Münchner "Arroganz" vs Bayer-Gen Leverkusen dringt in Galaxien vor, die Bayern nie erreichte
07.04.2024, 07:13 Uhr
Da geht es lang: Unter Xabi Alonso rast Bayer Leverkusen gen Deutsche Meisterschaft.
(Foto: IMAGO/Jan Huebner)
Der FC Bayern blamiert sich in Heidenheim bis auf die Knochen, Bayer Leverkusen kann am nächsten Wochenende die Blitz-Meisterschaft klarmachen. Gegen Union Berlin zeigt das Team von Xabi Alonso ein ganz eigenes Bayer-Sieger-Gen - während die Münchner kollabieren.
Kurz nach halb sechs am Samstagabend. Als die Mannschaft von Thomas Tuchel schon mehrere Minuten vom Platz gekrochen ist, tanzt Bayer Leverkusen noch vor den mitgereisten Fans in der Alten Försterei. Krise beim FC Bayern, Euphorie beim Tabellenführer. Unterschiedlicher können Stimmungsbilder derzeit nicht sein. Während die Münchner ein peinliches 2:3-Debakel beim Aufsteiger Heidenheim erleiden, macht das Team von Xabi Alonso mit dem 1:0-Arbeitssieg bei Union Berlin den vielleicht vorletzten Schritt zu Deutschen Meisterschaft.
41 Spiele in Folge ist Leverkusen nun ungeschlagen. Fast ein Jahr ist die letzte Niederlage her (Ende Mai 2023, 0:3 gegen Bochum). Davon können die Bayern nach zwei Pleiten in Folge und vier Niederlagen in den jüngsten acht Partien derzeit nur träumen. Union Berlin läuft im Star-Trek-Trikot gegen den Tabellenführer auf (eine Werbe-Aktion des Trikotsponsors für eine neue Staffel aus dem Science-Fiction-Universum), außerirdisch werden die Leistungen der Teams an diesem Nachmittag jedoch nicht. Aber dennoch: In neue Galaxien dringt derzeit in Fußball-Deutschland nur Bayer Leverkusen vor und hat jetzt schon mehr ungeschlagene Spiele am Stück, als die Münchner je schafften.
Seit Wochen und Monaten rast die Werkself dem FC Bayern in der Meisterschaft davon. Warp 10 ist nichts dagegen. Am kommenden Wochenende könnte sie die erste Deutsche Meisterschaft der Vereinshistorie klarmachen. Vizekusen, Ade. Dabei macht es Leverkusen wie Raumschiff Enterprise und erforscht unbekanntes Terrain: Womöglich holt man am Ende nicht nur die Schale, sondern feiert auch eine Bundesliga-Saison ohne Niederlage. Das hat zwar zuvor noch keine andere deutsche Mannschaft geschafft, auch der FC Bayern nicht. Ein unberührter Planet. Damit nicht genug, denn Leverkusen könnte noch eine weitere Marke knacken. Ohne Niederlage am Donnerstag in der Europa League gegen West Ham United und am Sonntag gegen Werder Bremen würde die Mannschaft mit Juventus Turin (43 Pflichtspiele ohne Niederlage in den Jahren 2011 und 2012) als Rekordhalter in Europa gleichziehen.
Xhaka: "Alles ist möglich"
Für Granit Xhaka ist die mögliche Bestmarke aber kein weiterer Ansporn. Für ihn zählen Titel: "Die Meisterschaft ist noch nicht ganz sicher, dementsprechend müssen wir erst mal unsere Aufgabe erledigen", sagt ein hoch konzentrierter Bayer-Anführer in den Katakomben und blickt direkt nach vorn: "Je früher wir Meister werden, desto mehr können wir uns auf die Europa League konzentrieren." Außerdem bleibt er trotz der 16 Punkte Vorsprung von den Münchnern realistisch: "Dass uns eine Mannschaft mal schlagen wird, kann passieren. Es ist nicht so, dass wir komplett unschlagbar sind. Aber wenn wir so weitermachen - mit dieser Mentalität, so bodenständig - dann ist alles möglich." Auch der Rekord.
