Zeitung schreibt sich in Rage Tuchel stellt sich schmerzvollster Aufgabe im Weltfußball
16.10.2024, 06:55 Uhr
England sucht einen Weltklassetrainer - und findet ihn: Thomas Tuchel übernimmt die "Three Lions". Sein Auftrag ist ebenso klar wie groß. Er soll die Titelsehnsucht im Mutterland des Fußballs endlich stillen. Die Voraussetzungen sind prächtig.
Der Ruf von Thomas Tuchel hat auch durch seine geräuschvolle Zeit beim FC Bayern nicht gelitten, zumindest nicht in England. Dort, wo sich der 51-Jährige nach eigenem Bekunden ohnehin mehr wertgeschätzt fühlt als in Deutschland, übernimmt er eine Aufgabe, die kaum größer und reizvoller sein könnte: Tuchel wird Trainer der "Three Lions", der englischen Fußball-Nationalmannschaft. Das hat der Verband am späten Mittwochvormittag bestätigt. Mindestens bis zur WM 2026 soll er das Team betreuen, das sich vor Superstars kaum retten kann. Allerdings ist die Superkraft der einzelnen Spieler seit Ewigkeiten nicht titeltauglich, Team und Land daher tief versunken in einer Titel-Depression, gepeinigt von mittlerweile 58 Jahren Schmerz.
1966 jubelte das ewig leidenschaftliche und leidensfähige Mutterland des Fußballs zum letzten Mal. Weltmeister im eigenen Land waren sie geworden, unter Zuhilfenahme des Wembley-Tors. Seither rennen sie vergeblich an. In diesem Sommer waren sie mal wieder nah dran. Bei der EM in Deutschland waren sie auf eine Weise ins Finale vorgedrungen, die den eigenen Anhang empörte. Trainer Gareth Southgate hatte der Mannschaft einen Fußball verschrieben, der so schrecklich daherkam, dass die Fans sogar für Momente ihre Wut auf das "Shithole" Gelsenkirchen vergaßen.
Was kann der Löwe leisten, wenn er wild wird?
Southgate gönnte sich nach dem gegen Spanien verlorenen Finale eine kleine Denkpause und entschied dann, nicht mehr weiterzumachen. Dabei war seine Zeit nicht unerfolgreich. EM-Finale 2024, EM-Finale 2021, WM-Halbfinale 2018. Aber richtig warm wurden die Engländer mit diesem Trainer nicht, der selbst einmal für das große Scheitern stand - als Spieler verschoss er 1996 im EM-Halbfinale vor heimischem Publikum den finalen Elfmeter gegen Deutschland. Andreas Möller trat nach ihm an, traf und baute sich in Siegerpose vor den Fans auf.
Diese Siegerpose eines Deutschen erhoffen sich die Engländer von Tuchel. Überraschend schnell wurden Fakten geschaffen. Ab Januar geht's offiziell los. Sein Debüt gibt er also doch nicht, wie zunächst vermutet, beim Nations-League-Spiel am 14. November in Griechenland. Gegen den Außenseiter hatte sich England vor wenigen Tagen erst in Wembley blamiert. Der unglückliche, ehemalige U21-Coach Lee Carsley sagte hernach: "Dieser Job verdient einen Weltklassetrainer, der Trophäen gewonnen und alles durchgemacht hat." Er selbst hatte damit sein Ende bei diesem Rätsel des Weltfußballs eingeläutet. Wieder einmal gab es große Fragen: Was ist nur los mit diesem Team, dass so wahnsinnig begabt ist. Southgate konnte diese Frage nie final lösen. Immer wieder wirkte es, als würde er den tatenhungrigen Löwen an der Kette lassen. Bloß nicht zu wild werden.
Dabei würde man so gerne wissen, was das englische Raubtier draufhat, wenn es denn ungehindert auf Beute-Jagd darf. Tuchel muss sich dieser gigantischen Aufgabe nun stellen. Nur wenige Monate nach dem Ende seiner strapaziösen Zeit beim FC Bayern, die den Klub nie zur Ruhe kommen ließ. Tuchel, der ewig Unruhige, hatte den Rekordmeister auf Trab gehalten. Durchaus interessant: Der Trainer geht den gleichen Weg wie sein Vorgänger in München, Julian Nagelsmann. Der stellte sich der ebenfalls äußerst komplexen Aufgabe, die deutsche Krisen-Nationalmannschaft aus dem tiefen Loch zu führen. Die ersten Schritte gelangen nicht, Nagelsmann musste in neuer Rolle erst laufen lernen. Wie Forest Gump wurde er aber schneller und schneller und hat mittlerweile eine Mannschaft geschaffen, für die es kaum noch Widerstände zu geben scheint, die sie nicht überwinden kann.
