"Unheimliche Stunden" Sanchos bitterer Kampf in Ronaldos Schatten
08.10.2021, 10:16 Uhr
Es ist zäh für Jadon Sancho.
(Foto: picture alliance / empics)
Jadon Sancho soll der Königstransfer von Manchester United sein, der Premier-League-Klub bezahlt für den Angreifer ungeheuer viel Geld. Doch dann kommt vieles anders als erwartet - und jetzt stecken Spieler und Verein in Schwierigkeiten.
Bei Jadon Sancho läuft es nicht - und schuld daran ist die Bundesliga. Und das obwohl der englische Flügelspieler inzwischen gar nicht mehr in Deutschland spielt. Oder eher: Weil er jetzt nicht mehr bei Borussia Dortmund sondern bei Manchester United spielt, eben in der Premier League. Das ist die leicht verkürzte Interpretation der Worte von Englands Nationaltrainer Gareth Southgate: "Dortmund ist ein großer Verein, aber Manchester United ist einer der größten der Welt. Daran muss man sich gewöhnen", hatte Southgate gesagt. "Man muss sich definitiv an die Liga anpassen. Man wird in unserer Liga nicht annähernd die Tor- und Assists erreichen wie in der Bundesliga."
Wohlwollend kann man sagen: Sancho erfüllt damit klar die Erwartungen seines Nationaltrainers. Der 21-Jährige, für den Manchester United 85 Millionen Euro zuzüglich Boni nach Dortmund überweist, steht nach sechs Premier-League- und zwei Champions-League-Partien im neuen Trikot noch ohne jede Torbeteiligung da - nach 20 Scorerpunkten (acht Treffer, zwölf Vorlagen) in seiner letzten Bundesligasaison.
Southgate nominierte seinen Außenstürmer dennoch für die anstehenden Länderspiele des Vize-Europameisters. "Verdient er es, nach diesen Leistungen in den letzten Wochen im Kader zu stehen? Nun, wahrscheinlich nicht. Aber wir haben das Gefühl, dass wir in Jadon investiert haben. Wir glauben, dass er ein hohes Niveau erreichen kann", so Southgate. Manchester Uniteds Trainer Ole Gunnar Solskjaer hat schon Mitte September in eine ähnliche Kerbe geschlagen wie der Nationaltrainer. "Jadon ist in der Findungsphase", führte Solskjaer zuletzt aus, "es war unglücklich, dass er zu Beginn krank war und Teile der Vorbereitung verpasste. Er ist 21 Jahre alt, er lernt das Spiel, er lernt, wie wir trainieren, er lernt, wie wir spielen, er lernt die Premier League. Und er ist lernwillig."
Ronaldo sorgt für "unheimliche Stunden"
Die Schwierigkeiten Sanchos haben aber auch mit etwas anderem zu tun. Etwas, das für Manchester United größer ist als er, an dem sie so lange gebaggert und am Ende so viel Geld bezahlt haben: Cristiano Ronaldos überraschende Heimkehr nach 13 Jahren in der Fremde. Jahre, in denen der Portugiese zum größten Star des Weltfußballs aufstieg und dessen Ankunft in Old Trafford alles überstrahlt - und Sancho in den Schatten stellt. Sancho selbst hatte rund um die Verkündung des spektakulären Transfers "Scary Hours" getwittert, "unheimliche Stunden". Es war wohl als Zeichen der Aufregung, der Vorfreude gemeint, doch die Personalie verkomplizierte die Situation noch.
Die Ankunft des Superstars hat die Architektur von Manchesters Offensive deutlich verschoben - zu Ungunsten des mit sich und der neuen Liga kämpfenden Sancho. "Das ist mein Verein. Hier gehöre ich hin", hatte Sancho zu seinem Dienstantritt in einem Video erklärt, das der Verein nach seiner Ankunft verbreitet hatte. Jetzt aber ist man auf der Suche nach einem Platz für Sancho, wo er hingehört ist derzeit unklar. Ronaldo agiert in Solskjaers 4-2-3-1 in der Regel als einzige Spitze, Mason Greenwood rückte dafür auf den rechten Flügel - und Sancho, der dort eigentlich hätte anschieben sollen, muss auf die weniger geliebte linke Seite ausweichen oder sitzt gleich auf der Bank. Entweder zu Beginn des Spiels oder dann, wenn es in die heiße Phase geht.
