Kroos, Reus, Hummels, wer weint? In Wembley enden große deutsche Fußballgeschichten
01.06.2024, 08:44 Uhr
Real Madrid verneigt sich vor Toni Kroos.
(Foto: dpa)
Real Madrid und Borussia Dortmund duellieren sich am Samstagabend um den Henkelpott. Das Finale der Champions League bedeutet auch das Ende von großen deutschen Fußballgeschichten. Tränen werden fließen. Mindestens auf einer Seite - vielleicht auf beiden?
In Wembley kommen sie ein letztes Mal zusammen: Toni Kroos, Mats Hummels und Marco Reus. Drei Gesichter des deutschen Fußballs. Drei Karrieren, die sich immer mal wieder in Schönheit und Scheusal kreuzten und nicht weiter voneinander entfernt hätten laufen können. Sportlich, emotional, gesundheitlich. Wieder Wembley. Wie vor elf Jahren, als sich der FC Bayern und Borussia Dortmund im Finale der Champions League begegnet waren. Als Kroos den Münchnern verletzt fehlte, als Reus und Hummels für die Dortmunder glänzten. Als der FC Bayern dramatisch gewann. Als Tränen flossen. Als Großes, als Triumphales, als Tragisches erwuchs.
Deutsche Fußballgeschichte begann, ein Jahr später raste sie schon auf den Höhepunkt. In Brasilien wurde das DFB-Team Weltmeister. Mit Regisseur Kroos, mit Heldengrätscher Hummels. Ohne den kurz vor dem Turnier verletzten Reus. Nur einmal trafen sich alle drei bei einer WM, 2018, beim Debakel von Russland. Reus hatte nur einen in Erinnerung gebliebenen Moment, als er Kroos den genialen Freistoßtreffer zum Siegtreffer gegen Schweden (2:1) auflegte. Ein paar Tage später ließ Hummels die Riesenchance gegen Südkorea liegen. Statt Achtelfinale gab's die gigantische Turnierblamage. Der Auftakt einer schlimmen Serie. Nun wieder Wembley. Hier endet, was damals begann. Mit einem großen Triumph, mit geschlagenen Helden. Und wieder mit Tränen.
Redet sich um Hummels um seine BVB-Zukunft?
Für Real Madrids Legende Toni Kroos ist es das letzte Spiel als Vereinsfußballer. Für Marco Reus ist es das letzte Spiel als Fußballer von Borussia Dortmund. Und für Mats Hummels? Nun, man weiß es noch nicht. Der Vertrag des Innenverteidigers beim BVB läuft Ende des Monats aus. Drei Optionen hatte er diese Woche für die Zukunft genannt: Verbleib, neuer Verein im nahen EU-Ausland oder Karriereende. Wobei dieses letzte Szenario das "unwahrscheinlichste" ist, so Hummels. Sollte tatsächlich noch nichts entschieden sein, dürfte der Abend in Wembley, der Abend des Champions-League-Finals (21 Uhr im ZDF und im ntv.de-Liveticker) elementar werden.
Es geht an diesem Samstag wieder um den Henkelpott. Um den größten Titel im europäischen Klubfußball. Elf Jahre nach der bitteren Niederlage gegen den FC Bayern ist die Borussia an gleicher Stelle zurück auf der größten Bühne. Aber warum eigentlich? Das ist die vielleicht spannendste Frage der Saison. In der Bundesliga quälte sich die Mannschaft gegen Außenseiter wie Darmstadt, Heidenheim und Bochum. In der Königsklasse wehrte sie dagegen eine Attacke nach der anderen von Top-Rivalen ab. Mit Glück, klar, wie im Halbfinale gegen Paris St. Germain, aber vor allem mit gigantischer Hingabe. Kaum jemand lebte diese mehr vor als Hummels, der den alten Heldengrätscher in sich entdeckt und so gnadenlos gut gespielt hatte wie viele Jahre zuvor nicht. Für einen Platz im deutschen EM-Kader hat es trotzdem nicht gereicht. Und für einen Verbleib beim BVB? Sportlich hat er die Argumente auf seiner Seite. Aber nach einer überraschenden, harten Attacke auf Coach Edin Terzic via "Sport Bild" scheint kaum vorstellbar, dass beide mittelfristig weiter gut zusammenarbeiten. Aber: Die Option bleibt.
