Mausetote Bochumer quicklebendig Das epischste Relegations-Duell der Geschichte
28.05.2024, 06:19 Uhr
Pyro-Party-People!
(Foto: REUTERS)
Der VfL Bochum hat eigentlich keine Chance - und nutzt diese. Trotz einer krachenden 0:3-Pleite im Hinspiel bleibt die Mannschaft "vonne Castroper" in der Fußball-Bundesliga. Bei Fortuna Düsseldorf gelingt tatsächlich die Wende. Dramatischer geht's nicht.
Lässt sich Wahnsinn eigentlich steigern? Aber ja! Zwar gibt es kein Wort dafür, aber Taten. Vollbracht hat diese der VfL Bochum, der sich am späten Montagabend von den Fußball-Toten erhoben und etwas geschafft hatte, was kaum jemand für möglich gehalten hatte. Vielleicht sogar niemand. Bei Fortuna Düsseldorf wurde die 0:3-Hypothek aus dem Relegations-Hinspiel vom vergangenen Donnerstag abgearbeitet und in einen dramatischen Sieg nach Elfmeterschießen umgemünzt. Um 23.17 Uhr schoss der Düsseldorfer Takashi Uchino den Ball mit voller Wucht über das Bochumer Tor. Er brach zusammen und mit ihm die Welt der Fortuna. Tränen überall. In 25 Relegations-Duellen hatte es zuvor nur einmal ein Elfmeterschießen gegeben - 1988 war das. Einen Drei-Tore-Vorsprung hatte noch kein Team in den Ausscheidungsspielen hergeschenkt.
Anders die blau-weiße Welt. Torwart Andreas Luthe stand auf, sprintete sofort nach links zur Kurve der eigenen Fans. Als Erster erreichte ihn Tim Oermann, der schnellste Spieler im VfL-Kader. Alle anderen folgten, rannten in einen gigantischen Block aus behelmten Polizisten, die auf das Feld wollten, um die Sieger abzuschirmen. Nötig wäre das vermutlich nicht gewesen, denn die Düsseldorfer waren in eine lähmende Stille gefallen. Die Zeit stand, das Stadion schwieg. Keine Pfiffe. Nichts. Nur die wilden Gesänge aus Bochum. "Wir bleiben drin", gedichtet auf die zweite Hymne des Klubs, aufs "Steigerlied". Zwei Welten, die so gegensätzlich waren, wie die beiden Duelle dieser Teams, die als die epischsten der Geschichte der Relegation durchgehen dürfen.
Wahnsinn hier, Wahnsinn da
Um zu beschreiben, was da wie gelungen war, kamen die Bochumer nicht viel weiter als bis zum Wort Wahnsinn. Etwa der beseelte Kapitän Anthony Losilla, der in den Katakomben mit einem Bier in der Hand nach etwas vergleichbaren in seinem langen Fußballerleben suchte, aber nichts fand. "Ich habe jede Nacht darüber nachgedacht, wie wir das noch schaffen können", sagte der 38-Jährige nur. An etwas "Krasses" in seiner Karriere könne er sich nicht erinnern Auch der junge Tim Oermann war außer sich vor Glück, tanzte, feierte und hatte einfach nur Spaß am Phrasenmähen.
Der völlig geschaffte Sportchef Patrick Fabian sagte: "Das ist der VfL. Ohne Drama geht es hier offenbar nicht." Der Weg zum Wunder hatte ihn schwer gezeichnet, wie auch die heftige Kritik der an ihm und dem Team in den vergangenen Tagen. Den Unmut darüber brachte er im emotionalsten Moment der Saison zum Ausdruck: "Auf uns hat keiner irgendwas gesetzt, da muss man ganz ehrlich sein. Was über uns erzählt und verbreitet wurde, was über den ganzen Verein verbreitet wurde, war Wahnsinn und habe ich in der Form noch nicht erlebt." Wahnsinn hier, Wahnsinn da. Wahnsinn im Stadion, Wahnsinn im Bermuda-Dreieck, der Party-Meile der Stadt. Dienstagmorgen? Scheißegal. Um weit nach drei Uhr tobte eine riesige Klassenerhalts-Party. Wieder einmal. Dass viele Spieler für zehn Uhr ihre Flüge in den Urlaub oder die Heimat gebucht hatten, wie Sportdirektor Marc Lettau verriet, war so egal, wie es nur egal sein kann.