Man muss es so hart sagen: Die Rückkehr des verlorenen Sohnes degradiert den eigentlichen Königstransfer Sancho zur Fußnote der jüngsten Geschichte von Man United. Der Konkurrenzkampf in der Offensive ist gewaltig, mit Bruno Fernandes, Jesse Lingard, Juan Mata, Greenwood und eben Sancho streiten sich hochkarätige Profis um wenige Plätze, mit Marcus Rashford, der sich von einer Schulter-OP erholt, kommt in Kürze noch ein weiterer Hochkaräter dazu. Auf der linken Seite im Mittelfeld kann auch Paul Pogba spielen. Eine Schwächephase kann sich keiner leisten.
Eigentlich ist Ronaldo aber ein Segen für Sancho, denn im Schatten der Legende kann der "beste Flügelspieler der Welt", als den Dietmar Hamann ihn bezeichnet hatte, in relativer Ruhe an der Rückkehr in alte Sphären arbeiten. Denn Ronaldo funktioniert seit dem ersten Tag und überdeckt eine ganze Reihe an Schwierigkeiten, mit denen sich längst nicht Sancho alleine rumschleppt. Man United rangiert in der Premier League zwar mit 14 Punkten und nur zwei Zählern Rückstand auf Tabellenführer Chelsea auf Platz vier, doch das Ensemble liefert spielerisch eine enttäuschende Runde. "Der Grund, warum sie in der Liga noch relativ gut dastehen und in der Champions League noch dabei sind, ist einzig und allein Cristiano Ronaldo. Es ist gar nicht auszudenken, wo sie ohne seine Tore wären."
"Jadon war außergewöhnlich"
In der Premier League stehen drei Treffer in vier Spielen für Ronaldo in den Büchern. Zweimal traf der Portugiese schon in der Champions League, zuletzt feierten die Fans ihn für den 2:1-Siegtreffer gegen Villarreal in der Nachspielzeit. Sancho stand da schon lange nicht mehr auf dem Platz, in zu vielen seiner 75 Minuten hatte er demonstriert, dass er noch nicht wieder da ist, wo er mal war. Auch wenn sein Trainer Solskjaer das ganz anders sah: "Jadon war außergewöhnlich, er war wie elektrisiert. Das Publikum hat ihn geliebt und ich glaube, er hat diese Verbindung gespürt", fand der Norweger. "Er war direkt, positiv und hat den Außenverteidiger mehrmals überlaufen. Ja, er hat noch kein Tor geschossen, aber ich dachte: 'Das ist Jadon, davon werden wir noch viel sehen.'"
Für Borussia Dortmund gelangen ihm 2020/2021 in sechs Champions-League-Begegnungen noch fünf Torbeteiligungen. Doch die Wahrheit ist: Sancho ist bei Solskjaer nicht der aufregende Hochgeschwindigkeits-Freigeist, als der er in den großen Momenten in Dortmund begeisterte, mit stetigen Flügelwechseln und Tempodribblings, die so oft für Torgefahr sorgten. Solskjaer setzt den Ex-Dortmunder lieber auf links ein, wo er mit dem eigentlich angriffslustigen Luke Shaw ein Duo bilden soll. Bislang werden Shaws Offensiv-Ausflüge aber eher gebremst als gefördert, wenn Sancho vor ihm agiert.
"Jadon verkörpert den Spielertypen, den ich in diesem Klub haben möchte. Er ist ein Offensivspieler in der besten Tradition von Manchester United und wird ein integraler Bestandteil meines Kaders in den kommenden Jahren sein", hatte Solskjaer zu Beginn der Zusammenarbeit geschwärmt. Sanchos Statistiken würden "für sich selbst sprechen", betonte der Norweger: "Zudem wird er unglaubliche Geschwindigkeit und Kreativität in unser Spiel einbringen." Anspruch, Potenzial und Ergebnis finden in der Beziehung zwischen Sancho, Solskjaer und Manchester United derzeit noch nicht so recht zusammen.
