Erdogan, Gaza, Hass Das dunkle Missverständnis des Mesut Özil
18.11.2023, 07:22 Uhr
Mesut Özil trat 2018 aus der Fußball-Nationalmannschaft zurück.
(Foto: imago/Sven Simon)
Mesut Özil ist ein deutscher Held. Doch nach einem Foto mit Erdogan entladen sich Wut und Hass an ihm. Die Geschichte bereitet auch beim Spiel der DFB-Elf gegen die Türkei noch immer Schmerzen. Deutschland und Özil begehen fatale Fehler.
Wenn am Abend im Berliner Olympiastadion die deutsche Fußball-Nationalmannschaft auf die türkische trifft (20.45 Uhr/RTL und im Liveticker auf ntv.de), wird er nicht dabei sein. Und dennoch werden viele an ihn denken. Mesut Özil. Einer der besten Kicker, den die beiden Länder je hervorgebracht haben. Ein Junge aus Gelsenkirchen, Sohn türkischer sogenannter Gastarbeiter. Ob Özil das Spiel schauen wird, ist nicht bekannt. Wem er die Daumen drücken würde?
Auch ohne auf dem Rasen zu stehen, berührt Mesut Özil Deutschland weiter. Gut 13 Jahre, nachdem er zuletzt für einen deutschen Verein gespielt hat, fünf Jahre nach seinem Rücktritt aus der DFB-Elf und acht Monate nach seinem Karriereende in den Niederungen der türkischen Süper Lig. Ein Podcast rollte jüngst den Aufstieg und Fall des heute 35-Jährigen wieder auf, sein Vater gab den Machern und der "Sport Bild" Interviews. Manche regt der Rio-Weltmeister weiter auf, manche regt er zum Nachdenken an. Auch, weil er fern der Ruhrpott-Heimat in der Türkei nun noch weniger greifbar als sonst scheint. Weil viele dunkle Missverständnisse und schmerzhafte Debatten sich um ihn ranken. Weil Özil solch einen Hass auf sich zog und zieht, wie kein deutscher Fußballer zuvor.
Dabei war der Junge aus Gelsenkirchen ein deutscher Held. Ein paar Jahre zumindest. 2010 trumpft Özil als Jungspund bei der WM in Südafrika und wirbelt mit der deutschen Nationalelf bis ins Halbfinale. Vier Jahre später gelingt auch dank seiner genialen Pässe und geschaffenen Räume der Triumph in Brasilien. Der Spielmacher ist mit damals 25 Jahren ganz oben. Fußballerisch.
Wut auf "Symbol" Özil
Doch 2010 wird Özil auch "mehr", wird zu einem Symbol. Ungewollt. Als Erster überhaupt erhält er den Integrationsbambi. Quält sich sichtlich unwohl vor den deutschen A-, B- und C-Promis auf die Bühne, stottert eine kurze, auswendig gelernte Rede ins Mikrofon - und soll plötzlich für die Verständigung unterschiedlicher Kulturen in Deutschland zuständig sein. Ob er nun mag oder nicht. Özil, das Integrationsmaskottchen, wird aber so schnell fallengelassen, wie es auserkoren wurde.
Nach vielen Jahren der Kritik an seinem Spiel und seiner Körpersprache folgt 2018 Özils tiefer Fall. Erst das Foto mit dem türkischen Präsidenten Erdogan, dann der Rücktritt aus der Nationalmannschaft nach der desaströsen WM der DFB-Elf in Russland. Plötzlich regieren Wut und Hass. "In der Debatte bekam Özil viel Rassismus zu spüren", sagt Khesrau Behroz, der für den Podcast "SchwarzRotGold: Mesut Özil zu Gast bei Freunden" über ein Jahr zu dem Thema recherchiert und mit vielen Wegbegleitern des Ex-Profis gesprochen hat, gegenüber ntv.de. Man dürfe das Foto und Özils Krisenmanagement ruhig kritisieren, so der Journalist, aber sobald "man das als Vorwand nutzt, um anti-muslimische und rassistische Ressentiments zu schüren, wie es etwa die AfD getan oder wie man es in den Stadien gehört hat, ist das nicht zu entschuldigen".
Acht Jahre nach seinem Integrationspreis entlädt sich etwas an Özil. Die deutsche Gesellschaft, die seit 2010 unter anderem eine sogenannte "Flüchtlingskrise", einen "Nachbarschaftsstreit" des damaligen AfD-Vizes Alexander Gauland mit Jérôme Boateng und einen EU-Türkei-Deal zur Abwehr von Asylsuchenden aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern erlebt, projiziert die Wut auf den immer autokratischeren Erdogan und tiefsitzende Vorurteile und Abneigungen gegenüber Deutschen mit Migrationsgeschichte auf den Fußballer. Moralisch rein ist Özil damals wie jeder Mensch nicht. Aber Anstand und Makellosigkeit werden von ihm mit größerer Vehemenz erwartet als von seinen Teamkollegen ohne Migrationsgeschichte, etwa Manuel Neuer, Thomas Müller oder Toni Kroos.
