Fußball

Nach Absturz beim Ponyreiten Klappernder Riese BVB bricht sich alle Knochen

Das perfekte Gesicht zur Dortmunder Gefühlslage: Mats Hummels.

Das perfekte Gesicht zur Dortmunder Gefühlslage: Mats Hummels.

(Foto: IMAGO/Revierfoto)

Borussia Dortmund möchte eigentlich mit einem guten Gefühl in die lange WM-Winterpause gehen - und schleppt sich dann doch mit reichlich Sorgen aus dem letzten Bundesliga-Spiel des Jahres. Die Liste der Probleme des Riesen ist gigantisch lang. Wieder einmal.

Die ersten drei Minuten, da war sich die Fußball-Fachwelt inklusive der Entourage des BVB einig, waren gut. Ob diese ersten drei Minuten im Borussia-Park von Mönchengladbach womöglich sogar richtig gut waren, darüber gingen die Meinungen ein wenig auseinander. Nicht ganz so weit wie die Ketten der Dortmunder in der vierten Minute. Julian Brandt rutschte aus, Emre Can war nicht am Platz, Raphael Guerreiro pennte, Nico Schlotterbeck reagierte zu spät - und zack lagen die Gastgeber dank des WM-Fahrers Jonas Hofmann vorne.

Zu behaupten, es wäre der Moment gewesen, in dem die Gladbacher das Spiel entschieden hätten, das wäre falsch. Was richtig wäre: Die vierte Minute war der Moment, der die gravierenden Schwächen der Dortmunder zum übergeordneten Thema machte. An diesem Freitagabend, in den nächsten zwei Monaten. Der BVB schleppt sich mit einer amtlichen Herbst-Depression in die WM-Pause.

Der schwarzgelbe Riese, der sich so verzweifelt danach sehnt, sich endlich wieder zu alter Größe aufzurichten, bricht immer dann in sich zusammen, wenn er die Beine gerade zur finalen Dehnung strecken möchte. Egal ob beim Schwimmen im Mittellandkanal oder beim Ponyreiten im Borussia-Park. Am Ende einer Arbeitswoche stehen nämlich zwei Niederlagen, ein 0:2 beim VfL Wolfsburg (am Dienstag) und ein 2:4 (am Freitag) bei der anderen Borussia, bei den Fohlen, die in Dortmund seit jeher als Ponys verniedlicht werden, die unter der Woche beim Abstiegskandidaten VfL Bochum verzweifelt waren (1:2). Es sind zwei Niederlagen, die den Traum zerstörten, nach der Weltmeisterschaft einen Kampf auf Augenhöhe mit dem ewigen Rivalen FC Bayern aufzunehmen. Und selbst wenn es nur ein kühner Traum war, es war einer. Geplatzt wie ein Luftballon in zu neugierigen Kinderhänden. So laut, dass der Donnerhall bis in die alte Bierstadt reichte, wo schwarzgelb so präsent ist, dass die ganze Metropole den Rhythmus des Vereins lebt.

Borussia Mönchengladbach - Borussia Dortmund 4:2 (3:2)

Tore: 1:0 Hofmann (4.), 1:1 Brandt (19.), 2:1 Bensebaini (26.), 3:1 Thuram (30.), 3:2 Schlotterbeck (40.), 4:2 Kone (46.)
Mönchengladbach: Olschowsky - Scally, Friedrich, Elvedi, Bensebaini - Weigl, Kone (88. Itakura) - Hofmann (90.+4 Netz), Kramer (46. Herrmann), Stindl (90. Ngoumou) - Thuram; Trainer: Farke.
Dortmund: Kobel - Süle, Hummels (78. Papadopoulos), Schlotterbeck (59. Modeste), Guerreiro - Bellingham, Can (59. Salih Özcan) - Reyna (46. Hazard), Brandt, Malen (71. Adeyemi) - Moukoko; Trainer: Terzic.
Schiedsrichter: Sven Jablonski (Bremen)
Zuschauer: 54.042 (ausverkauft)
Gelbe Karten: Stindl (4) - Hummels (4), Guerreiro (2)

Der kommt nun zum Erliegen. Es ist WM-Zeit. Für manche Menschen bleibt es Fußballzeit. Für andere beginnen nun zwei Monate der Entsagung. Vielleicht mit Frust-Glühwein(en) im frühlingshaften Vorwinter. Für den BVB werden es Wochen der Aufarbeitung. Trainer Edin Terzic wird sich fragen, wie er seiner Mannschaft den ewigen Schlendrian austreiben kann. In der defensiven Wachsamkeit, in der offensiven Konsequenz. Und Sportdirektor Sebastian Kehl wird wieder jeden Stein umdrehen und ihn sich genau anschauen. Hat einer von ihnen vielleicht etwas Moos angesetzt? Und findet sich auf diesem längst vergessenen Zettel nicht noch ein Angebot für die Gehaltsgiganten Nico Schulz, Emre Can, Thorgan Hazard oder Donyell Malen?

