Fußball

Null Stürmer, aber fünf Torhüter Gladbach? Im Rekordtempo zurück zur grauen Maus

Marcus Thuram, Lars Stindl und Ramy Bensebaini (von links) verlassen Borussia Mönchengladbach am Ende der Saison. Alassane Plea und Florian Neuhaus sollen bleiben.

Marcus Thuram, Lars Stindl und Ramy Bensebaini (von links) verlassen Borussia Mönchengladbach am Ende der Saison. Alassane Plea und Florian Neuhaus sollen bleiben.

(Foto: IMAGO/Team 2)

2011 an der Schwelle zur Zweiten Liga, danach zehn Jahre in Folge mehr oder weniger Bundesliga-Spitzenteam, jetzt im Niemandsland: Borussia Mönchengladbach hat die Bundesliga in gut einem Jahrzehnt so gut wie durchgespielt. Die aktuelle Saison trudelt aus, entscheidend wird der Sommer.

Tabellarisch betrachtet ist Borussia Mönchengladbach seit zwei Jahren die graue Maus der Bundesliga. Im Vorjahr Platz zehn ohne Tuchfühlung nach oben und mit genügend Sicherheitsabstand nach unten. Dieses Jahr erneut Platz zehn mit großem Rückstand zu den Europokalplätzen, aber ausreichend Vorsprung zur Abstiegszone. Wenn die Fohlenelf heute Abend auf den 1. FC Union Berlin trifft (19.30 Uhr/DAZN und im Liveticker bei ntv.de), müssen sich die Gladbach-Fans das dritte Jahr in Folge die Augen reiben: Nicht die Borussia ist die Europapokal-Mannschaft, es sind die Eisernen, die das dritte Mal nacheinander in den Genuss der europäischen Fleischtöpfe kommen werden.

Andererseits werden leidgeprüfte Gladbach-Fans der 00er-Jahre sagen: "Drei Jahre ohne Europapokal? Wir haben schon Schlimmeres erlebt!" Und tatsächlich, wer Ende des vergangenen Jahrtausends geboren und aus familiären und/oder historischen Gründen Fan von Borussia Mönchengladbach geworden ist, kannte seinen Herzensverein über ein Jahrzehnt hinweg nur als graue Maus vom Niederrhein. Zwischen 1996 und 2012 gelang es Gladbach nicht ein einziges Mal, die Bundesliga-Saison in der oberen Tabellenhälfte abzuschließen.

Das natürliche Habitat der Fohlen waren die Plätze 11 bis 15, Rang 10 ein fast schon umjubelter Ausrutscher nach oben. Die größte positive Aufmerksamkeit generierten die Borussen ausgerechnet in der Zweitliga-Saison nach dem Abstieg 2007. Endlich mal obere Tabellenhälfte. Platz 1. Kantersiege. Auswärtssiege. Aber eben Liga zwei.

Zehn Jahre Höhenflug bis Corona

Erst Lucien Favre küsste Gladbach wach. Er rettete den Klub 2011 aus schier aussichtsloser Position vor dem dritten Abstieg in der Vereinsgeschichte. Dann schaffte er nicht nur den Sprung in die obere Tabellenhälfte, sondern auch gleich mehrere Qualifikationen für den Europapokal, Champions League inklusive.

Der fast zehnjährige Höhenflug fand erst im Corona-Chaos, dem alles andere als leisen Abschied von Marco Rose und den Irrungen und Wirrungen des langjährigen Erfolgssportchefs Max Eberl sein Ende. Zehn Jahre später, im Hier und Jetzt, ist Mönchengladbach zwar nicht dort angekommen, wo das Erfolgsduo Eberl/Favre die Borussia vorfand. Kritiker befürchten aber, sie ist auf dem besten Weg dorthin.

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird Gladbach in dieser Saison zum dritten Mal in Folge die Qualifikation für den Europapokal verpassen. Die sportliche und tabellarische Entwicklung der vergangenen drei Jahre spricht eine klare Sprache. 2020 wurde mit Platz vier zum insgesamt dritten Mal der Einzug in die Champions League gefeiert. 2021 gelang nach teils herausragenden Auftritten sogar der Einzug ins Achtelfinale der Königsklasse. Gleichzeitig lief die Borussia 2021 in der Liga nur auf Platz acht ein, im Vorjahr unter Trainer Adi Hütter nur auf Rang zehn, dieses Jahr ist man mit Daniel Farke und Neu-Sportchef Roland Virkus auf identischem Kurs.

