Bellingham hat nur einen Wunsch Vereinter BVB verschiebt die Grenzen des Möglichen
24.04.2023, 20:13 Uhr
Mal wieder Garant für den BVB-Sieg: Jude Bellingham.
(Foto: IMAGO/osnapix)
Während der FCB schwer angeschlagen in die entscheidende Saisonphase wankt, hält sich der BVB nicht an das Script der Vorjahre. Mit großer Hartnäckigkeit überstehen sie Rückschläge und hoffen nun auf die Welle, die sie bis zum Titel trägt. Dabei spielen sie eine gewöhnliche Saison.
Es musste ja die 19. Minute sein. Da fallen die wirklich wichtigen Tore in dem Stadion, das nur der Sponsor nicht Westfalenstadion nennen will. Julian Brandt legte den Ball an der Strafraumkante auf Jude Bellingham und allen war klar, was passieren würde. Der Brite nahm den Ball in der Drehung mit und hatte plötzlich nur noch den Frankfurter Torhüter Kevin Trapp vor sich. Kein Problem. 1:0 für den BVB. Das Stadion raunte und explodierte innerhalb einer Sekunde.
All die Last fiel von Bellingham und seinen Dortmunder Bienen ab. Sie schwärmten aus, jubelten und schauten nicht mehr zurück. Am Ende stand ein 4:0 auf dem Papier. Vielleicht etwas übertrieben, aber das ist der Fußball in diesem Jahr ohnehin. Denn dort steht erstmals seit langer Zeit kurz vor Saisonende nicht der FC Bayern München, sondern Borussia Dortmund ganz oben.
"Es würde mir die Welt bedeuten", sagte der immer noch 19-jährige Bellingham, der womöglich bald schon nicht mehr mit seinen Bienen fliegen wird, über die mögliche Meisterschaft. "Ich will mich aber nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, zu viel darüber reden und mir selbst das Gefühl zu vermitteln, dass ich den Titel schon geholt habe. Es stehen noch fünf richtig schwere Spiele an. Aber egal, wie man es dreht und wendet: Es wäre unglaublich. Mehr als andere würde ich mir momentan wünschen, mit diesem Verein die Liga zu gewinnen. Nach all dem, was mir hier gegeben wurde."
FC Bayern ist das größere Thema
Die Meisterschaft wäre sehr wahrscheinlich das Abschiedsgeschenk des Briten, der als 17-Jähriger für 25 Millionen Euro von Birmingham City kam und nun für einen Aufschlag von mindestens weiteren 100 Millionen Euro die Borussia verlassen könnte. Bellingham, aber auch die ungeklärten Arbeitsverhältnisse von Marco Reus, Mats Hummels und Raphael Guerreiro. All das hätte das Zeug für große Aufregung und Unruhe am Borsigplatz, doch alles steht zurück in diesen Tagen. Es geht um das große Ziel: Die Meisterschaft, die erste seit über zehn Jahren. Eine längere Durststrecke gab es in Dortmund seit dem Gewinn der ersten Bundesligameisterschaft im Jahr 1995 nicht.
Ein großes Thema ist der BVB trotzdem nicht. Die panische Krise des ruhmreichen FC Bayern mit all seinen kleinen und großen Dramen wird in den Livetickern der Online-Redaktionen im Minutentakt präzise abgebildet, vom Leser gierend verschlungen. Schlechte Nachrichten verkaufen sich immer besser. Die Normalität der Dortmunder, die nach den 70:42 Tore und 60 Punkten nach 29 Spieltagen im Vorjahr nun auf 66:39 Tore und wieder 60 Punkte in diesem Jahr kommen, findet kaum statt. Zu besonders ist momentan noch das, was sich im Süden des Landes abspielt.
Weil aber die Panik der Bayern gewiss nicht nur durch interne Scharmützel und Machtkämpfe ausgelöst ist, eben nicht in einem luftleeren Raum stattfindet, lohnt auch hier ein Blick nach Dortmund. Dort haben sie jeden Rückschlag in dieser Saison an sich abprallen lassen. Das 2:2 im Derby auf Schalke, das bittere Aus in der Champions League, das Debakel im Pokal in Leipzig, die pannenreiche Pleite in München und eben auch der pomadige Auftritt in Stuttgart. Einkalkuliert, nicht vergessen. Schwächephasen, Niederlagen und die sich daran anschließende Häme haben sich ohnehin tief in die Seele der Borussen eingebrannt. Doch in diesem Jahr des Möglichen halten sie den Druck trotzdem hoch.
