Fußball

Der tiefe Fall des Weltmeisters "Die Grauen Wölfe haben Mesut Özil laut ausgelacht"

Fußballerisch wurde Mesut Özil in der Türkei nicht glücklich, bevor er im Frühjahr 2023 seine Karriere beendete.

Fußballerisch wurde Mesut Özil in der Türkei nicht glücklich, bevor er im Frühjahr 2023 seine Karriere beendete.

(Foto: IMAGO/Seskim Photo)

Mesut Özil war 2014 als Weltmeister ganz oben - dann folgte ein tiefer Fall, wie man ihn selten erlebt hat. Ein neuer Podcast ergründet Özils Weg zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und in den türkischen Nationalismus. Mit ntv.de sprechen die Macher Khesrau Behroz und Karim Khattab über Özils religiöse Gaza-Postings, seinen Vater, den berüchtigten Rücktritt 2018 - und fatale Fehler der deutschen Gesellschaft.

ntv.de: Sie haben sich für Ihren neuen Podcast "SchwarzRotGold: Mesut Özil zu Gast bei Freunden" über ein Jahr mit dem Rio-Weltmeister beschäftigt, mit vielen Wegbegleitern gesprochen: Ist es Ihnen gelungen, einen der am schwersten ergründbaren deutschen Fußballer zu greifen?

Karim Khattab: Genau das macht Mesut Özil aus: Dass er nicht so leicht greifbar ist. Özil ist nicht nur schwarz und weiß. Im Zuge der Recherche haben wir viele seiner Grautöne kennengelernt.

Khesrau Behroz: Wir können uns den Personen in unseren Podcasts nur nähern, haben aber einen deutlichen Eindruck von ihm gewinnen können, weil verschiedene Leute ihn ähnlich beschreiben. Sie sagten uns unabhängig voneinander: Özil ist ein zurückgenommener, bescheiden auftretender Mensch. Einer, der nur Fußball spielen will.

Das steht natürlich in krassem Kontrast zu dem, was Özil teilweise in den sozialen Medien darstellt.

Khattab: Im Vergleich zu den Kollegen seiner Zeit hält sich sein Prunk einigermaßen in Grenzen. Er isst kein goldenes Steak wie Franck Ribéry, er fliegt nicht mit dem Hubschrauber zum Training wie Jens Lehmann. Stattdessen hat er oft Preisgelder gespendet. Natürlich fährt er ein dickes Auto und hat eine große Uhr. Das ist auch Ausdruck des völlig überhitzten Fußballsystems mit absurden Gehältern. Die Fußballer sind von klein auf in diese Laufbahnen gedrängt und dann ist es zu viel verlangt, super bescheiden zu leben. Viele habe uns erzählt, Özil will eigentlich nur ein großes Sofa für seine Freunde und eine Playstation.

Bei Menschen, die Prunk nach außen darstellen, geht es unter der Oberfläche oft um emotionale Verunsicherung und der Suche nach dem Selbst und der Identität.

Behroz: Der Özil nach der Nationalmannschaft ist ein Mann, der auf zwei verschiedenen Stühlen sitzt und von beiden heruntergeschubst wird. Er ist in Deutschland nicht willkommen und in der Türkei nennen ihn viele Verräter, weil er für die deutsche Nationalelf gespielt hat. Er sucht nach Identität und Anerkennung. Die Statussymbole sind für viele aus der migrantischen Community ein Zeichen für: 'Ich habe es geschafft.' Özil ist mit nichts aufgewachsen, hat es als Enkel von Gastarbeitern geschafft, sich zum besten deutschen Fußballer hochzuarbeiten und ist Weltmeister geworden.

Arsène Wenger, Mesut Özils Trainer beim FC Arsenal, sagte 2013: "Wenn du Mesut auf dem Platz siehst und dich dann nicht in ihn verliebst, hast du keine Ahnung von Fußball." Wieso ist dieser Magier im Fußballland Deutschland so tief gefallen?

