Kein "Big Boss" bei Hertha Die wertvolle Bodenständigkeit von Khedira
02.02.2021, 19:27 Uhr
Viel wurde darüber gesprochen, nun ist er da: Mit Sami Khedira verpflichtet Hertha BSC einen der Rio-Weltmeister von 2014. Der Neuzugang soll die Berliner vor dem Abstieg bewahren - und beschwichtigt bei der Vorstellung seine Kritiker.
Für einen kurzen Moment ist sie wieder da: die lang vermisste Lockerheit bei Hertha BSC. Als Winterneuzugang Nemanja Radonjic bei seiner Präsentation damit prahlt, bei seinem letzten Einsatz für Olympique Marseille 37 km/h schnell gesprintet sein soll, rutscht Neu-Sportdirektor Arne Friedrich dann doch noch ein Spruch raus ("Mit Rückenwind!"). Mit den neuen (alten) Gesichtern von Friedrich und Trainer Pál Dárdai in der Verantwortung kehrt etwas zurück, was bei Debatten über einen Ex-Nationaltrainer und einen Investor und dessen große Ambitionen lange verloren gegangen schien.
Großen Anteil an dieser mit Lockerheit verknüpften Aufbruchsstimmung trägt Ex-Weltmeister Sami Khedira, der von der "Alten Dame" in Turin zu der in die Spree wechselt. Es ist der große Name, der seit anderthalb Jahren erwartet wird - jetzt unter Umständen, die niemand vor anderthalb Jahren erwartet hätte. Statt um Europa zu kämpfen, geht es jetzt darum, die Klasse zu halten. Nun kehrt er in die Bundesliga zurück, fast elf Jahre nach seinem Wechsel vom VfB Stuttgart zu Real Madrid.
Khedira: "Zahlen sprechen nicht für mich"
Dass der gebürtige Stuttgarter eigentlich in die Premier League wollte, ist kein Geheimnis. Eigentlich sollte der englische Meistertitel Khediras beeindruckende Trophäensammlung erweitern. Warum also nochmal Deutschland und dann ausgerechnet die Chaos-Hertha? Für die Blau-Weißen ist es der lang erwartete Coup: großer Name, Strahlkraft, Titel. Khedira vereint all das. Und auch er hat einiges vor: Nach über fünf Monaten ohne Pflichtspiel will der 33-Jährige wieder zurück auf den Platz, sich wieder nach dem Spiel "mit den Jungs umarmen" und wieder "den Dreck an den Armen und Beinen haben".
Doch der Transfer ist nicht ohne Risiko. Der 77-fache Nationalspieler wird bald 34 und in dieser Saison noch keine einzige Spielminute absolviert. "Die Zahlen sprechen natürlich nicht für mich", räumt der defensive Mittelfeldspieler ein. "Die letzten fünf Monate waren nicht ganz einfach." Trotzdem: Sein Fitnesszustand soll optimal sein. "Wenn man tagtäglich mit Cristiano Ronaldo und Matthijs de Ligt auf dem Platz steht, verliert man nicht allzu viel Qualität", hält er seinen Kritikern entgegen. Hertha habe ihn gründlich durchgecheckt und wie 33 fühle er sich sowieso nicht. Friedrich bescheinigt seinem ehemaligen Nationalmannschaftskollegen ein fast schon jugendlich wirkendes biologisches Alter von 28.
"Hertha hat einen Weltmeister bekommen"
Beide schätzen sich noch aus gemeinsamen DFB-Zeiten. Sportdirektor Friedrich kann mit seiner Freude kaum hinter dem Berg halten: "Hertha hat einen Weltmeister bekommen." Den ersten Kontakt zu einem möglichen Hertha-Transfer soll es vor einer Woche gegeben haben, so Khedira. Es gab viele Telefonate, "teilweise sogar bis Mitternacht". Ihre Zusammenarbeit ist erstmal auf vier Monate angelegt, bis zum Saisonende. Danach werde man sich erneut zusammensetzen. Für die 15 Spiele bis zum Saisonende soll Khedira Medienberichten zufolge zwei Millionen Euro verdienen, eine Ablöse an Juventus musste nicht gezahlt werden. Es ist der erste Transfer der Post-Preetz-Ära zusammen mit Radonjic, der allerdings habe "schon lange auf dem Zettel" gestanden.
Bleibt noch die Frage, was Khedira der Mannschaft eigentlich genau bringen soll. Bei der Kaderzusammensetzung war die fehlende Hierarchie das große Problem. Was Ex-Coach Bruno Labbadia bemängelte, untermauerte Neu-Trainer Pal Dardai nach der Frankfurt-Niederlage. Er mahnte, dass viele Spiele zusammengekauft, jedoch "einiges bei den erfahrenen vergessen" wurde. Das soll nun mit dem Khedira-Transfer kompensiert werden. Friedrich schwärmt von der natürlich Autorität des Neuzugangs, "das wird die Mannschaft spüren".
Der neue Führungsspieler ist da ein wenig vorsichtiger: "Ich komme jetzt nicht hier hin, bin der 'Big Boss' und erzähle allen, was gemacht werden muss." Seiner neuen Rolle ist er sich aber durchaus bewusst: "Klar gibt es Spieler, die mehr das Sagen haben, aber das ist eben mein Naturell." Das habe er in den letzten Jahren bei Juventus Turin und Real Madrid gelernt. Doch trotz der Titel und der immensen Erfahrung auf Top-Niveau sieht er sich als einen "normalen Fußballer". Eine Bodenständigkeit, die Hertha gut tut.
Quelle: ntv.de