Geld, Geld, Geld - und Frust

Allein diese vier Spieler waren den seit Jahren gewohnt solide am Markt vorbei agierenden Einkäufern 106 Millionen Euro wert. WM-Spieler Karim Adeyemi, dem selbst der Bundestrainer keine gute Form bescheinigte, weitere 30 Millionen Euro. Der BVB hat sich hier zu einem der Top-Player in Sachen Geldverbrennung entwickelt. Das Portal transfermarkt.de beziffert den aktuellen Marktwert des Quartetts auf optimistische 45 Millionen Euro. Es sind Verhältnisse, die es in der Liga so vielleicht nur noch bei der dauerdarbenden, aber immerhin noch semi-gutgelaunten Hertha BSC gibt. Kleiner Trost für Schwarzgelb: Sportlich ist die Lage noch nicht so heikel wie in der Hauptstadt. Mit dem Kampf um den Klassenerhalt werden die Dortmunder nichts zu tun haben. Das hat weder etwas mit Anspruch noch mit Wirklichkeit zu tun. Die sieht wie folgt aus: Die Borussia überwintert als Sechster. Auch das ist weit weg vom eigenen Anspruch. Wie Terzic bei DAZN nochmal bekannte. "Das ist ein sehr enttäuschender Abend. Das ist schwer zu erklären."

Er hatte sich im Januar einen Neustart "mittendrin" gewünscht. Mittendrin im Kampf um den nationalen Titel. An der Spitze ging es bislang ja recht eng zu. Geschichte. Zumindest aus Dortmunder Sicht. An diesem Freitagabend beträgt der Rückstand auf den FC Bayern sechs Punkte. Doch diese Hypothek wird sich am Samstag noch einmal deutlich erhöhen. Die Münchner sind beim FC Schalke 04 zu Gast. Zwar ist der Revierrivale von Trainer Thomas Reis zart wachgeküsst worden, aber dass sich im Topspiel eines der größten Wunder der jüngeren Ligageschichte ereignen wird, das glauben sie weder in München, noch in Gelsenkirchen und erst recht nicht in Dortmund. "Jetzt haben wir einen Rückstand, den wir ab Januar wiedergutmachen müssen", analysierte Terzic. "Wir starten nicht bei null, sondern bei minus."

Immer die gleiche Leier bei der Borussia. Im Sommer gewinnen die Dortmunder mit großem Vorsprung auf dem Transfermarkt. Im vergangenen etwa mit Niklas Süle (!), Nico Schlotterbeck (!) oder Karim Adeyemi (!). Sie kaufen die Gegenwart und Zukunft des deutschen Fußballs. Sie gewinnen am Transfermarkt, um nur wenige Wochen später erschrocken festzustellen, dass der Titel nie auf einem Briefkopf stehen wird. Die ersten Rückschläge stecken sie noch gut weg, doch je sicherer ihnen in der nächsten Phase die Meisterschaft entgleitet, desto nervöser werden sie auf der Tribüne. Dann schauen Boss Hans-Joachim Watzke, der um die Thronfolge buhlende Geschäftsführer Carsten Cramer und Mentalitäts-Berater Matthias Sammer noch etwas sparsamer auf das sich ihnen auf dem Platz darbietende Verhängnis. Später in der Saison beginnt die Unruhe um den noch im Sommer installierten Trainer, der jetzt aber endlich Jürgen Klopp vergessen machen sollte.

"Ein beschissenes Gefühl"

Der Druck auf ihn steigt: BVB-Coach Edin Terzic.

Der Druck auf ihn steigt: BVB-Coach Edin Terzic.

(Foto: David Inderlied/dpa)

Terzic sollte dieser Mann werden. Vergessen wollten sie die Kapitel Thomas Tuchel, Peter Bosz, Peter Stöger, Lucien Favre, Marco Rose. Terzic, der Mann, der mit ihnen einst in der Kurve stand, sollte die Kurve nun begeistern. Es war die Sehnsucht. Er war die Sehnsucht. Doch Terzic hat in der ersten Runde kaum etwas geschafft. Die Abwehr ist noch immer ein ebenso großes Mammutprojekt wie einst der Emscher-Umbau. Und das Spiel nach vorne ist in Wahrheit keins, kaschiert vom Hype um Youssoufa Moukoko, von Jude Bellinghams Aura, von brillanten Einzelaktionen eines Julian Brandt. Der gestand nun: "Wir haben zu einfache Tore kassiert durch eigenes Unvermögen. Das ist absolut schweres Gepäck, das ist ein beschissenes Gefühl." Der Druck auf Terzic steigt, auch er muss sich steigern.