Behroz: Menschlich betrachtet war für den Fall natürlich das Foto mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan und Özils Rücktritt aus der Nationalmannschaft 2018 verantwortlich. Das ist eine tragische Geschichte. Da ist jemand, der den Fußball liebt, der darin eine Möglichkeit gefunden hat, sich auszudrücken, und dieser Typ ist plötzlich im Strudel der Weltpolitik gefangen. Fußball ist so emotional und persönlich, man baut para-soziale Beziehungen auf. Özils Rücktritt hat sich für viele wie Verrat angefühlt.

Mesut Özil, das Opfer?

Behroz: Ein Fußballspieler seiner Größe muss das Ganze natürlich einschätzen können. Man darf das Foto und sein Krisenmanagement ruhig kritisieren. Sobald man das aber als Vorwand nutzt, um anti-muslimische und rassistische Ressentiments zu schüren, wie es etwa die AfD getan oder wie man es in den Stadien gehört hat, ist das nicht zu entschuldigen. Viele haben in seinem Fehltritt eine Chance gesehen: 'Jetzt kann ich endlich sagen, was ich schon immer sagen wollte.' In der Debatte bekam Özil viel Rassismus zu spüren.

Khattab: Ich habe einen unserer Gesprächspartner gefragt: 'Wäre Özil dasselbe passiert, wäre er italienischer Herkunft gewesen und hätte er Foto mit Matteo Salvini, damals Italiens stellvertretender Ministerpräsident, gemacht, der ähnlich menschenrechtlich fragwürdig aktiv war wie Erdoğan?' Seine Antwort lautete: 'Heute vielleicht nicht. Aber in den 1960er-Jahren schon.' Es geht also um den Status der Gruppe, mit der Özil gelesen wird. Als Musiker oder Schauspieler hätte er bei der gleichen Situation Rückendeckung bekommen, aber im Fußball fehlt die Lobby. Das war einer gegen alle.

Was hat sich damals in Deutschland entladen?

Khattab: Wir haben mit zweierlei Maß gemessen. Wir cancelten einen Fußballspieler für ein Foto mit derselben Person, mit der wir einen Pakt zur Abwehr von Geflüchteten haben. Alle hatten eine Meinung zu Özil, niemand hatte eine Meinung zu unserem Verhältnis zu Erdoğan. Ich verstehe nicht, wieso die deutsche Kritik an Erdoğan, die ja eine Grundlage hat, an einem Fußballer ausgetragen wurde und nicht an denen, die es betrifft. Denn die Politik war im Gegensatz zu Özil von Anfang an bestens informiert über Erdoğan.

Behroz: Der Moment wurde ausgenutzt, um Scheindebatten zu führen. Als dann Özil weg war und die Debatte heruntergekocht ist, gab es keine Aufarbeitung. Zurückblickend ist es total irre, dass Özil und İlkay Gündoğan sogar beim Bundespräsidenten waren. Da klang es so, als müssten sich die beiden bei Deutschland entschuldigen. Mesut Özil ist deutscher Staatsbürger, er verwirkt sein Recht auf die deutsche Staatsbürgerschaft nicht, weil er ein Foto mit Erdoğan macht.

Wenig später näherten sich Özil und Erdoğan immer stärker an, der türkische Präsident wurde sogar Trauzeuge des Fußballers.

Khattab: Wir vergessen eine Sache: Wir haben mit Mesuts Vater, Mustafa Özil, gesprochen und er hat uns erzählt, dass er absoluter Erdoğan-Gegner ist. Aber als Erdoğans Bruder mal in Madrid zu Gast war und beide sich anlegten, hatte er Angst, ob er weiter in die Türkei einreisen könne. Das heißt: Wir lassen bei Özils Foto immer den Aspekt außer Acht, dass er damals Familie in der Türkei hatte und dorthin reisen oder gar mal dort wohnen wollte. Wenn dann dieser Präsident mit diesem Ruf ein Foto haben möchte, dann musst du schon echt eine Chuzpe haben, um das abzulehnen.

Behroz: Özils Vater sagte auch: 'Wenn Erdoğan auf deine Hochzeit kommen möchte, dann kommt Erdoğan auf deine Hochzeit.'