Nun könnte man argumentieren, dass die Champions League ohnehin nicht das natürliche Habitat von Borussia Mönchengladbach sein kann. Und so das Tabellenmittelfeld dann doch besser zu einem Klub passt, der aus einer eher farblosen als florierenden Stadt im Dunstkreis der Schmelztiegel Köln und Düsseldorf kommt. Wer so denkt, hat in Bezug auf Gladbach bestimmt nicht ganz Unrecht. In welcher Geschwindigkeit Borussia Mönchengladbach von einem daher siechenden Klub in den 00er-Jahren zu einem der aufstrebendsten Klubs Europas und jetzt wiederum zu einer (tabellarisch betrachtet) grauen Maus geworden ist, beeindruckt dennoch positiv wie negativ.

Finanzielle Reserven? Über die Hälfte weg

Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Corona-Krise ist ein Faktor. Auf der Mitgliederversammlung Anfang dieser Woche musste Finanz-Geschäftsführer Stephan Schippers etwa 25 Millionen Euros Minus im vergangenen Geschäftsjahr bekannt geben. Macht in Summe rund 56 Millionen Euro Verlust in den vom Virus geprägten Jahren 2020, 2021 und 2022. Das Eigenkapital ist in dieser Zeit von 103 auf 47 Millionen Euro gesunken.

Den finanziellen Absturz allein auf die Pandemie zu schieben, wäre aber zu einfach. Ein weiterer Grund ist, dass Borussia ausgerechnet in der ohnehin angespannten Zeit von seinem Erfolgsweg abgerückt ist. Als sportlich Verantwortlicher hatte Max Eberl in den Jahren 2019 und 2020 erstmals einen neuen Weg eingeschlagen. Dieter Hecking war trotz Europapokal-Qualifikation als Trainer nicht mehr gut genug, stattdessen wurde Marco Rose geholt. Das ging nur eine Saison lang gut.

Statt Platz vier in der Spielzeit 2019/20 als etwas Außergewöhnliches zu betrachten, wollte Borussia noch höher hinaus. Die Champions League sollte zur Regel werden, nicht die Ausnahme bleiben. Deshalb entschied man sich, teils sehr lukrative Angebote für Topspieler auszuschlagen, um sportlich noch stärker angreifen zu können. Drei Jahre später weiß ganz Gladbach, dass dadurch das Ende des sportlichen Höhenflugs eingeläutet wurde.

Es folgten der vorzeitige Wechsel von Rose zu Dortmund im Frühjahr 2021, weniger als ein Jahr später der Rücktritt von Eberl unter fragwürdigen Begleitumständen. Eckpfeiler der Mannschaft verlängerten ihren Vertrag nicht und gingen ablösefrei (Matthias Ginter) oder kurz vor Vertragsende gegen eine Mini-Transfersumme (Denis Zakaria). Mit Marcus Thuram und Ramy Bensebaini verlassen zwei Topspieler den Klub nach dieser Saison ebenfalls für Null Euro - ihr Gegenwert laut Transfermarkt.de: 52 Millionen Euro

Ansammlung an Einzelspielern

Wollen Gladbach stabilisieren: Sportdirektor Roland Virkus und Trainer Daniel Farke

Wollen Gladbach stabilisieren: Sportdirektor Roland Virkus und Trainer Daniel Farke

(Foto: IMAGO/Kirchner-Media)

Die Entscheidung, auf den Rückzug von Marco Rose mit Adi Hütter zu reagieren, für den damaligen Frankfurt-Coach 7,5 Millionen Euro Ablöse in die Hand zu nehmen? Kann bestenfalls als unglücklich bezeichnet werden. Die Mannschaft fremdelte mit dem Trainer, der Trainer umgekehrt mit der Mannschaft. Eberl-Nachfolger Roland Virkus handelte wenige Minuten nach Ende der vergangenen Saison, entließ den Pressing-liebenden Hütter und installierte im Sommer mit Daniel Farke einen Ballbesitz-Befürworter.