Natürlich glaubt in München auch vor diesem Spieltag kaum noch einer an die Meisterschaft. Doch das Spiel in Heidenheim ist ungemein wichtig, schließlich geht es am Dienstag nach London zum Viertelfinale in der Champions League gegen den FC Arsenal. Die einzige echte verbleibende Titelchance. Doch sowohl die Bayern als auch Leverkusen können in der ersten Hälfte trotz eines dominanten Auftretens echte Durchschlagskraft entwickeln. Bis kurz vor dem Pausentee.
Während der Rekordmeister durch einen Doppelschlag von Harry Kane (38. Minute) und Serge Gnabry (45.) auf 2:0 stellt, überschlagen sich in der Alten Försterei die Ereignisse. Im Mittelpunkt immer wieder: Robin Gosens. Früh holt er Florian Wirtz rüde von den Beinen und sieht dafür Gelb. Anschließend schickt ihn Nathan Tella mit Finten ein ums andere Mal in den Gamma-Quadranten. Auch in der 45. Minute kann der Nationalspieler außer Dienst Leverkusens quirligen Rechtsaußen wieder nicht halten. Nahe der Grundlinie senst er seinen Gegner rustikal um, bevor dieser in den Strafraum dringen kann. Gelb-Rot. Klare Sache. Gosens stapft vom Feld, denkt womöglich: "Beam mich bitte bloß weg von hier, Scotty."
Bayern-Blamage, Bayer-Aliens?
Der anschließende Freistoß führt zu Kuddelmuddel rund um den Fünfmeterraum der Köpenicker, Piero Hincapie trifft den Pfosten, am Ende schießt Odilon Kossounou ein. Der Treffer zählt aber nicht, weil Amine Adli den Ball zuvor noch berührt - und dabei zwar nicht im Abseits steht, dafür aber liegt. Doch dann mischt sich Benjamin Brand ein, Christopher Trimmel soll den Ball mit seinem Ellenbogen gespielt haben im Strafraum. Der Referee schaut sich die Szene am Bildschirm an, gibt Elfmeter (der Unioner Kapitän sieht keine Karte, weil der von ihm regelwidrig abgefälschte Schuss womöglich nicht ins Tor gegangen wäre) und Wirtz sagt: Danke. 1:0. Die Alte Försterei wütet wie ein Ionensturm.
Anschließend aber zeigt sich der große Unterschied in dieser Saison: Der FC Bayern fällt binnen weniger Minuten auseinander, Leverkusen bringt die Partie dominant und abgeklärt wie sonst immer, die Münchner nach Hause. Kurz nach dem Wiederanpfiff: In Köpenick feiern sie ihren Frederik Rönnow für eine seiner unzähligen starken Paraden, denn auch mit Star-Trek-Trikots verhindert fast ausschließlich der Keeper als Schutzschild Schlimmeres, ansonsten sind die Unioner den Leverkusenern allesamt unterlegen. Zum gleichen Zeitpunkt fangen sich die Bayern zwei Tore beim FC Heidenheim (50. und 51.). Blamage binnen einer Minute.
Mia san mia. Bayern-Gen. Wo ist die Selbstverständlichkeit des Rekordmeisters hin? Schier unbezwingbar wirken in dieser Spielzeit lediglich die Leverkusener. Als hätten sie den Münchnern das Sieger-Gen gestohlen. Als wären sie doch übermächtige Außerirdische: Widerstand ist zwecklos. Auch wenn Torwart Lukas Hradecky nach der Partie in den Katakomben klarstellt, dass seine Mannschaft nicht aus Borg-Aliens besteht, die nihilistisch, rücksichtslos und um jeden Preis nach Eroberung und Perfektion streben: "Wir sind auch Menschen", sagt der Torwart dazu, dass Bayer diesmal nicht mit Hurra-Fußball, sondern mit Kampf gewinnt.