Borussia Dortmund war in der Bundesliga oft ein Riese, aber mit gebrechlichen Beinen, an Krücken laufend. Doch wenn die ikonische Hymne von Tony Britten erklang, warf der Riese die Gehhilfen weg, flanierte über den Rasen, als würde es die Lähmungserscheinungen der Wochenend-Veranstaltungen einfach nicht geben. Todesgruppe? Check! Super-PSV-Eindhoven? Check! Dreckiges Atletico? Check? Luxuriöses PSG? Check! Und wieder Hummels. Als Antreiber, Grätscher und als Torschütze. Im Halbfinal-Rückspiel erzielte er das 1:0 und gemeinsam mit Niclas Füllkrugs 1:0 aus dem ersten Duell erwuchs eine große Hypothek, die für das Superstarensemble der katarischen Geldgeber nicht mehr abzuarbeiten war.
Der Körper raubt Reus die besten Jahre
Nachdem die Dinge im Prinzenpark erledigt waren, nachdem Schiedsrichter Daniele Orsato abgepfiffen hatte, bogen die Dortmunder im Vollsprint zu den eigenen Fans ab. Dort entstanden ikonische Bilder. Vor allem eins mit Marco Reus. Der unvollendete Schwarzgelbe stand auf dem Zaun, das Megafon in der Hand, und gab den Takt der Party vor. Wenige Tage zuvor war bekannt geworden, dass der Offensivspieler seinen auslaufenden Vertrag nicht verlängert und den BVB in diesem Sommer verlassen wird. Wohin es ihn zieht, unklar. Ein ganz großer Klub wird es für den 35-Jährigen wohl nicht mehr werden. Denn der einst größte Star im deutschen Fußball hatte seine Zeit. Wobei das eigentlich nicht richtig ist. Seine Zeit war nie die, die sie eigentlich hätte werden sollen.
Spätestens nach der Saison 2012/13, als sich der BVB mit seinen jungen Wilden um Reus, Hummels, Neven Subotić, İlkay Gündoğan, Mario Götze, Robert Lewandowski als Rock'n'Roll-Express durch Europa gehämmert hatte. Reus war die Rolle als nächster Weltstar vorbehalten, vielleicht sogar als Weltfußballer. Als externe Kraft, die den ewigen Zweikampf von Cristiano Ronaldo und Lionel Messi aufmischen könne. Ja, so gut war er damals, sollte er damals werden. 2017 schaffe er es aufs Cover das EA-Sports-Klassikers FIFA. Als bisher einziger DFB-Spieler. Doch dann kamen wieder die Verletzungen, diese ewigen Verletzungen.
Sein Körper, so schrieb einst der Kollege Stephan Uersfeld, raubte Reus die besten Jahre. Er war nicht mehr der Popstar mit der Lama-Frisur, nicht mehr Ikone, er wurde mehr und mehr zu einem tragischen, zu einem traurigen Helden. Als Kapitän wurde er Sinnbild des ewigen Gefühls, dass mehr möglich gewesen wäre. Für den Klub, für ihn selbst. Er war nie der Anführer, den manche in ihm sehen wollten. Er war ein genialer Fußballer, aber kein Chef. Wenn der Klub wieder einmal in Mentalitätsdebatten gezogen wurde, war er das Gesicht.
Die verpasste Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Oder nur noch einmal, ganz kurz. Nach dem Sieg gegen Paris kehrte der BVB heim, der FC Augsburg war in der Bundesliga zu Gast. Reus spielte wie zu besten Zeiten. Er traf, bereitete zwei Tore vor. Die "Süd" ehrte ihn mit einer Monster-Choreo, "11, Danke Marco" stand da. Reus ging später alleine zur Tribüne, es flossen Tränen. Ein Held hört auf.