Unter Edin Terzić, diesem unscheinbaren Trainer aus dem Dortmunder Umland, steht eine komplette Stadt hinter dem Verein. Wie den Verantwortlichen selbst trotzten auch sie dem Spiel in Stuttgart. Die Nebenbaustelle im skurrilen Stadionstreit, ausgelöst durch den tollpatschigen Versicherungsboss Ulrich Leitermann, tat ihr Übriges. Es hatte schon etwas von einer Wagenburg, wie sich die Fans erhoben und auch aus dem Vereinsinneren keine Unterstützung für den mächtigen Sponsor nach außen drang. In dieser nunmehr entscheidenden Phase braucht es Geschlossenheit, keinen Zoff. Das zeigt nicht zuletzt der Blick nach München, wo der epochale Kollaps des deutschen Giganten durch die Panikspirale der letzten Monate zu einer ungekannten Zerrissenheit geführt hat.
BVB-Chancen steigen
Dabei spielt der BVB auch im Jahr 2023 nicht einmal am Limit. Die Schwarzgelben bewegen sich weiter im Rahmen einer guten Saison, gewinnen sie ihre ausstehende Spiele kommen sie auf gerade einmal 75 Punkte. Das ist kein Rekordwert, sondern vielmehr ein Wert, der letztmals 2010/2011 für eine Meisterschaft reichte. In den vergangenen elf Spielzeiten holte die Bayern und auch der BVB 2011/2012 immer mehr Punkte. Der Dortmunder Titeltraum speist sich somit aus einer kurzzeitigen Rückkehr zur alten Bundesliga, in der sich die Bayern nicht mit schwindelerregenden Siegesserien von der Gruppe der Verfolger lösen.
Dieses Comeback der alten Liga inmitten der dramatischen Umwälzungen an der Säbener Straße, löst beim BVB nicht einmal Häme aus. Vielmehr richtet sich der Blick in dieser Woche nur wenige Kilometer weiter in Richtung Westen entlang der B1. Dort trägt die Borussia am kommenden Freitag im Bochumer Ruhrstadion ihr nächstes Ligaspiel aus. Wie alles in dieser Saison ist auch das kein Selbstläufer.
Zu unstet waren die Auswärtsleistung in den vergangenen Wochen, zu fragil ist der Traum noch. Doch die Scheinwerfer werden auch in den nächsten Tagen jede Bewegung in München grell ausleuchten und kaum jemand wird von der Borussia Notiz nehmen. Immer noch überwiegt der Glaube an die Dortmunder Dummheit. Immer noch skizzieren einige Projektionen das Bild von der elften Bayern-Meisterschaft in Folge. Die US-amerikanische Website FiveThirtyEight räumt dem BVB weiterhin nur eine 37-prozentige Chance auf den Titel ein. Was immerhin beinahe 37 Prozent mehr als noch im November 2022 sind. Das Hamburger Unternehmen Goalimpact hingegen sieht den BVB nun als Titelfavoriten. Noch in der Vorwoche bezifferten sie die Chancen der Dortmunder auf unter 30 Prozent, nach dem wilden Wochenende stehen sie bei knapp 54, die Bayern fallen auf 46 .
BVB wagt sich aus der Deckung
Eine überraschende Situation für Terzić und sein Team, das längst nicht mehr nur aus den Spielern auf dem Platz besteht. Eine ganze Stadt vereint sich hinter dem BVB, pilgert am Wochenende ins Westfalenstadion und macht es zum lautesten Ort des Landes, dessen fußballliebender Teil sich ohnehin Abwechslung wünscht. Als die Bayern am Samstag in Mainz mal wieder kollabierten, wurde im Berliner Olympiastadion das Ergebnis eingeblendet. Dort widmeten sich die Fans der Hertha ihren Untergangsfantasien und die 25.000 Gäste aus Bremen feierten den Klassenerhalt. Doch dann vereinten sich alle zu lautem Jubel. Ein Moment, der an die alte Kofferradiozeit in den Stadien erinnerte. Damals, als nicht jedes Ergebnis auf den Smartphones vermeldet wurde und sich die Ergebnisse von den anderen Plätzen ganz langsam verbreiteten, bis der Stadionsprecher sie verkündete.
