Argentinien kriselt Richtung WM Messi flüchtet, Coach betreibt "Selbstmord"
28.03.2018, 10:51 Uhr
Krise, Krise, Krise - Argentinien ist nach der spanischen Demütigung völlig am Boden.
(Foto: dpa)
Spanien ist schon in Titelform für die Fußball-WM. Zu spüren bekommt das Argentinien. Die Mannschaft fällt ohne Lionel Messi auseinander. Die vernichtenden Urteile: keine Qualität, kein Mittelfeld, kaum eine Chance in Russland.
Bislang mussten sie nur ein Gegentor ertragen, doch die Mienen der Studierenden sind bereits jetzt unbeweglich. Als ahnten sie, was noch folgen wird. Auf dem Fernsehschirm flimmert das Testspiel gegen Spanien. "Zehn Jahre spielen sie schon zusammen", sagt Belén resignierend. Sie studiert an der philosophischen Fakultät im Stadtteil Caballito, aber wenn Fußball läuft, dann ist der Rest zweitrangig. Auf dem Bürgersteig vor dem Gebäude werden Snacks und Schmuck verkauft, darin Bücher von Kant, im Innenhof hängen politische Aufrufe. Im Studierendencafé im Untergeschoss hängt der Fernseher an der Wand. Und davor sitzt Belén mit ihren Kommilitonen, die Arme verschränkt, konzentriert, als könnten sie so den Spielverlauf beeinflussen.
Es wird nicht besser. Fünf weitere Treffer erzielen die Spanier, am Ende steht ein demütigendes 1:6 (1:2). Eine Demonstration der Stärke im Duell der Ex-Weltmeister, ein Desaster für die anspruchsvollen Argentinier. Belén ist Anhängerin von San Lorenzo, eines der vielen Erstligateams in Buenos Aires, aber die Albiceleste, das ist eine nationale Angelegenheit. Für sie und die anderen Studierenden hat das Spiel bislang kaum Gutes zu bieten: Schon in der 7. Minute erreichte eine exzellente Flanke Gonzalo Higuaín. Der Stürmer schüttelte seinen Gegenspieler ab, schaffte es aber, den Ball per Dropkick übers Tor zu befördern.
Wieder Higuaín. So wie 2014 im WM-Finale gegen Deutschland, als er allein auf Manuel Neuer zulief und aus 16 Metern verzog. Wie 2016, im Finale der Copa América gegen Chile, als er in der 92. Minute den Ball nicht im Tor unterbrachte. Er verhinderte damit den kontinentalen Titel, weil er danach auch im Elfmeterschießen verschoss. Higuaín, mit bislang 22 Saisontreffern für seinen Verein Juventus Turin, aber im Nationaldress vergleichsweise notorisch erfolglos, ist exemplarisch für den Zustand des zweimaligen Weltmeisters.
Messi - Fluch und Segen
Die Niederlage gegen Spanien ist zwar nur das Ergebnis eines Testspiels, aber trotzdem ein historisches; eine der schlimmsten Niederlagen argentinischer Fußballgeschichte. So deutlich verloren hat die Albiceleste bislang nur zweimal: Bei der WM 1958 ging die Mannschaft 1:6 gegen die Tschechoslowakei unter und bei der Qualifikation zur WM 2010 in Südafrika mit dem gleichen Ergebnis im bolivianischen Hochland. Für das Desaster machen die argentinischen Medien vor allem den fehlenden Lionel Messi verantwortlich, der wegen muskulärer Probleme nicht spielte. Auch Angel di María und Sergio Agüero liefen nicht auf.
Offensiv fehlte den Argentiniern häufig die Inspiration, die Defensive war Flickwerk. Nur bedingt verständlich, denn tatsächlich zieht sich seit fast zehn Jahren eine Achse durch die Albiceleste: Sergio Romero im Tor, Nicolás Otamendi und Javier Mascherano in der Abwehr, Di María, Messi, Higuaín und Agüero im offensiven Mittelfeld und Sturm. Während des Spiels gegen Spanien verschwand Messi mehrere Minuten vor Schluss von seinem Platz auf der Tribüne, was eigens gemeldet wurde. Auch das zeigt, wie viele Hoffnungen vor dieser WM wieder auf dem 30-jährigen Mittelfeldstar ruhen. Ex-Nationaltrainer Diego Maradona hatte 2010 in Südafrika versucht, alle Verantwortung auf den damals 22-Jährigen zu übertragen. Das Ergebnis: Im Viertelfinale setzte es gegen die dynamische DFB-Elf ein 0:4.
Düstere Prognose für die WM
Doch die Last auf viele andere Schultern zu verteilen, damit ist die argentinische Auswahl auch nicht erfolgreich: Nur 4 von 13 Partien gewannen die Argentinier ohne Messi, bei 4 der letzten 5 Niederlagen fehlte er, so wie jetzt gegen Spanien. "Spanien versetzt der Mannschaft einen brutalen Realitätsschock", schreibt etwa "La Nación", sie sei ohne die fehlende Offensive schlicht nicht konkurrenzfähig. "Ohne Messi gibt es kein Mittelfeld, kein Rückgrat, keine Hierarchie." Ähnlich urteilt "Clarín": "Auf entscheidenden Positionen fehlen Weltklassespieler." Trainer Jorge Sampaoli habe zudem fußballerischen Selbstmord betrieben, da er die Abwehr offensiv mitspielen und sie zugleich auf den Flügeln gegen die beiden Spanier Isco und Asensio allein ließ. "Man braucht nicht zu erwähnen, was eine solche Leistung bei der WM bedeuten würde", lautet die düstere Prognose.
78 Tage sind es noch bis zur Endrunde in Russland und die Frage ist, wie Sampaoli es schaffen will, seine Mannschaft in dieser Zeit doch noch in die Weltklasse zu hieven. Ob alles besser wird, wenn Messi mit den anderen Teilen der argentinischen Achse auf dem Platz steht, ist auch nicht sicher; das aktuelle Elend zeigt sich seit mindestens einem Jahr. Am 28. März verlor die Mannschaft in der WM-Qualifikation 0:2 in Bolivien. Es folgte ein torloses Remis gegen Uruguay, ein mageres 1:1 gegen Venezuela und ein 0:0 gegen Peru. Im Oktober 2017, beim letzten Spiel der Qualifikation, zog die Albiceleste den Kopf aus der Schlinge und gewann 3:1 in Ecuador. Alle drei Tore erzielte Messi. "Argentinien ist mehr Messis Mannschaft als meine", hatte Trainer Sampaoli vor der Niederlage in Spanien gesagt. Es wird ihn schmerzen, aber er hat recht behalten.
Quelle: ntv.de