Reus und Hummels zurück in Wembley, das weckt große Emotionen. Auch wenn sie immer noch schmerzen. Besonders bei einem Pleiten-Déjà-vu. Wobei das wohl immer noch besser auszuhalten gewesen wäre, als wenn der FC Bayern erneut Gegner und womöglich erneut der Triumphator gewesen wäre. Aber das hat Real Madrid ja verhindert. Manche sagen auch, Szymon Marciniak war der Matchwinner für die Königlichen. Tief in der Nachspielzeit hatte der Schiedsrichter eine Szene wegen angeblichen Abseits abgepfiffen, die den Münchnern den Ausgleich beschert hätte. Die Bayern tobten, Real feierte. Wieder einmal hatte dieses Ensemble zugeschlagen, das die innere Ruhe eines Faultiers besitzt und die gnadenlose Gefräßigkeit eines Weißen Hai im Blutrausch. Der ehemalige Bundesliga-Stürmer Joselu schlug in der 88. und 91. Minute zu, Real schien dem Aus lange näher als einem 15. Triumph in der Königsklasse.
Kroos bleibt Herz und Hirn
Doch Real Madrid ist eben Real Madrid. Und Real Madrid stirbt nie. Über mehr als ein Jahrzehnt hinweg hat sich diese Mannschaft das Grundvertrauen erspielt, dass zu jeder Zeit alles möglich ist. Manchester City musste das vor zwei Jahren ertragen, als die Königlichen nach der 90. Minute noch drei Tore erzielten und das Halbfinale so für sich entschieden. Und vor wenigen Wochen war es eben der FC Bayern, der unter der Magie der Mannschaft von Carlo Ancelotti zerbrach. Deren Herz und Hirn ist Toni Kroos. Nun ein letztes Mal. In diesem Sommer macht der Spielmacher endgültig Schluss. Wembley wird ein letztes Spiel als Vereinsfußballer. Und es wird eines auf dem Höhepunkt. Obwohl es den ja eigentlich gar nicht gibt. Wer will schon sagen, wann es die beste Version von Kroos jemals gegeben hat? Der 34-Jährige kennt keine Zeit, keinen Zahn, der an ihm nagt.
Wie gut er ist, das hat Deutschland im März erfahren. Da kehrte Kroos in die Nationalmannschaft zurück. Die war wieder einmal heftig in die Krise gestolpert. Die Heim-EM drohte schon vor dem ersten Anpfiff zu einem Debakel zu werden. Zu schwach waren die Eindrücke aus den letzten Länderspielen des Jahres 2023. Bundestrainer Julian Nagelsmann stellte alles auf den Prüfstand und kam mit Kroos überein, dass eine Rückkehr des Weltmeisters von 2014 eine prima Sache sei. Dieses Turnier in Brasilien damals bestritt Kroos mit Hummels, dem Heldengrätscher, und ohne Reus, dessen Verletzungspech das Land sprachlos machte. Und kurz unter Schock stellte.
Kroos war plötzlich wieder da. Und sofort dieser Chef, den eine orientierungslose Crew braucht. Er orchestrierte eine völlig neu zusammengestellte Auswahl. Frankreich wurde vorgeführt, die Niederlande mit Leidenschaft bezwungen. An der Seite von Kroos: Robert Andrich. Mehr Gegensatz zu Madrid geht nicht. Andrich ist ein Malocher vor dem Herrn, ein Kettenhund, der unter Xabi Alonso allerdings auch sein strategisches Geschick verbesserte und einen guten Schuss hat. Aber ein Weltstar, das ist er nicht. Die tummeln sich derweil bei Real an der Seite von Kroos. Eine kleine Ewigkeit war das Luka Modrić, der Fußball-Mozart. Und Casemiro, der Abräumer. Wobei die brasilianische Variante des Malochers ja trotzdem immer etwas Erhabenes, Ball-liebendes hat.
