Bundesliga-Check: Leverkusen Herrlich mental gegen die Katastrophe
06.08.2017, 12:45 Uhr
(Foto: imago/Jan Huebner)
Erst Absturz, jetzt Auferstehung? Mit Neu-Coach Heiko Herrlich und den Mentalitätszwillingen plant Bayer Leverkusen den Sturm zurück nach Europa. Der Kader ist jung und überdurchschnittlich talentiert. Trotzdem gibt es Katastrophenwarnungen.
Dortmunder Dissens-Dimensionen sind es noch nicht, aber: Kaum hat Heiko Herrlich den Trainerposten bei Bayer Leverkusen übernommen, hat er seinem Boss Rudi Völler auch schon das erste Mal öffentlich widersprochen. Während Völler kreativ auf den FC Bayern als kommenden Deutschen Meister tippt, glaubt Herrlich an die Meister-Zündung seines Ex-Klubs BVB. Einig sind beide immerhin darin: Leverkusen wird es nicht. Diese Annahme schiene nach dem enttäuschenden zwölften Platz in der Vorsaison auch arg vermessen. Unsere jüngeren Leser seien an dieser Stelle trotzdem ausdrücklich daran erinnert: "Vizekusen" ist nicht der einzige Titel, den der Werksclub bislang errungen hat. In der Bilanz stehen auch ein legendärer Uefa-Cup-Triumph 1988 und ein Pokalsieg 1993. Damals im Bayer-Kader: ein gewisser Heiko Herrlich. Das allein ist schon ein hübscher Funfact. Noch hübscher ist nur Herrlichs damalige Frisur, eine Lockenpracht, wie man sie allenfalls beim gemeinsamen Wunschkind von Rudi Völler und Carlos Valderrama für möglich gehalten hätte.
Was gibt's Neues?
Beim Trainingsstart am 5. Juli war Herrlich noch der einzige Bayer-Neuzugang. Inzwischen hat der Aufstiegstrainerheld von Jahn Regensburg Gesellschaft bekommen. Vom FC Augsburg wurde Mittelfeldspieler Dominik Kohr zurückgeholt, aus Dortmund der fehlende Bender-Zwilling verpflichtet. Nach acht Jahren kicken die Bender-Buben Lars und Sven nun also wieder gemeinsam und Herrlich schwärmt bereits: "Beide in einem Team zu haben ist großartig." Als Teil dieser Bayer'schen "Mentalitätsoffensive" ("Kicker") darf auch gelten, dass Sturmopa Stefan Kießling seine Fußballrente aufschiebt. Und dass die mitunter divenhaften Offensivstars Hakan Calhanoglu und Javier Hernandez für viel Geld nach Italien und England verkauft wurden. Schwerer wiegt da der Verlust von Ömer Toprak an Borussia Dortmund. Der Abwehrchef wurde noch nicht adäquat ersetzt. An Geld sollte das aber nicht scheitern.
Auf wen kommt es an?
Auf Karl-Heinrich Dittmar, Gregor Hencke, Achim Münster, Sven Elsinger, Till Rothweiler, Bodo Kuczmann, Jens Joppich und Stefan Wilbert. Die medizinische Abteilung von Bayer Leverkusen erwartet in der neuen Saison Schwerstarbeit, denn: Zwei Benders im Kader klingen auf dem Papier wunderbar. Zwei fitte Benders auf dem Rasen wären angesichts der Verletzungshistorie (Krankenakte Sven - Krankenakte Lars) der beiden Fußballkämpfer ein kleines Fußballwunder. Beim BVB erwarb sich Sven Bender den Spitznamen "Iron Manni", weil er "mit dem Kopf in Zweikämpfe [geht], in die ich nicht mal mit dem Fuß gehen würde", wie es Dortmunds Nuri Sahin einst formulierte. Lars Bender fiel zuletzt mehrere Monate mit einer Sprunggelenksverletzung aus. Eventuell sollte Leverkusen noch einen Schönheitschirurgen verpflichten für kosmetische Reparaturarbeiten, von Sven Bender ist schließlich auch der Satz überliefert: "Meine Freundin ist froh, wenn sie mich erkennt, wenn ich abends nach Hause komme."
