Trainer entschuldigt sich Besiegt Tuchel den bösen Zauberer Deutschland?
17.10.2024, 20:30 Uhr
Englands neuer Nationaltrainer Thomas Tuchel freut sich auf das Leben auf der Insel.
(Foto: John Walton/PA Wire/dpa)
Thomas Tuchel soll die englische Nationalmannschaft endlich wieder zu einem großen Titel führen. Ein Deutscher! Das kommt nicht überall gut an. Womöglich liegt das auch an der Geschichte der beiden Länder, auf der seit 1966 ein Fluch zu lasten scheint.
Thomas Tuchel entschuldigte sich direkt mal. Er könne ja auch nichts dafür, dass er nur einen deutschen Pass habe, sagte der Mann, der ab Januar die englische Fußball-Nationalmannschaft trainieren wird. Er, Tuchel, hatte natürlich mitbekommen, dass ihn nicht jeder auf der Insel mit offenen Armen empfangen wollte. Die "Daily Mail" hatte ihm entgegengeschleudert, dass man ihn nicht brauche, sondern "einen Patrioten". Nun ist die Lage ja so: Mit Gareth Southgate hatten sie zuletzt einen aus den eigenen Reihen, aber den mochten sie nicht besonders, weil er seiner Gigantentruppe das Spektakel austrieb - und keinen Titel gewann.
Wenn man es auf die Spitze treiben möchte, dann wäre Sir Alex Ferguson wohl der Letzte gewesen, der den Anspruch des Mutterlands erfüllt. Ein über alle Maßen geschätzter Toptrainer aus dem Vereinigten Königreich. Dass er Schotte ist und kein Engländer, konnten sie dem Mann, der nie englischer Teammanager war, verzeihen. Auf einen ähnlichen Akt der Milde hofft auch Tuchel. Er wünscht sich, so sagte er bei seiner Vorstellung, dass er all jene überzeugt, die ihm derzeit noch nicht die Arme öffnen. Ihm, dem Deutschen! Dem Mann aus dem Land des Erzrivalen, das nach 1966, nach Wembley und dem berühmtesten Tor der Fußballgeschichte, wie ein böser Zauberer daherkommt.
Ronaldo macht's in Gelsenkirchen
Es ist, als hätte England seinen Weltmeistertriumph dank des Treffers von Geoff Hurst teuer bezahlt. Mit einem Fluch, der ewig hält. Und immer wieder stehen die Deutschen (oder eben Deutschland) im Weg. Wie gerade erst in diesem Sommer. England hatte sich ins EM-Finale gelümmelt. Doch in Berlin waren sie chancenlos gegen die Spanier, wieder war eine große Chance vertan. Die Niederlage tat ihnen noch mehr weh als der öffentliche Nahverkehr im "Shithole" Gelsenkirchen, noch mehr als der Fußball, den Southgate spielen ließ. In der Industriemetropole fragte man sich zwischenzeitlich, wer hier wirklich für das Gruselige steht.
Und Gelsenkirchen war nicht Wut- sondern einmal auch Schicksalsort für England. Schon bei der Weltmeisterschaft 2006 jaulten die Löwen hier vor Schmerz. Im Viertelfinale war die große Generation um die Weltstars David Beckham, Frank Lampard, Steven Gerrard und Wayne Rooney gescheitert. Im, wie auch sonst (!), Elfmeterschießen. Der damals junge portugiesische Gigant Cristiano Ronaldo, wer auch sonst (!), verpasste den Löwen den finalen Stich.
Die Geschichte des kaum zu fassenden Fluchs begann nach Wembley und hat ihr bisheriges Ende in Berlin gefunden. Dazwischen war mal Gelsenkirchen, aber eben nicht nur. Auch in Mexiko jaulten die Löwen, in Turin, noch einmal in Wembley und in Südafrika. So viele Momente voller "hurt", wie einst die Lightning Seeds in ihrem ewig jungen Klassiker "Football is coming home" sangen. Schmerzen, immer wieder Schmerzen, bis heute. Siege gegen Deutschland gab es natürlich auch, aber keine großen. Keine, die die Wunde seit 1966 heilen konnten.
Vier Jahre nach dem Triumph der Engländer sah man sich in Mexiko wieder, im WM-Viertelfinale. Für ein paar Tage wurde das Duell im Juni 1970 zum Jahrhundertspiel erkoren, verlor den Titel aber schnell an das Halbfinale der Deutschen gegen die Italiener. Mit 2:0 führte England gegen das Team von Bundestrainer Helmut Schön. Der Mythos der unbesiegbaren Löwen wuchs und wuchs. Aber dann schlugen sie zurück, über Franz Beckenbauer, über Karl-Heinz Schnellingers berühmte Flanke auf Uwe Seelers Hinterkopf und über Gerd Müller. In der 108. Minute zerstörte der "Bomber der Nation" alle Hoffnungen der Engländer.