Wie damals am 30. April 2011, als der Dortmunder Stadionsprecher Norbert Dickel es nicht mehr aushielt und das 1:0 für Köln gegen Leverkusen durch das Westfalenstadion brüllte. Trainer damals natürlich: Jürgen Klopp, der in seinem 100. Spiel auf der BVB-Bank seinen bis dahin größten Triumph feiern durfte. Es war ein Sprint zur Schale. Er hatte die Borussia aus den Trümmern der Beinahe-Insolvenz zu einem der Leuchttürme Europas geformt. Der 40-jährige Terzić saß bislang nur in 73 Spielen auf der BVB-Bank. Noch kann er auch in dieser Kategorie an der Vereinsikone vorbeiziehen. Der Name Jürgen Klopp wurde beim BVB schon lange nicht mehr in den Mund genommen. Die Befreiung aus diesem langen Schatten ist Terzić' einende Leistung und das, was er mit seinen so oft als Mentalitätsversagern gescholtenen Spielern geschaffen hat, seine sportliche Leistung.
Dabei hat Terzić Spieler wie Donyell Malen, Julian Brandt, Emre Can oder auch Karim Adeyemi nicht einmal jeden Tag ein bisschen besser gemacht, sondern ihnen das Selbstvertrauen geschenkt und sie so an die Grenzen ihrer Möglichkeiten geführt. Als das Spiel gegen den VfB Stuttgart auf so desolate Art und Weise hergeschenkt wurde, ein ganzes Land über den BVB lachte und sich dann doch wieder den Bayern widmete, fällten sie an der B1 einen Entschluss. Zum ersten Mal seit langer Zeit wagten sie sich aus der Deckung, handelten antizyklisch und sprachen von der Meisterschaft. Sie ernteten Kopfschütteln und wussten doch, wie sehr sie damit den FC Bayern unter Druck setzten.
Größte Party seit Klopp?
An Borussia Dortmund ist in dieser Spielzeit nichts außergewöhnlich. Beim BVB wird nur das Potenzial ausgeschöpft. Die Generation 2022/2023 ist immer noch eine hoch bezahlte, die zum Beispiel dem Tabellendritten Union Berlin mit seinen nur fünf Punkten Rückstand haushoch überlegen sein muss. Die Überraschung der Saison bleiben andere, beim BVB profitieren sie viel mehr davon, dass sie sich, wie Terzić in Stuttgart, mit großer Leidenschaft ihre Fehler zugestehen und sich davon nicht aus der Ruhe bringen lassen. "Wir müssen endlich anfangen, aus diesen unnötigen Rückschlägen zu lernen. Das wird keiner für uns tun", hatte Terzić nach dem 3:3 in Stuttgart erklärt. "Es gibt Gründe", hatte er so angefasst, wie genervt erklärt, "warum wir es in den letzten zehn Jahren nicht geschafft haben, ganz oben zu stehen".
In den letzten fünf Spielen wird es für den BVB darum gehen, die Führung an der Spitze nun nicht mehr herzuschenken. Denn das wäre eine kolossale Tölpelei. Das wollen sie verhindern. "Wir sind noch lange nicht fertig", sagte Terzić nach dem 4:0 gegen Eintracht Frankfurt und rief ganz Dortmund und nicht nur die Mannschaft dazu auf, "in die gleiche Richtung" zu laufen und "die Extrameter" zu machen. Denn noch ist die größtmögliche Dummheit dieser Saison nicht auszuschließen. Ansonsten aber werden Bellingham und Co. Ende Mai erneut ausschwärmen und den Extrameter zum Borsigplatz machen. Dort, an der Wiege des Klubs, würde die wohl größte Party seit langer Zeit steigen. Favorit aber bleibt ohnehin der FC Bayern München.
Quelle: ntv.de