtlich irritiert in die Runde: "Sagt mal, wollt ihr denn gar keine Mauer machen?"
Beckenbauer hielt sich vor Lachen den Bauch
Beckenbauer, Brenninger, Drescher und Ohlhauser vom FC Bayern München hielten sich vor Lachen die Bäuche. Sepp Maier eilte mit einem breiten Grinsen aus seinem Tor und fragte neugierig, was es denn Lustiges gäbe, er wolle doch schließlich gerne mitlachen. Und Uli Sand? Der ließ sich nicht beirren, wiederholte seine Frage gar und erkundigte sich höflich, ob die Bayern denn nun wirklich keine Mauer bilden wollten.
Als sie nur lachend mit dem Kopf schüttelten, reichte es ihm und er schoss. Besser gesagt, er knallte das Leder mit Karacho hoch in die Wolken. Der Ball hob sich über Sepp Maier hinweg und prallte mit einem dumpfen Schlag von oben auf die Holzlatte. Ein Raunen ging durchs weite Rund.
Und Sepp Maier? Der Bayern-Torwart stand wie festgetackert am eigenen Sechzehner und schaute der Kugel noch lange nachdenklich hinterher. Am Ende gewannen die Münchener souverän mit 2:0 in Berlin und Uli Sand traf auch in seinen letzten sieben Bundesligabegegnungen nicht in den gegnerischen Kasten. Nach einer Mauer hat der Berliner übrigens nie wieder gefragt.
Mit dem Respekt der anderen Mannschaften war es in den folgenden Partien ebenfalls nicht weit her. Nur wenige Sportskameraden reagierten wie Uwe Seeler: "Zwanzig Tore kannst du von mir aus machen, Charly, aber nicht unseren Gegner verulken!" Die Ansage machte die HSV-Legende beim 5:1 gegen Tasmania, bei dem Dörfel das 2:0 schoss, zwei weitere Tore vorbereitete und groß aufspielte. Als er mit Beinschüssen anfing, wurde es Seeler allerdings zu bunt.
Ben Redelings ist ein leidenschaftlicher "Chronist des Fußballwahnsinns" (Manni Breuckmann) und Anhänger des ruhmreichen VfL Bochum. Der Autor, Filmemacher und Komödiant lebt im Ruhrgebiet und pflegt sein Schatzkästchen mit Anekdoten. Für ntv.de schreibt er dienstags und samstags die spannendsten und lustigsten Geschichten auf. Weitere Informationen zu Ben Redelings, seinen aktuellen Terminen und Projekten gibt es auf seiner Seite www.scudetto.de.
Bis heute gilt Tasmania 1900 Berlin als die Mannschaft der Bundesliga-Negativ-Rekorde. Leider zu Recht. Am Ende flankierten 8:60 Punkte und 15:108 Tore den abgeschlagenen 18. Tabellenplatz. Doch noch einen anderen Rekord hat der Klub inne.
827 Zuschauer im weiten Olympiastadionrund
So stammt auch die Allzeit-Minuskulisse aus dieser legendären Spielzeit 1965/66. Beim Heimspiel des SC Tasmania 1900 Berlin gegen Borussia Mönchengladbach erschienen am 15. Januar 1966 lediglich 827 Zuschauer im weiten Olympiastadionrund. Dabei hatten knapp ein halbes Jahr zuvor noch 81.524 Zuschauer das Eröffnungsspiel der Berliner gegen den Karlsruher SC gesehen. 2:0 schlug man die Badener. Was niemand auch nur ahnte: Erst im letzten Spiel gegen Borussia Neunkirchen gelang der zweite Heimsieg der Saison. Vor nur noch knapp 1.000 Besuchern gewann man mit 2:1 und sagte erfreut: "Das erste und das letzte Heimspiel gewonnen, das zählt. Was dazwischen liegt, ist nicht so wichtig."
Genau mit diesem Humor nahmen die Spieler der Tasmania die Situation irgendwann nur noch. Hans-Günter "Atze" Becker foppte den verdutzten Gladbacher Starspieler Günter Netzer, als dieser ihn nach einem 0:0 am 19. Spieltag lobte und meinte, wie ein Absteiger hätten sie aber nicht gespielt, mit den Worten: "Ach, komm. Ihr hattet doch die halbe Reserve auf dem Platz. Jetzt stell dir doch nur mal vor, der Netzer wäre auch dabei gewesen!"
Und der große, extra eingekaufte, alternde Nationalspieler Horst Szymaniak antwortete auf die Frage, wie er denn mit der Lage bei der Tasmania umgehe, ganz einfach voller Selbstironie: "Alles wunderbar. Wir peitschen doch die gesamte Bundesliga vor uns her!"
Seit damals, vor 44 Jahren, gilt Tasmania 1900 Berlin als die größte Loser-Truppe in der Geschichte des deutschen Fußballs. Dass das Team sich als Regionalliga-Mannschaft klaglos einer schier aussichtslosen Situation hingab und tapfer die Bundesliga-Saison beendete, wird dabei gerne übersehen. Sportlich war für die Berliner in der Spielzeit 1965/66 wahrlich nicht viel zu holen - doch den Spott hatten und haben sie nie verdient gehabt.
Quelle: ntv.de