Der "Didi-Day" entweiht Wembley
Das nächste Drama führte 1990 im legendären Turiner Stadion Delle Alpi aufgeführt. Andreas Brehme brachte Deutschland im WM-Halbfinale in Führung, Gary Lineker glich aus. Es ging zum Punkt, Elfmeterschießen. Die ersten drei Schützen beider Teams erledigen ihren Job. Dann vergibt Stuart Pearce gegen Bodo Illgner. Olaf Thon tritt an, trifft souverän. Druck für Chris Waddle, Anlauf und der Ball fliegt über das deutsche Tor. Wieder Tränen bei den Three Lions. Noch schlimmer wird es sechs Jahre später, erneut in Wembley. Dieses Mal: EM-Halbfinale. Wieder steht eine hoffnungsvolle Generation bereit, den Fußball nach Hause zu bringen. Und wieder stehen die Deutschen in der Tür und lassen die Löwen nicht zur Party. Dieses Mal ist es Southgate, dem im Elfmeterschießen die Nerven durchgehen. Was ein Drama!
Vier Jahre später wird der legendäre Fußball-Tempel "entweiht". Der 7. Oktober 2000 geht, getauft von der gewohnt wortgewaltigen englischen Presse, als "Didi-Day" in die Geschichte ein. An diesem ungemütlichen Herbsttag mit typisch englischem Schmuddelwetter war alles angerichtet für einen stimmungsvollen Abschied in der "Kathedrale" des Fußballs. Eine englische Mannschaft mit Beckham, Paul Scholes und Michael Owen war klarer Favorit gegen die EM-Versager mit ihrem Interims-Teamchef Rudi Völler. Doch dann traf Dietmar Hamann, mittlerweile bekanntester deutscher Fußballkritiker, "mit der Abrissbirne", wie der "Independent am Sonntag" ernüchtert feststellte, zum 1:0-Sieg. Ein direkter Freistoß aus 32 Metern mitten ins Herz des englischen Fußballs, ein "Donnerschlag" ("Sunday People") im letzten Match im alten Wembley-Stadion. Für die Zeitung war schnell klar: "So einen Abschied hatte Wembley nicht verdient." Diese verdammten "bloody germans!"
Das doppelte Scheitern des Gareth Southgate
Zurück zu Southgate, zurück zum Drama. Es wiederholt sich, 2021, bei der kontinentalen Corona-EM. Zuvor war allerdings noch das Jahr 2010: Die furiosen Deutschen, vier Jahre später Weltmeister, knöpfen sich England im WM-Achtelfinale im südafrikanischen Vuvuzela-Rausch mit 4:1 vor. Jetzt aber endgültig und ohne weitere Umwege ins Jahr 2021: Wieder Wembley, wieder Wahnsinn. England stürmt ins Finale, dieses Mal wird Deutschland (gegen den Fluch!) im Achtelfinale besiegt, auch weil Thomas Müller eine Riesenchance vergibt. Dort, im Finale, wartet Italien. Wieder geht es zum Duell vom Punkt. Southgate, jetzt der Trainer, wechselt in der allerletzten Minute der Verlängerung zwei jungen Schützen ein. Er glaubt, dass sie das Dingen ziehen können.
Das Gegenteil ist der Fall. Marcus Rashford schießt an den Pfosten und Bukayo Saka scheitert an Italiens Super-Keeper Gianluigi Donnarumma. Es kommt zu rassistischen Attacken gegen die jungen Fußballer. Und zu einer bemerkenswerten Entwicklung. Der abermals gepeinigte Southgate macht aus einem doppelten Scheitern eine Wissenschaft. Nie wieder soll England in einem Duell vom Punkt versagen. Das zahlt sich aus. Im Sommer 2024, in Düsseldorf, gewinnen die Löwen gegen die starken Schweizer im Viertelfinale. Aber wieder gibt es keinen Titel. Southgate zieht sich nach ein paar Tagen Bedenkzeit zurück, Lee Carsley übernimmt als Interims-Coach. Auch seine Zeit ist nicht glücklich. Das Team blamiert sich in der Nations League gegen Griechenland. Carsley selbst sehnt sich nach einem "Weltklassetrainer" für die Three Lions. Den wähnen sie nun gefunden, mit Tuchel.
Der 51-Jährige soll 18 Monate lang erfolgreich eine Schmerztherapie durchführen, die dann 2026 mit dem WM-Titel endet. "Das Ziel für die nächsten 18 Monate ist kein geringeres als das Höchste im Weltfußball", sagte der neue Teammanager bei seiner Vorstellung: "Jeder kann sich dessen sicher sein - unabhängig davon, welche Nationalität auf meinem Pass steht." Das Problem: Auch die deutsche Nationalmannschaft, die gerade unter Bundestrainer Julian Nagelsmann reüssiert, hat dieses Ziel ausgerufen. Oh dear.
Quelle: ntv.de