Der von vielen Fans erhoffte personelle Umbruch blieb abseits der Trainerbank jedoch aus. Thuram und Bensebaini? Hatten in den Transferplänen europäischer Topklubs nicht die höchste Priorität und die Spieler selbst waren ohnehin in der günstigeren Verhandlungsposition - im Wissen, dass sie im Sommer 2023 als ablösefreie Spieler noch begehrter sind und üppige Handgelder erwarten dürfen. Auf dem Transfermarkt konnten die Borussen deshalb nur begrenzt aktiv werden.

Herausgekommen ist für die laufende Saison eine Ansammlung an teils starken Einzelspielern, von denen viele mit Gladbach aber scheinbar längst abgeschlossen haben. Anders sind manche Lustlos-Auftritte von Ramy Bensebaini und Marcus Thuram, Frust-Interviews von Marvin Friedrich oder Stefan Lainer kaum zu erklären. Hütter-Nachfolger Farke ist im Verwaltungs- statt Gestaltungsmodus, weil der Kader zu Beginn der aktuellen Spielzeit nur flickschusternd erneuert wurde.

Neu angreifen will die Borussia erst ab dem kommenden Sommer. Dann aber wirklich. Mit neuen, hungrigen Spielern. Mit Thuram und Bensebaini verlassen Qualitätsspieler den Klub zum Nulltarif, Kasse machen will Gladbach dagegen mit Mittelfeld-Juwel Manu Koné, auf dessen Abgang man fast schon angewiesen ist, um eine schlagkräftige Mannschaft aufzubauen. Und auch Eigengewächs Jordan Beyer wird von Burnley nach einer Leihe höchstwahrscheinlich fest verpflichtet für 15 Millionen Euro.

Weil mit Lars Stindl aber auch die größte Identifikationsfigur der vergangenen acht Jahre aus familiären Gründen den Niederrhein verlässt, braucht Borussia neue Leader auf dem Platz und in der Kabine. Das Grundgerüst sollen nach dem Willen der Vereinsführung Keeper Jonas Omlin und die deutschen (Ex)-Nationalspieler Christoph Kramer, Julian Weigl (sofern aus der Leihe ein Kauf wird), Florian Neuhaus und Jonas Hofmann bilden.

Mega-Umbruch im Sommer nötig

Viel mehr erfahrene Qualitätsspieler sind für die nächste Saison auch noch nicht bestätigt. Stand jetzt besitzen zwar 27 Borussen einen Vertrag über den kommenden Sommer hinaus, darunter sind jedoch neun Nachwuchsspieler mit jeweils höchstens drei Bundesligaspielen. Einen Stürmer hat Mönchengladbach Stand jetzt überhaupt nicht, dafür fünf Torhüter.

Auf Roland Virkus wartet also nicht weniger als der größte Umbruch seit mehr als einem Jahrzehnt. Gladbach braucht auf allen Positionen (außer im Tor) neue Spieler - qualitativ und quantitativ. Das Erfolgsmodell - Spieler bei guten Angeboten teuer verkaufen - und dafür mehrere entwicklungsfähige Spieler günstig oder ablösefrei in den Borussia-Park lotsen - soll wieder reaktiviert werden.

Es wäre bitter nötig, damit es Gladbach nach drei turbulenten Spielzeiten schafft, eine stabile Saison zu spielen. Etwas, was Virkus und Coach Farke vorgeben, bereits diese Spielzeit geschafft zu haben. Und dabei außer Acht lassen, dass der Borussen-Kader immer noch der sechstwertvollste der Liga ist (laut Transfermarkt.de). 100 Millionen Euro beträgt der Marktwertunterschied zwischen Gladbach und Union Berlin, in der Tabelle haben die Hauptstädter aber 16 Punkte mehr auf dem Konto.

In der kommenden Saison dürften Verein und Fans erstmals nicht auf Vereine wie Union schielen. Dann wird der Europapokal auch intern keine Rolle mehr spielen und es nur darum gehen, den taumelnden Giganten vom Niederrhein mit neuen, hungrigen Spielern wieder auf Kurs zu bringen. Platz zehn könnte unter diesen Voraussetzungen dann tatsächlich als "stabile Saison" bezeichnet werden. Und wenn ein riesiger Klub wie Gladbach endlich wieder eine Mannschaft hat, deren Einzelspieler geschlossen die Raute verteidigen und Eigeninteressen hinten anstellen, dann ist ein solcher Verein auch im tabellarischen Niemandsland keine graue Maus mehr.

Quelle: ntv.de

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