Die Kritik am teuren Neuzugang ist auf der Insel noch vergleichsweise milde, wohl auch, weil vor allem Ronaldos wichtige Treffer bisher zumindest eine Ergebniskrise abgewendet haben. Die sonst zu großer Milde eher unverdächtige United-Legende Roy Keane, einst als Mittelfeldspieler und heute als Kommentator eher raubeinig unterwegs, sagte Ende September auf Sky Sancho lerne "sein Handwerk noch. Er ist noch ein junger Spieler, an den große Erwartungen gerichtet werden." Er sei zu einem neuen Verein gekommen, "in dem er sicherlich nicht der Star ist und in der Rangordnung unten steht". Der 50-Jährige schickte eine klare Botschaft hinterher: "Lasst den Jungen in Ruhe. Er muss sich an all das anpassen. Gebt ihm eine Chance."
"Das ist nicht FIFA"
Ganz so weit geht das Verständnis bei Keanes ehemaligem Mannschaftskollegen Paul Ince nicht: "Ich verstehe, dass Sancho noch lernt. Er ist noch jung. Aber das ist hier kein FIFA-Spiel! Es geht nicht nur um Dribblings und darum, zwei, drei, vier Spieler auszutanzen oder um kleine Tricks und so weiter", sagte Ince The United Stand, dem größten Fan-Kanal des Klubs, in einem Video-Interview. "Ehrlich gesagt, das macht mich wütend", führte Ince weiter aus. "Ja, es ist schön, wenn sie klappen, aber bei Spielern wie Sancho und Lingard denke ich immer nur, all diese Tricks - spielt einfach vernünftigen Fußball!"
Ob Solskjaer noch lange die Entwicklung Sanchos zurück zu alter Stärke wird begleiten dürfen, ist äußerst fraglich. Der Norweger, seit März 2019 im Amt, muss mal wieder um seinen Job bangen, obwohl der Champions-League-Held vom dramatischen Finale 1999 gegen den FC Bayern den Klub zuletzt mit Platz drei und zwei zurück in die nationale Spitze geführt hatte. Aber zu weit sind derzeit die Vorstellungen seiner teuren Mannschaft von den Träumen von Fans und Eignern entfernt. Für Hamann, der einst für den Erzrivalen FC Liverpool auflief, ist die Uhr für den Trainer bereits abgelaufen: "Ich glaube, dass der Trainer weiter unter Druck kommen wird. Ich denke, es ist nur eine Frage, wann sie den Trainer wechseln werden und nicht ob, weil er zu lange da ist und weil man keinen Fortschritt sieht." Die Spielweise von Manchester sei "nicht schön anzusehen und das ist nicht Manchester United. Deswegen denke ich, dass es über kurz oder lang einen Trainerwechsel geben wird".
"Er ist so ein toller Fußballer"
Jadon Sancho ist ein Spieler mit unglaublichen Qualitäten, in England hoffen sie, die Bundesliga aus dem 21-Jährigen rauszubekommen und die Premier League hinein. In Dortmund, wo sie im Sommer nach 18 Monaten dem verzweifelten Werben Man Uniteds um einen Transfer nachgaben und sich das teuer bezahlen ließen, leiden sie mit ihrem Ex-Spieler. "Ich verfolge natürlich, was er macht", erklärte BVB-Boss Hans-Joachim Watzke Ende September im "Doppelpass". "Er ist so ein toller Fußballer. Mir tut das auch in der Seele weh, dass er so wenig berücksichtigt wird."
Sancho selbst spricht nicht über seine Situation. Er beklagt sich nicht, er wirbt nicht über die Medien für sich. Geredet wird jetzt bei der Nationalmannschaft: "Ich würde gerne etwas Zeit mit ihm verbringen, um mich mit ihm zu unterhalten und den Prozess, der bei Manchester United im Gange ist, zu unterstützen", kündigte Nationaltrainer Southgate an. "Ich denke, es ist eine gute Botschaft, wenn er spürt, dass wir zu diesem Zeitpunkt an ihn glauben." Ja, gute Nachrichten kann Sancho jetzt gebrauchen, nachdem sein "Traum, der wahr geworden ist", sich erst mal wie einer dieser Träume anfühlen muss, in denen man mit schweren Beinen einfach nicht vom Fleck kommt.
Quelle: ntv.de