Mustafa Özil und sein Sohn gingen seit 2013/14 getrennte Weg. Wie sieht er den Gang Mesuts in die Türkei?

Behroz: Özils Vater wirkte trotz des Bruchs nicht verbittert, sondern zeigte sich zuversichtlich, dass er und sein Sohn sich irgendwann wieder in den Armen liegen. Mustafa Özil sagte auch, dass er das mit Mesut Özils Rücktritt nicht so gehandelt hätte, dass es unter ihm anders gelaufen wäre. Er findet, dass sein Sohn schlecht beraten war. Die Tweets zum Rücktritt waren seiner Meinung nach nicht angebracht, überhaupt findet er Twitter nicht das passende Medium für einen 'Weltfußballer'. Dieser sei sein Sohn gewesen, habe seine Karriere aber mit dem Weg in die Türkei und zum Erdoğan-Klub total verhauen. Der Vater meinte sogar, es sei eine Schande, was am Ende aus Mesut Özils Karriere geworden ist. Damit wollte er seinem Berater-Nachfolger wohl auch eins auswischen.

Khattab: Mustafa Özil hat sogar Deutschland verteidigt vor den Anklagen seines Sohnes. Er hat außerdem über Mesut erzählt, dass sein Sohn bis zum Bruch 2014 nie politisch war. Das hat Özils früherer Klassenlehrer uns auch bestätigt. Aus der Sicht des Vaters hat sich Özil instrumentalisieren lassen.

Nicht nur in die offenen Arme des türkischen Präsidenten, auch in die Religion flüchtete sich Özil.

Behroz: Das ist typisch für Menschen, die das Gefühl haben, dass sie nicht akzeptiert werden. In den sozialen Medien kehrt Özil seine Religiosität, wobei er schon immer gläubiger Muslim war, seit etwa 2014 sehr nach außen.

Khattab: Özil wurde zu einer Marke, die sich via soziale Medien von den gängigen Strukturen der Medien abgrenzt, und vor allem den Islam nach Außen trägt. Da fand er seine Crowd, die ihm eine Identität gibt und der er sich zugehörig fühlt - und die er abholen kann: 'Was soll ich in Deutschland Schalke-Fans bespielen, wenn ich die halbe Welt bespielen kann, wenn ich mich als gläubiger Muslim kenntlich mache?'

Anschließend wollte Özil nicht "nur spielen", sondern fiel auch mit politischen Äußerungen in den sozialen Medien auf.

Behroz: Özil hat eine sehr selektive Art, sich politisch zu äußern. Das sind dann Themen, die ihn als gläubigen Muslim sehr beschäftigen, wie eben die eingesperrten Uiguren in China oder die ermordeten Muslime in Hanau. Das waren großen Themen, genau wie jetzt Palästina. Da kann man nicht überrascht sein.

Khattab: Was wir als Gesellschaft aus Fußballern gemacht haben, dass wir sie auf solch ein Podest heben, ist verrückt. Wir haben eigentlich nur Politikerinnen und Politiker und männliche Fußball-Profis, die nach außen für Deutschland stehen. Alles, was die Fußballer sagen, wird auf die Goldwaage gelegt.

Wie bewerten Sie seine pro-palästinensischen Posts zum Gaza-Krieg?

Behroz: Özil sieht Kinder in Gaza sterben und ist ein Muslim und macht einen Post dazu. Ich glaube nicht, dass er einen großen Gedankengang hatte à la Robert Habeck, um alle abzuholen mit einer Rede. Das ist Teil seiner religiösen Geschichte. Er hat aber auf Instagram die Opfer auf beiden Seiten beklagt und keine pro-Hamas-Dinge geäußert.

Die Anschläge der Hamas hatte Özil nicht direkt verurteilt. Haben Ihre Recherchen und Gespräche Anzeichen dahingehend hervorgebracht, ob Özil mit "Free Palestine" "nur" gleiches Recht für alle meint oder Israel das Existenzrecht absprechen will?

Khattab: Wir haben weder etwas gehört in Richtung Antisemitismus und noch in Richtung pro-Israel.

Behroz: Wenn dann hat er sich ja für und nicht gegen etwas ausgesprochen.