Bayerns Scherbenhaufen vor Arsenal-Spiel
Denn nach dem beeindruckenden Sieg unter der Woche gegen Düsseldorf zum Einzug ins Pokalfinale liefert die Werkself keinen weiteren Sturmlauf ab. Sie erarbeitet sich einen Sieg und beherrscht das Geschehen mit ruhig-resoluter Dominanz. Auch ohne den großen Glanz. Solche Auftritte war man in Serie in den vergangenen Jahren lediglich vom FC Bayern gewohnt. Und genau so gelingt einem Team eine meisterliche und vielleicht ungeschlagene Saison, denn jedes Spiel ein Glanzlicht abliefern, das geht selbst in fernen Galaxien nicht.
Alonso erklärt auf der Pressekonferenz nach dem Spiel auf Nachfrage von ntv.de allerdings, dass er nichts vom geklauten "Mia san mia" in Leverkusen wissen will. Bayern-Gen? Bayer-Gen! "Wir brauchen uns nicht zu vergleichen und haben unsere eigene Art und Weise", sagt der sichtlich gut gelaunte Trainer. "Wir kämpfen immer bis zum Ende, haben so die Saison über viele gute Ergebnisse gesammelt und konnten eine gute Mannschaft erschaffen."
In der 77. Minute hält erneut Rönnow Union im Spiel, als Wirtz bei einer Umschaltsituation Tella findet, den Abschluss ins lange Eck kann der Keeper aber aus dem Eck kratzen. Zum gleichen Zeitpunkt (79.) stellen die Heidenheimer gegen den Rekordmeister auf 3:2. Als in der Köpenicker Nachspielzeit selbst Torhüter Rönnow mit nach vorn stürmt, was Leverkusen aber auch nicht mehr in Gefahr bringt, ist beim Aufsteiger die Pleite der Münchner bereits besiegelt. Die Bayern stehen vor den wichtigen Königsklassen-Spielen vor einem Scherbenhaufen, erleben das nächste Debakel. In dieser Saison gibt es davon so viele wie wohl in den vergangenen Jahren zusammen nicht (allein 2024 verloren Tuchels Männer gegen Bremen, Bochum und Heidenheim). Frust und Fragezeichen statt Bayern-Gen.
Eberl kreidet "Arroganz" an
"Wir müssen ehrlicherweise sagen, dass wir sieben Punkte vor Platz fünf sind, wenn ich es richtig rechne", wütete Max Eberl in Heidenheim: "Wir sollten schon diese Arroganz weglegen. Von wegen 'wir sind schon Zweiter, wir werden schon Zweiter' - wir sollten gucken, dass wir Zweiter werden." Laut des Bayern-Managers handelt es sich bei seinem Team sogar um "ein Problem der Folge der letzten elf Jahre".
Bayer Leverkusens Dominanz geht weiter. Für neutrale Beobachter ist Xabi Alonsos Offensivfußball ein Genuss. Doch gegen Union zeigen seine Fußballer, dass sie auch mit Kampf und Abgeklärtheit verwalten können. Dass die Werkself die Schale holt, zweifelt längst niemand mehr an. Es geht lediglich noch um zwei Fragen: Wann ist es so weit (eine Sofa-Meisterschaft gäbe es im Fall einer Bayern-Pleite gegen Köln am Samstag)? Und werden Wirtz und Co. ungeschlagen Meister?
Und in München? "Sie werden Shakespeare erst richtig genießen, wenn sie ihn im klingonischen Original lesen", wurden Captain Kirk und Mr. Spock im Kinofilm "Star Trek VI - Das unentdeckte Land" einst belehrt. Shakespeare auf Klingonisch. So fühlt sich für den FC Bayern das Fußballspielen derzeit an. Ein Aus gegen Arsenal im Viertelfinale der Champions League und die ohnehin denkbar schlechte Saison würde in einem wahren Desaster enden. Während die Werkself in neue Galaxien vorstößt, die selbst für den Rekordmeister bisher unerreichbar waren.
Quelle: ntv.de