Der über Jahre aufgestaute Frust, die Gewissheit, dass im Sommer der nächste Star den Verein verlassen wird und der immer wieder aufkommende Kampf um die Plätze in der Champions League, lassen die Dortmunder stets am Abgrund wandeln. Nicht am Schalke-Abgrund, nicht am Hamburg-Abgrund, aber trotzdem mit Blick in die Tiefe des Liga-Durchschnitts. Ein Ort, von dem es in alle Richtungen gehen kann. Der Absturz am aktuellen Abgrund wäre erst einmal kein tiefer, doch irgendwann werden die Borussen keinen nächsten Sanchohallandbellingham haben, um ihn höchstbietend an die internationale Konkurrenz zu verkaufen. Das aber ist die Voraussetzung, um den restlichen Kader finanzieren können.

Ewig wird es so nicht weitergehen. Andere Klubs werden sich als Anlaufstelle für Jungstars etablieren. Die Entdeckung des Jahres, Randal Kolo Muani, spielt bei Eintracht Frankfurt. Auch, weil ein Klub wie Borussia Dortmund von außen zu bedrohlich wirkt. Auf jeden Durchbruch kommen zu viele gescheiterte Transfers. Der Bruch mit der unter Michael Zorc finanziell so erfolgreichen Transferstrategie im laufenden Kampf um die Plätze in der Königsklasse wird die Aufgabe des BVB sein. Die Borussia muss Lösungen im defensiven Mittelfeld, auf den Außenverteidiger- und Flügelpositionen finden. Die Borussia muss sich eine Struktur geben, die Abgänge abfedert und parallel dazu einen Kaderaufbau ermöglicht. Die wichtigste Qualifikation der letzten Jahre startet mit Beginn der Spielzeit 2023/2024. Denn die Königsklasse verstopft ab der Saison 2024/2025 ihren Flaschenhals mit noch mehr Geld für die teilnehmenden Klubs. Und somit läuft die Qualifikation schon längst. Wer im nächsten Jahr nicht in der Champions League spielt, ist weniger attraktiv. Logisch.

Bellingham vernachlässigt das "wir"

Wie sehr der kleine aber fatale Absturz im letzen Spiel vor Weihnachten an den Spielern nagt, das legt(e) keiner mehr offen als Jude Bellingham. Der junge Engländer, der die Fantasie von Europas Großmächten beflügelt und demnächst der teuerste Export der deutschen Fußball-Historie werden dürfte, hat in diesen Tagen ein wenig von seiner Faszination eingebüßt und fällt immer mehr mit Motzerei und kleineren Schäbigkeiten auf. Irgendwann in den 60er-Minuten des Duells mit Gladbach spielte er einen langen Pass ins Nirwana der linken Seite. Er wähnte dort den abermals schwachen Malen. Der aber hatte mit diesem Zuspiel nicht gerecht. Der Niederländer zuckte mit den Schultern, während Bellingham das Gesicht verzog, sich hinkniete und mit den Händen auf den Boden schlug. Die Schuldfrage war aus seiner Sicht klar beantwortet. Wieder einmal.

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Der Aufstieg des 19-Jährigen beim BVB ist fantastisch, aberwitzig, beeindruckend. Er hat im Mittelfeld alle Macht an sich gerissen, will die Brücke des gigantischen schwarzgelben Tankers alleine steuern. Er vergisst dabei immer mal wieder das "wir" und handelt zu sehr im "ich". Allein ist er damit nicht. Auch die Viererkette hat das Kollektiv als oberstes Gebot aufgehoben. Es ist längst kein harmonisches Miteinander, sondern nur noch ein seltsames Durcheinander. Nico Schlotterbeck, eine deutsche WM-Hoffnung, erwischte in Mönchengladbach einen Abend, für den eine neue Schulnote erfunden werden müsste, so vogelwild verteidigte er. Mats Hummels, eine deutsche WM-Enttäuschung, war offenbar so enttäuscht von Hansi Flicks Zurückweisung, dass er mit seinen frustrierten Gedanken irgendwo war, aber meistens nicht bei Gegenspieler Marcus Thuram. Immerhin war er sichtbar, etwa beim Protest gegen ein Foul, das nachträglich geahndet wurde und das 2:5 verhinderte. Emre Can hingegen war nicht sichtbar. Seine präsenteste Aktion hatte er nach 59 Minuten - als er ausgewechselt wurde.

Der BVB war da schon geschlagen. Einen Torschuss in den zweiten 45 Minuten sah Trainer Terzic nicht. Einen hingegen hat die ntv.de-Sportredaktion beobachtet, nämlich jenen von Anthony Modeste nach 85 Minuten. Es war, da war sich die Fußball-Fachwelt inklusive der Entourage des BVB einig, einer, über den man eigentlich besser nicht sprechen sollte. Wie überhaupt über diesen klappernden schwarzgelben Riesen, der sich beim Ponyreiten an diesem Freitagabend alle Knochen gebrochen hatte.

(Dieser Artikel wurde am Samstag, 12. November 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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