Khattab: Außer bei den Uiguren. Da hat er tatsächlich Partei ergriffen gegen die Regierungschefs islamischer Länder.

Im Frühjahr veröffentlichte Özils Fitnesstrainer ein Foto mit dem Ex-Profi mit nacktem Oberkörper. Auf Özils linker Brust war ein Tattoo mit dem Symbol der Grauen Wölfe zu sehen, einer rechtsextremen, türkischen Vereinigung, die gegen Kurden, Juden und Armenier vorgeht.

Behroz: Wir haben in der Türkei mit extremen Grauen Wölfen, die vom groß-türkischen Reich träumen, gesprochen. Die haben Özil laut ausgelacht, als sie das Tattoo gesehen haben. Die wollen ihn gar nicht. Ein Typ, der sich für die deutsche Nationalmannschaft entscheidet, kann nach ihrer Ansicht kein türkischer Nationalist sein.

Khattab: Wir haben auf das Tattoo nur zwei Reaktionen bekommen in allen unseren Gesprächen: Erstens: 'Na und?' Zweitens: 'Glauben wir ihm nicht. Der ist keiner von uns.' Was wir wissen: Zum Zeitpunkt des Tattoos hatte Özil keinen Berater mehr. Sein Vater und andere Gesprächspartner haben sich uns gegenüber gewundert, wo seine Leute sind, die ihm davon abraten könnten, und sich gesorgt, dass er extrem allein sein könnte.

Verschließt Özil die Augen vor dem, wofür die Grauen Wölfe stehen?

Khattab: Ist Özil ein krasser Nationalist und Rassist? Das wissen wir nicht. In der Öffentlichkeit gibt es dafür zumindest keine Anzeichen. Bis auf dieses Tattoo haben wir in unseren Gesprächen und Recherchen überhaupt nichts zu Özil und den Grauen Wölfen gehört oder gefunden. Nur er selbst kann es erklären. Sein Fitnesscoach wollte erst mit uns sprechen, aber Özil hat da wohl interveniert.

Behroz: Viele lesen Özils Tattoo auch als einen Mittelfinger nach Deutschland. Andere sagen wiederum, das ist ein Schrei nach Dazugehörigkeit: Es ist ja nicht ein kleines Tattoo auf dem Arm, sondern ein riesiges auf dem Herzen.

Erdoğans Partei AKP befindet sich seit 2018 mit der rechtsextremen, ultranationalistischen und EU-skeptischen MHP, die als politischer Arm der Grauen Wölfe gilt, im Wahlbündnis.

Behroz: Aber die extremen Grauen Wölfe, mit denen wir gesprochen haben, mögen Erdoğan überhaupt nicht. Damit wird es also kompliziert für Özil. Ohne das relativieren zu wollen, aber in der Türkei ist die Brandbreite der Bedeutung der Grauen Wölfe groß: Extreme, die die Kurden vernichten wollen, krasse Nationalisten und einfach stolze Türken.

Dennoch hätte Özil überdenken sollen, ob er in diesen Kontext gebracht werden will. Das ist genauso wie, wenn du auf Corona-Demos siehst, dass neben dir Reichsbürger demonstrieren oder auf pro-palästinensischen Freiheitsdemos neben dir "Israel töten" gerufen wird. Tut das deiner Sache gut?

Özil dürfte wissen: Für einen kurdischen Menschen sind die Grauen Wölfe niemals etwas Gutes.

Khattab: Die Spannweite ist natürlich von hellgrau bis dunkelschwarz. Die Typen sind auf keinen Fall ohne. In den Gesprächen mit den Wölfen war vor allem purer Hass gegenüber der arabischen Minderheit auffällig. Da wurden Sätze gesagt, die eins zu eins am AfD-Stammtisch hätten fallen können. In Özils Fall ist es wahrscheinlich eher ein nationalistisches als ein faschistisches Bekenntnis. Was in seiner pro-Erdoğan Blase nicht negativ gelesen wird.

Mit Khesrau Behroz und Karim Khattab sprach David Bedürftig

Quelle: ntv.de

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