"Wir haben mit zweierlei Maß gemessen", sagt Karim Khattab, der zweite Macher des Özil-Podcasts, zu ntv.de über die damalige Situation. "Wir cancelten einen Fußballspieler für ein Foto mit derselben Person, mit der wir einen Pakt zur Abwehr von Geflüchteten haben. Alle hatten eine Meinung zu Özil, niemand hatte eine Meinung zu unserem Verhältnis zu Erdogan."
Özil sucht Halt bei Extremisten
Hass und Rassismus werden Özil bei DFB-Spielen entgegengespien. Er tritt per Twitter zurück - mit einem ausschließlich englischsprachigen Statement. Ein Mittelfinger an Deutschland? Personen im DFB wirft er Rassismus vor, dort will aber niemand etwas davon wissen. Stattdessen kocht die Bundesrepublik. Uli Hoeneß, ein verurteilter Steuerhinterzieher, und mit ihm fast ganz Fußballdeutschland attackieren Özil öffentlich, auch dafür, die moralischen Maßstäbe des Fußballs untergraben zu haben. Den Fußball, der auch 2018 bereits tief im FIFA-Sumpf voller machtgeiler Trickser steckte. Samt Sommermärchen-Affäre und an Russland und Katar vergebene Weltmeisterschaften.
Mesut Özil fühlt sich spätestens 2018 fremd im eigenen Land. Wie sehr er damals schon mit Erdogan sympathisiert? Unbekannt. Doch immer stärker sucht er nun Schutz bei der Vaterfigur. Was auch daran liegt, dass der Fußballer 2013/14 mit seinem Vater, Mustafa Özil, gebrochen hat. Bald wechselt der ehemalige DFB-Star in die Türkei, heiratet dort. Mit Erdogan als Trauzeugen.
Obwohl ihn früher viele Türken nicht mögen, weil er in Deutschland geboren und aufgewachsen und sich schließlich für die deutsche Nationalmannschaft entschieden hat, sucht Özil nun nach Schutz und Identität bei ihnen. Mutmaßlich wird er immer nationalistischer. Im Juli veröffentlicht sein Fitnesstrainer ein Foto Özils mit nacktem Oberkörper, ein großes Tattoo mit dem Symbol der rechtsextremistischen Vereinigung "Graue Wölfe" prangt auf seinem Herz.
Bis auf dieses Tattoo finden Podcaster Behroz und Khattab nichts zu Özil und den Grauen Wölfen. Jedoch hätten Gespräche mit Mitgliedern gezeigt, dass die Gruppe den Ex-Profi gar nicht in ihren Reihen wissen will. "Die haben Özil laut ausgelacht, als sie das Tattoo gesehen haben. Die wollen ihn gar nicht. Ein Typ, der sich für die deutsche Nationalmannschaft entscheidet, kann nach ihrer Ansicht kein türkischer Nationalist sein", sagt Behroz. Man könne das Tattoo als ein "Schrei nach Zugehörigkeit" verstehen. Özil, ein nach Halt Suchender? Er selbst hat sich kein einziges Mal zu dem Symbol auf seiner Brust geäußert.
Özils fataler Fehler
In einem Interview 2019 mit "The Athletic" erzählt Özil über seine damalige Zeit beim FC Arsenal: "Wenn wir in einem wichtigen Spiel nicht gut spielen, ist es immer meine Schuld." Immer mal wieder verraten seine Worte, wie ein verunsicherter Hochbegabter die Kritik an seinem Spiel oftmals auf sich selbst projiziert, als Kritik an seiner Person versteht. Wie er einen besonderen Anpassungs- und Rechtfertigungsdruck spürt. Wie er nach dem Selbst, nach Zugehörigkeit und Heimat sucht. Auch das hat ihn möglicherweise zum Tattoo getrieben. Podcaster Behroz sagt: "Er ist in Deutschland nicht willkommen und in der Türkei nennen ihn viele Verräter, weil er für die deutsche Nationalelf gespielt hat. Er sucht nach Identität und Anerkennung." Wie viele Özils sitzen am Abend auf den Tribünen des Olympiastadions, die sich sowohl in Deutschland als auch in der Türkei etwas fremd fühlen?