Harry Kane ist völlig aus dem Häuschen
Ob Tuchel eine ähnliche Erfolgsstory schaffen kann? Die Ausgangsbedingungen sind jedenfalls prächtig, selbst wenn das Team nicht gut funktioniert. Aber was hat der Trainer für Möglichkeiten? Er kann um Weltstar Jude Bellingham eine monströse Mannschaft bauen, mit Declan Rice, den er als München-Coach heftig umworben hatte. Um den genialen Phil Foden und den trickreichen Bukayo Saka. Und um seinen immer noch titellosen Ex-Spieler Harry Kane. Was wäre das für eine Nummer. Kane jedenfalls war schon vor der Verkündung völlig aus dem Häuschen bei der Aussicht auf eine erneute Zusammenarbeit. Er schwärmte vom "fantastischen Trainer" und "fantastischen Menschen" Tuchel.
In den Medien kommt der gigantische Deal nicht nur gut an. Die "Sun" fordert: "Der englische Fußball sollte den explosivsten, dynamischsten, charismatischsten und unmöglich groß und schlaksigsten Trainer, der je in der Premier League für Furore gesorgt hat, wieder willkommen heißen." Die "Daily Mail" dagegen wütet in aller Deutlichkeit: "England muss bis zum letzten Mann im Trikot englisch sein. Wir brauchen keinen Thomas Tuchel, sondern einen Patrioten, für den das Land an erster, zweiter und dritter Stelle steht. (...) Der Trainer sollte jemand sein, der in der Fußballkultur dieses Landes geboren und aufgewachsen ist, jemand, der mit den besten und schlechtesten Eigenschaften unseres Landes vertraut ist."
Eine faszinierende Liaison
Aber natürlich gehen die Engländer mit dem gebürtigen Schwaben auch ein Risiko ein. Tuchel hat noch nie als Nationaltrainer gearbeitet. Die Herangehensweise ist eine andere, man hat kaum Zeit mit dem Team. Zudem ist Tuchel nicht bekannt für seine diplomatische Art. Wenn ihm Dinge gegen den Strich gehen, lehnt er sich offen dagegen auf. In Dortmund kam das nicht gut an, in Paris und beim FC Chelsea ebenfalls nicht. Auch in München fremdelten sie damit, wenn Tuchel mal wieder öffentlich Verbalholz hackte. Als rund um den Rekordmeister kurz eine Debatte angestoßen worden war, ob man die Trennung von Tuchel nicht doch rückgängig machen könne oder solle, wegen guter Leistung und mangels Alternativen, stellte die Macht vom Tegernsee, Uli Hoeneß, den 51-Jährigen mächtig in den Senkel, verletzte ihn tief in seiner Trainerseele.
Und dennoch hat diese Liaison etwas Magisches, etwas Faszinierendes. Tuchel ist der dritte Ausländer auf dem Posten des Teamchefs: zuvor waren das Sven-Göran Eriksson (2001 bis 2006) und Fabio Capello (2007 bis 2012). Und sein Ruf auf der Insel ist bestens, auch beim Krisen-Klub Manchester United stand er auf der Liste der potenziellen Erlöser ganz weit oben, sollte Erik ten Hag denn tatsächlich mal aus dem Amt fliegen.
Tuchel ist unbestritten ein Genie. Er hat nun viele der besten Spieler der Welt zur Verfügung, kann sich aus einem riesigen Pool bedienen. Neben Frankreich verfügt wahrscheinlich keine andere Nation über so viel Weltklasse und Potenzial wie England - wenn auch nicht in allen Mannschaftsteilen. Je weiter es in der Aufstellung nach hinten geht, desto dünner wird das Angebot an Weltklasse. Und dennoch: Tuchel übernimmt eine Aufgabe, die kaum größer und reizvoller sein könnte. Er könnte unsterblich werden. In England.
Quelle: ntv.de