Die Borussia gibt Rätsel auf Schalke reißt den BVB unsanft zu Boden
12.03.2023, 07:50 Uhr
Blauer Rauch auf Schalke.
(Foto: REUTERS)
Borussia Dortmund kassiert nach dem Champions-League-Aus auch in der Fußball-Bundesliga einen herben Rückschlag. Mit einem kaum zu erklärenden Remis auf Schalke geht eine Serie von acht Siegen zu Ende. Die Gastgeber sind dagegen völlig beseelt.
Da standen die Fußballer in Königsblau nun Minuten nach dem Abpfiff, Arm in Arm, staunten und auch wenn einige von ihnen nicht gar verstanden, was ihnen die dröhnende Nordkurve gesanglich entgegenschleuderte, so spürten sie alle, was da zuvor in der bebenden Arena in Gelsenkirchen-Erle passiert war. Der Mythos Schalke war erwacht. Mit einer erlösenden Gewalt. Joker Kenan Karaman hatte in der 79. Minute das 100. Revierderby zum zweiten Mal gedreht. Schalke hatte wieder ausgeglichen, zum 2:2 (0:1). Und Schalke war nach diesem wuchtigen Kopfball auf dem besten Weg, den wohl unwahrscheinlichsten Punkt der vergangenen Wochen in der Fußball-Bundesliga einzusammeln. Gegen eine Borussia aus Dortmund, die zwischenzeitlich die Sterne vom Himmel gespielt hatte und manchmal auch das Matchglück arg strapazierte, die ein ernstzunehmender Titelkandidat geworden war.
Schalke changierte in den 14 Minuten zwischen Ausgleich und Abpfiff zwischen grenzenloser Euphorie und fast panischer Anspannung. Wann immer die Dortmunder auf das Tor von Ralf Fährmann zurannten, hielt die Arena die Luft an und prustete sie heraus, wenn ein Königsblauer den Ball aus der Gefahrenzone drosch. Immer wieder involviert war Henning Matriciani, der wohl wie kein anderer Spieler das Schalke im Spätwinter 2023 verkörpert. Als sich der Abwehrmann in der 90. Minute überragend in einen Schuss von Mo Dahoud warf, tobte das Stadion. Matricani war in diesem Spiel, in dieser Saison oft an seine Grenzen gestoßen, aber er hatte nie aufgegeben, sich festgebissen und wurde belohnt. Wie seine Mannschaft eben. 2:2, was ein Ergebnis, was ein Erfolg. Und es wäre in diesem wilden Derby noch mehr möglich gewesen. Zwei Minuten später hätte Éder Balanta fast das 3:2 erzielt, aber BVB-Ersatzkeeper Alexander Meyer entschärfte den Schuss aus gut 14 Metern mit einem starken Reflex.
"Wir müssen auf dem Boden der Tatsachen bleiben"
Verdient wäre das sicher nicht gewesen, nicht, wenn man die gesamten 90 Minuten zum Bewertungsmaßstab erhebt. Aber wozu Referenzgrößen heranziehen? Derby ist Derby. Nur darum geht's, nur das zählt. Und so feiert Schalke einen Punkt, der emotional viel wichtiger ist als tabellarisch (vielleicht ändert sich in der Abrechnung nach 34 Spieltagen der Blick darauf noch einmal). Am Ende einer Woche mit zwei Derbys, erst der Sieg beim VfL Bochum und nun das Remis gegen den BVB, mischen die Schalker tüchtig mit im Kampf um den Klassenerhalt. Noch vor wenigen Wochen war das unvorstellbar. Und wenn sie vom Mythos Schalker Markt singen, von der Geschichte, die dort einst begann, dann ist das nun vielleicht die eines neuen Wunders.
Aber schön halblang. Trainer Thomas Reis, der sich die Party zwischen staunender Mannschaft und ekstatischem Publikum aus der Ferne ansah wie ein zufriedener Zeremonienmeister, trat nach den Feierlichkeiten tüchtig auf die Bremse. "Natürlich genießen wir das Feiern mit den Fans, wenn man sieht, wie das Unentschieden zustande gekommen ist. Aber wir müssen auf dem Boden der Tatsachen bleiben, wir wissen, dass wir noch einige Zähler holen müssen." Mit 20 Punkten ist Schalke Vorletzter. Sollte der TSG Hoffenheim morgen die Sensation beim SC Freiburg gelingen, wäre Königsblau wieder Schlusslicht. Aber weiter mittendrin. "Der BVB war uns fußballerisch überlegen, das müssen wir anerkennen", so Reis. "Wenn du aber so zurückkommst, dann genießt du das." Und das vor den Augen von Legenden wie Emile Mpenza, Klaas-Jan Huntelaar, René Eijkelkamp und "Wetten dass ...?"-Erfinder Frank Elstner. Und wer hätte schon gewettet, dass das hier gut geht für Schalke?