"In Özils Fall ist es wahrscheinlich eher ein nationalistisches als ein faschistisches Bekenntnis. Was in seiner pro-Erdogan Blase nicht negativ gelesen wird", fügt Khattab hinzu, denn die Brandbreite der Bedeutung der Grauen Wölfe sei in der Türkei groß. Tatsächlich überrascht Özils Tattoo aber nicht. Der türkische Präsident steht nicht nur für einen harten Umgang mit Andersdenkenden, zahlreiche Journalisten, Wissenschaftler und andere Oppositionelle sitzen in seinen Gefängnissen aus politischen Gründen in Haft.
Seine Partei, die AKP, befindet sich seit 2018 auch mit der rechtsextremen, ultranationalistischen und EU-skeptischen MHP im Wahlbündnis "Volksallianz", mit dieser "Partei der Nationalistischen Bewegung" stellt die AKP die Mehrheit in der Großen Nationalversammlung. Die MHP gilt als politischer Arm der "Grauen Wölfe" des Parteigründers Alparslan Türkeş und Rassismus ist ein zentraler Pfeiler der Partei-Ideologie. Dieser Rassismus richtet sich vor allem gegen Armenier, Kurden und Juden.
Das Tattoo ist Özils jüngstes, dunkles Missverständnis. Ein fataler Fehler für einen, der - laut seiner vielen Beiträgen in den sozialen Medien - für muslimische Menschen und Frieden stehen will. Özil kehrt seit dem Bruch mit seinem Vater, der nicht religiös ist, seine Religion vermehrt nach außen und macht sie in Postings wie etwa mit seiner ersten Mekka-Reise 2016 öffentlich. Er muss wissen, dass die Grauen Wölfe eben nicht nur für stolze Türken stehen. Sie wollen alle nicht-türkischen Menschen aus der Türkei verdrängen, Extreme der Gruppe wollen sie sogar vernichten. Ob Kurden, Juden - oder die arabisch-muslimische Minderheit, die vor allem an der Grenze zu Syrien schikaniert wird, wohin sie vor Assad und Bomben geflüchtet ist.
Basler will Özil "nicht nach Deutschland lassen"
Auch heute ist Özil in Deutschland immer noch Teil der Debatte. Und die Worte haben sich innerhalb von fünf Jahren teilweise nicht geändert. Wut und Abneigungen sitzen noch immer tief. Weil er nach wie vor ein Symbol ist, bekommt er AfD-Stammtischsprüche selbst von ehemaligen Fußballern an den Kopf geworfen: "Wenn ich was zu sagen hätte, würde ich ihn nicht mehr nach Deutschland lassen", sagt Ex-Profi Mario Basler in einem Fantalk bei "Sport1" vor wenigen Tagen. Özils Rassismus-Beschuldigungen gegenüber dem DFB findet er nach wie vor "eine absolute Frechheit". Das Publikum klatscht Applaus.
Wie 2018 entlädt sich dieser Tage wieder etwas in Deutschland: Seien es anti-muslimische Ressentiments, seien es antisemitische. Sei es wegen des Gaza-Kriegs, sei es wegen der hohen Zahlen von Asylsuchenden in Deutschland. Özil ist mittendrin. Mehrere pro-palästinensische Posts in den sozialen Medien setzt er jüngst ab, beklagt darin Opfer auf beiden Seiten des Gaza-Kriegs, verurteilt die Anschläge der Hamas kurz nach den Attacken aber nicht direkt. Unbeholfenheit oder Absicht?
"Özil sieht Kinder in Gaza sterben und ist ein Muslim und macht einen Post dazu", sagt Podcaster Behroz. "Ich glaube nicht, dass er einen großen Gedankengang hatte à la Robert Habeck, um alle abzuholen mit einer Rede. Das ist Teil seiner religiösen Geschichte." Er und sein Kollege erklären, in einem Jahr der Recherche keine Anzeichen für Antisemitismus gefunden zu haben. Die Frage, ob Özil mit "Free Palestine" in seinem Post "nur" gleiches Recht für alle meint oder Israel das Existenzrecht absprechen will, bleibt unbeantwortet, bis der Ex-Profi sich in den sozialen Medien äußert. Gegenüber der deutschen Presse wird er womöglich für immer schweigen.
Der türkische Präsident Erdogan hat die Hamas nach der Terrorattacke als "Befreiungsorganisation" bezeichnet. Nun ist er zum ersten Mal seit 2020 in Deutschland. Nach dem Treffen mit Olaf Scholz verurteilte er am Freitag das Vorgehen Israels, sprach sich aber wie der Kanzler für eine Zweistaatenlösung aus. Das Spiel seiner Nationalmannschaft gegen die DFB-Elf wird er nach ersten Plänen doch nicht besuchen. Ein spezieller Junge aus Gelsenkirchen - der sich von Deutschland abgewandt hat, einem Land, das ihm nicht immer Gutes wollte, und der vom rechten Weg abgekommen zu sein scheint - ist auch nicht dabei. Und irgendwie immer doch.
Quelle: ntv.de