Das Hoeneß-Stigma klebte lange an Kroos
Mittlerweile heißen die Spieler im engsten Mittelfeld-Kosmos des überragenden Kroos Aurélien Tchouaméni und Jude Bellingham. Junge Weltstars, die ihre große Zeit noch vor sich haben. Bellingham, das ist auch so eine Geschichte. Seine Reife für den Klub erwarb er sich bei Borussia Dortmund. Dort erwuchs er schneller als man zusehen konnte von einem Top-Talent zur unverzichtbaren, alles überragenden Mittelfeld-Figur des BVB. Sein Abgang im vergangenen Sommer tat und tut den Schwarzgelben brutal weh. Nicht nur wegen der dramatisch verschenkten Meisterschaft, die Bellingham wegen Knieproblemen von draußen erleiden musste. Diesen Abgang konnten sie nie kompensieren. Auch so ein Grund, warum es in der Bundesliga in dieser Saison nicht gut lief.
Warum Kroos nun aufhört, wo er doch so gut ist? Wo er bei Real unverzichtbar, eine Legende ist? Und ihm seine deutsche Heimat endlich die Liebe entgegenbringt, die ihm lange verwehrt blieb? Er, der das Querpass-Toni-Stigma von Uli Hoeneß nie losgeworden war. Dem der Patron des FC Bayern noch um die Ohren haute, dass es für das DFB-Team ein Titanic-Signal sei, dass Kroos zurückkehre. Nun, er geht, weil er über den Zenit gehen will. Nicht ein Fußballer sein möchte, dem man nachsagt, dass es besser gewesen wäre, früher abzutreten. Wie es so oft schon vorgekommen ist. Kroos hat alles unter Kontrolle. Auf dem Platz, in der Karriereplanung.
Der Greifswalder, der erfolgreichste deutsche Fußballer überhaupt, hat sich allerdings nie darum geschert, was andere sagen oder denken. Vor allem in seiner Heimat nicht. In Spanien wurde er geliebt. Und wie. Die Tränen beim Abschied in Bernabeu gingen um die Welt. Kroos zeigte Emotionen. Das hatte er lange nicht getan. Auch etwas, das ihn bei den Fans hierzulande weniger greifbar als Star machte, als etwa Plappermaul Lukas Podolski oder den Gaudibursch Thomas Müller. Oder den eloquente Hummels. Und den netten Bastian Schweinsteiger.
Zum Abschluss noch Weltfußballer?
Ecken und Kanten bekam Kroos erst 2022. Nach dem Champions-League-Sieg gegen den FC Liverpool. Sichtlich angefasst suchte er nach Worten für den wichtigsten Königsklassen-Titel seiner Karriere, den er erstmals mit der gesamten Familie feiern konnte. Da war er schon nahbar, der Familienvater. Als das Interview im ZDF dann aber falsch abbog, es darum ging, dass Real heftig unter Druck gewesen war, eskalierte Kroos komplett. Unvergessen seine Sätze: "Du hattest 90 Minuten Zeit, dir vernünftige Fragen zu überlegen. Und dann stellst du mir zwei so Scheißfragen." Kroos hob die Hände vors Gesicht und brach das Gespräch ab. Dann schob er noch wütend nach: "Ganz schlimm, ganz schlimm. Wirklich." Und schließlich noch: "Du stellst erst zwei negative Fragen, da weißte schon, dass du aus Deutschland kommst." Kroos hatte seinen "Weißbier"- , seinen "Eistonnen"-Moment.
Die späte Heldenwerdung des kühlen Herzens von Real Madrid in Deutschland begann. Mit einer Doku bei Netflix hatte er sich bereits nahbar(er) gemacht und dann erst recht mit dem lustigen Podcast "Einfach mal luppen" mit seinem Bruder Felix. "Ich hoffe, dass er noch einmal die Champions League gewinnen kann", sagte Real-Coach Carlo Ancelotti. "Aber die Karriere von Toni Kroos braucht nicht noch einen Champions-League-Sieg mehr, um in die Geschichte einzugehen. Er ist bereits Geschichte." Er hat, wie Real Madrid übrigens auch, noch kein einziges Finale der Champions League verloren (Kroos fünf, Real acht). Ungeachtet dessen wurde er unter anderem von Ancelotti bereits für den Ballon d'or, als Weltfußballer, ins Spiel gebracht.
In Wembley kommen sie ein letztes Mal zusammen: Kroos, Hummels, Reus. Deutsche Fußballgeschichte endet. Mit einem großen Triumph, mit geschlagenen Helden. Und ganz sicher mit Tränen.
Quelle: ntv.de