"Das fühlt sich blöd an"
Mittendrin im Kampf um den Titel bleibt auch Borussia Dortmund, auch wenn sich dieser Samstagabend alles andere als danach anfühlt. Die Enttäuschung nach einem Spiel, das die Mannschaft von Edin Terzić auf eine bemerkenswerte Weise beherrscht und dann noch hergeschenkt hatte, war riesengroß. "Das ist extrem bitter", ärgerte sich etwa Marius Wolf, der seine rechte Seite leidenschaftlich beackert hatte und von Matricani und den Schalkern nur schwer zu kontrollieren war. "Schalke hatte drei Chancen und macht zwei Tore. Das fühlt sich blöd an", fluchte Keeper Meyer. Ganz der Wahrheit entsprach diese Beobachtung nicht. Denn in der ersten Halbzeit hätten die Gastgeber nach 25 Minuten in Führung gehen müssen. Nico Schlotterbeck spielte Mats Hummels ganz fahrig an, der verlor den Ball an Rodrigo Zalazar, der frei auf Meyer zulief und völlig überhastet abschloss.
Das Duell der beiden Mannschaften, die sich in tiefster Rivalität verbunden sind, sich aber dennoch leidenschaftlich vermissen, wenn einer fehlt, nahm nun richtig Fahrt auf. Dortmund hatte bis zu diesem Moment alles im Griff, ohne groß glänzen zu können. Doch nach dem "Hallowach" erhöhte das Team von Edin Terzić die Schlagzahl. Der agile Donyell Malen provozierte beinahe ein Eigentor von Moritz Jenz (28.). Zwei Minuten später trug der BVB einen Weltklasse-Konter über Wolf und Bellingham vor, den Malen nach einem Trick gegen gleich drei Gegenspieler nicht veredeln konnte, Ralf Fährmann hielt stark. Was für eine typische Schalker Geschichte. Fährmann, der 2008 zum ersten Mal im Derby spielte, immer wieder abgeschrieben war und jetzt zu einem der Helden der Auferstehung wird. Über das "Kuchen"-Gate gestolpert, spielt er nun erste Sahne.
Reis tritt wütend auf seinen Stuhl ein
Acht Minuten wehrten sich die Königsblauen noch tapfer, dann nagelte Schlotterbeck den Ball aus der Distanz mit einem fiesen Aufsetzer zum 1:0 ins Tor. Er jubelte in der Nähe der Nordkurve, Pfiffe und Schmähungen. Egal, der BVB belohnte sich für eine überragende erste Halbzeit mit zahlreichen guten Gelegenheiten. Reis schimpfte, 30 Sekunden zuvor hatte er auf einen Coachingstuhl eingetreten, die Schalker hatten einen Konter ganz, ganz fahrig verdödelt. Alles schien den Kräfteverhältnissen entsprechend seinen Lauf zu nehmen. Dortmund rannte weiter durch die Liga, stresste den FC Bayern und S04 musste sich andere Gegner suchen, um den Traum vom Wunder zu stemmen. Wenig später Pause, keine Pfiffe. Alles in Ordnung. Auch in puncto Rivalität.
Vor dem Spiel war die Sorge groß, dass es zu schweren Ausschreitungen kommen könnte. Dass sich die Schalker an den Dortmundern rächen würden. Für einen brutalen Angriff vor wenigen Wochen. Vor dem Derby gab es eine große Razzia der Polizei, 19 Verdächtige waren ermittelt worden. NRW-Innenminister Herbert Reul lobte das "Tabula Rasa" der Polizei. Und bekam für diese Ansage vergiftete Grüße per Banner aus der Schalker Nordkurve. Flankiert von wilden Pyro-Shows in beiden Blöcken. Zwar blieb es laut erster Bilanz friedlich, aber es mangelte nicht an wüsten Drohungen. Einmal wurde im Ultra-Block der Gelsenkirchener ein Banner ausgerollt mit der unmissverständlichen Botschaft: "Ihr schuft euch einen Feind, dem ihr nicht gewachsen seid." Schon vor dem Abpfiff hieß es in der Choreo: "Unsere Kurve ist euer Verderben."