Was fehlt?
Vorschusslorbeer für den neuen Coach schon mal nicht. "Heiko ist genau der richtige Mann für uns", ist Sportdirektor Völler trotz der meisterhaften Meinungsverschiedenheit und Herrlichs Unerfahrenheit als Bundesligacoach überzeugt. Das vogelwilde 3:3 zum Testspielabschluss gegen Celta Vigo darf durchaus schon als Teil der neuen Markenbildung verstanden werden. Allerdings wäre Völler und Herrlich ein Sieg und damit eine etwas hübschere Testspielbilanz wohl lieber gewesen. Nach sieben Partien steht nur ein 6:0 gegen Landesligist VfB Speldorf auf der Habenseite, was die eher blamablen Pleiten gegen Drittligist Kickers Würzburg und Zweitligist SV Sandhausen sowie die beiden Gegentore durch Ex-BVB-Flop Ciro Immobile gegen Lazio Rom nicht ganz aufwiegt.
Mental war Leverkusen in der vergangenen Saison ähnlich stabil wie die Muskelfasern und Sehnen im Körper von Marco Reus. Minimale Widerstände führten zu maximalen Verwüstungen. Die fürchtet Herrlich auch im Pokalspiel gegen Drittligist Karlsruher SC, weil seine Profis gedanklich schon beim Bundesliga-Start gegen den FC Bayern eine Woche später sein könnten. "Wenn wir da von der Einstellung her nur ein bisschen nachlässig sind, könnte das eine Katastrophe werden", warnte Herrlich sein Team Anfang August. Vielleicht sollte er sein Team auch nochmal an das glorreiche Pokalspiel 2011 gegen Zweitligist Dynamo Dresden erinnern, als Bayer bis zur 68. Minute mit 3:0 führte – und noch rausflog. Sicher ist sicher.
Wie lautet das Saisonziel?
Das zehrende Schmidteinander und dessen Beendigung inklusive Korkut-Fehlgriff war in der letzten Saison nach jahrelangem Europa-Abo völlig unerwartet im Absturz auf Rang zwölf gegipfelt - mit dem besten Bayer-Kader aller Zeiten. Aber, hat Oldie Kießling erkannt: "Es reicht nicht, wenn viel individuelle Qualität vorhanden ist. Wir waren keine richtige Mannschaft. Heiko Herrlich hat vom ersten Tag an bei uns genau da angesetzt und vermittelt, dass man nur gemeinsam etwas erreichen kann." Den Kollegen von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" diktierte Völler deshalb in den Block: "Unser Mindestziel ist die Europa League, Wunschziel ist die Champions League."
Die n-tv.de Prognose?
Der Bayer-Kader ist bis auf die Abwehrzentrale nach wie vor exzellent besetzt. Mit Julian Brandt, Kai Havertz, Benjamin Henrichs und Jonathan Tah spielen einige der größten deutschen Talente in Leverkusen, die nach der verkorksten Vorsaison etwas gutmachen wollen und von Routiniers wie Kießling geführt werden können. Legt Erstliga-Novize Herrlich 1.) den Schalter von Aufbruchsstimmung zu Aufbruchsfußball um, lässt er 2.) die Leverkusener nur annähernd so taktisch flexibel und aggressiv-offensiv agieren wie Jahn Regensburg in seiner 18-monatigen Amtszeit auf dem Weg von Liga 4 in Liga 2 und bringt er 3.) Stabilität in Spiel, Leistung und Teamgeist, könnte Bayer wieder zu einer der aufregendsten und erfolgreichsten deutschen Mannschaften werden, quasi zum Union Berlin der 1. Liga. Ansonsten droht eine, Verzeihung, herrliche Katastrophe.
Quelle: ntv.de