Bellingham lässt Bülter einfach mal machen
Zweite Halbzeit, Ballverlust Jude Bellingham, Konter, Tor - Schalke war zurück im Spiel. Marius Bülter drückte den Ball über die Linie und segelte danach kurios über eine Kamerastange (50.). Schalke tobte. Aus dem Nichts der Ausgleich. Die wilden Gastgeber rissen die Gäste zum ersten Mal an diesem Abend unsanft auf den Boden. Aber anders als ein angeschlagener Boxer wankten die Borussen nicht. Der wieder überzeugende Emre Can spielte durch das offene Zentrum einen Sensationspass auf Raphael Guerreiro, der überraschend im defensiven Mittelfeld begonnen hatte, und der Portugiese vollendete kompromisslos. Sein fünftes Tor gegen Schalke. Alles schien den Kräfteverhältnissen entsprechend seinen Lauf zu nehmen. Erst recht als Jamie Bynoe-Gittens frei vor Fährmann auftauchte, wieder war der Ball durchs offene Zentrum gespielt worden. Doch der junge Engländer, der einen fürchterlich gebrauchten Abend erwischte, zielte am langen Eck vorbei. Schalke lebte noch.
Atempause auf den Rängen. Die Fans sangen sich ihre Liebe zum Verein aus den Knochen, waren irgendwie stolz auf ihre Mannschaft, wussten aber auch, dass zwischen beiden Klubs mittlerweile Welten liegen. Karaman führte den Ball am Fuß, flankte ins Nirgendwo. Bülter ging hinterher, unermüdlich wie immer. Weil Bellingham, der vor dem 1:1 den Ball verloren hatte, keine Anstalten machte, Bülter zu attackieren, entschied der sich gegen einen Rückpass und den Gang nach vorne. Er flankte, Karaman stand quasi blank und drückte die Hereingabe ins Tor - die monotone Liebeserklärung wurde binnen einer Millisekunde zu einem Trip der unbeschreiblichen Gefühle. Terzić trat gegen einen Gegenstand am Seitenrand. Er konnte es nicht fassen. Dortmund fiel in längst vergessene Zeiten zurück. Ein entscheidender Moment, ein herber Rückschlag. Schwarzgelb knallte auf den Ringboden. Alles fühlte sich an wie so oft in der Vergangenheit. Kurz vor dem großen Traum packte die Realität den rechten Haken aus. Und so sangen die Schalker voller Spott: "Wer wird Deutscher Meister? BVB, Borussia. Nie." Noch ein Haken.
"Genauso, wie Schalke es haben wollte"
"Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder wir lassen uns auf das emotionale Spiel der Schalker ein und es bleibt eng, oder wir bleiben klar und versuchen das Spiel fußballerisch zu gewinnen", bilanzierte Terzić in den Katakomben der Arena. "Das haben wir in der ersten Halbzeit gut gezeigt. In der zweiten Halbzeit haben wir damit aufgehört und dann wurde es wild. Genauso, wie Schalke es haben wollte." Und wie es Dortmund wehtat. In einem Gefühl der falschen Sicherheit nahm die Mannschaft zu viele Gänge raus, verfing sich in überheblichen Nachlässigkeiten, ließ plötzlich Räume und verteidigte nicht mehr so resolut. Warum? Das konnte sich niemand so recht erklären. Klar, die Chancenverwertung war ein Grund für das aus ihrer Sicht bittere Remis. Aber lässt sich damit auch der Kontrollverlust begründen? Eher nicht.
Am Ende der bisher wichtigsten Woche der Saison, so Terzić vor dem Duell gegen RB Leipzig am vorvergangenen Freitag, hat der BVB viel verloren. Die Champions League, den überragenden Julian Brandt und zwei Punkte auf Schalke. Die dünne Personallage, die sicher ein gutes Argument für manche Erschöpfung gewesen wäre, machte indes niemand zum Thema. Aber ohne Brandt, ohne Kapitän Marco Reus, ohne Karim Adeyemi und Youssoufa Moukoko fehlten dem Team wichtige offensive Waffen. Und wichtige Optionen für Spieler für Sébastien Haller, der dringend eine Pause bräuchte, aber genauso dringend gebraucht wird, weil Ersatz Anthony Modeste nicht mehr in der Lage scheint, ein Happy End beim BVB zu schreiben.
Auch Bellingham wäre ein Mann, der dringend mal durchschnaufen muss. Bei beiden Gegentoren kann er sich nicht frei von Schuld machen. Der Engländer wirkt massiv überspielt, auch wenn ihm immer noch vieles gelingt. Aber in entscheidenden Momenten fehlt es ihm augenscheinlich an Frische. Terzić moderierte das Thema auch auf Nachfrage ab. Bellingham sei eben wichtig und habe schon so viele herausragende Spiele gemacht. Sollte er den Eindruck haben, dass der 19-Jährige, dessen Zukunft unklar ist, den die Top-Klubs in Europa jagen, überspielt sei, werde er das intern ansprechen. Nicht in der Öffentlichkeit. Intern aufarbeiten möchte der Trainer auch den rätselhaften Kontrollverlust in Halbzeit zwei. "Wir sind Borussen und stehen wieder auf", sagte er fast ein wenig trotzig. Wie man wieder aufsteht, das konnte er sich an diesem Abend ausgerechnet beim Erzrivalen anschauen.
Quelle: ntv.de