Düsseldorf: Kastenmeier - Zimmermann, Oberdorf, de Wijs (97. Hoffmann), Iyoha - Tanaka (75. Johannesson), Engelhardt, Sobottka (83. Uchino), Klaus (75. Niemiec), Tzolis - Vermeij (82. Daferner); Trainer: Thioune
Bochum: Luthe - Oermann (59. Loosli), Ordets, Schlotterbeck - Losilla (99. Masovic) - Passlack (59. Asano), Bero, Stöger, Wittek - Hofmann (91. Paciencia), Daschner (82. Osterhage); Trainer: Butscher
Schiedsrichter: Deniz Aytekin (Oberasbach)
Tore: 0:1 Hofmann (18.), 0:2 Hofmann (66.), 0:3 Stöger (70. Handelfmeter)
Elfmeterschießen: 0:1 Paciencia, Luthe (Bochum) hält gegen Hoffmann, 0:2 Bero, 1:2 Johannesson, Kastenmeier (Düsseldorf) hält gegen Masovic, 2:2 Engelhardt, 2:3 Asano, 3:3 Oberdorf, 3:4 Stöger, 4:4 Tzolis, 4:5 Schlotterbeck, 5:5 Niemiec, 5:6 Wittek, Ushino (Düsseldorf) schießt über das Tor
Gelbe Karten: Engelhardt - Hofmann, Oermann, Wittek, Masovic
Zuschauer: 51.500 (ausverkauft)
Der VfL tritt in der kommenden Saison zum vierten Mal nacheinander in der 1. Bundesliga an. "Ihr und wir in Jahr 4" stand auf den Shirts, die die Spieler nach dem Wunder überstreiften. Hatten sie wirklich noch daran geglaubt? Hatten sie nach dem Debakel der vergangenen Woche Shirts drucken lassen? Offenbar nicht, offenbar lagen sie schon was länger in der Kiste. Eingesteckt hatte sie Zeugwart Andreas Pahl, er hatte dran geglaubt. An dieses Wunder. Er hatte sie aber erst nach dem Drama verteilt. Nichts heraufbeschwören. "Jetzt stehen wir da und haben es geschafft. Damit haben wir Geschichte geschrieben", sagte Interimscoach Heiko Butscher. Mit Anleitung gelang das: "Wir haben dem Team vor dem Spiel die größten Comebacks in der Fußballgeschichte gezeigt. Jetzt gehören wir dazu", sagte Fabian lächelnd.
Ein kleines bisschen BVB-Vibes
Besonders viel Platz zur Eskalation der Ereignisse hat der Klub nicht mehr. Das Maximum an Leiden und Glück hat der VfL an diesem Montagabend aus sich herausgepresst. Die Duelle waren einen Spiegelbild dieser turbulenten, aufwühlenden Saison. Ein umgebremster Ritt durch Täler (Nachspielzeitdramen und personelle Unruhen) und über Gipfel (Siege gegen den FC Bayern und den VfB Stuttgart). Vor zwei Jahren, im ersten Jahr nach der Rückkehr ins Oberhaus, hatten die Bochumer die Dinge rasch geregelt und den Klassenerhalt früh klargemacht. Im Sommer 2023, im Schatten des Dortmunder Meisterdramas, gelang die Rettung am letzten Spieltag, mit einem 3:0 gegen Bayer Leverkusen. Noch immer ist der VfL damit die letzte deutsche Mannschaft, die das Monsterteam besiegen konnte. Und nun diese epische Nacht, die für Fortuna ein kleines bisschen BVB-Vibes hatte. "Heute sind wir alle Helden, da braucht man keinen hervorzuheben", lobte der omnipräsente Spielmacher Kevin Stöger. "Respekt an jeden Spieler und an das Trainerteam. Vor allem an unsere positiven, verrückten Fans. Ich habe immer gesagt, dass der Verein in die erste Liga gehört. Wir haben es gemeinsam geschafft. Es ist einfach nur unfassbar geil."
Niemand hatte erwartet, dass die Fortuna noch kollabieren würde. Aber mit jedem Tag, den sich das Hinspiel entfernte, wuchs der Glaube an die Sensation in Bochum. Und mit jedem Tag, das darf man hernach festhalten, schlich sich die Furcht vor dem Drama in die Köpfe der Düsseldorfer, die am Donnerstag noch so eiskalt über den Erstligisten hergefallen waren. Doch diese Abgezockheit, diese gnadenlose Cleverness, sie wich mit jeder Minute aus den Knochen. Dabei war alles perfekt losgegangen. Der Bochumer Matus Bero pennte, Ao Tanaka holte sich den Ball, schoss, sein abgefälschter Schuss rauschte ganz knapp vorbei (1.). Die aufgeladene Arena tobte. Mit einer gigantischen rot-weißen Choreo war die Mannschaft vor dem Anpfiff eingeschworen worden. Nach vier Jahren Abstinenz sollte es unbedingt zurück ins Oberhaus. Dann Ecke, sie landet auf dem Kopf von Vincent Vermeij, der köpft alleinstehend drüber. Ein frühes Tor, das war der Sargnagel für den VfL gewesen.
Die Bochumer hatten nur eine Wahl: volle Lotte Offensive. Alles versuchen, Helden werden oder mit Anstand "sterben". An die Haltung und Ehre der Spieler hatten die Verantwortlichen nach dem 0:3 am Donnerstag noch in den Katakomben des Ruhrstadions appelliert. Und die Fußballer zahlten zurück. Allen voran Kevin Stöger und Keven Schlotterbeck, die das Wunder beschworen hatten und für ihre überraschend mutigen Worte bestaunt oder belächelt worden waren. Aber der Spielmacher, der den Verein sehr wahrscheinlich verlassen wird, und der ausgeliehene Mentalitäts-Verteidiger taten alles, um zu untermauern, dass sie wirklich noch an das große Ding glaubten. 168 Ballkontakte hatte etwa Stöger, es hätte auch 1680 sein können, so oft war er am Spielgerät. Er wand sich wie Houdini aus der Bewachung, mal elegant, mal robust. Und dann schlug er in der 18. Minute einen Freistoß in den Strafraum. Der segelte bis zu Stürmer Philipp Hofmann durch, Kopfball - 0:1. Glaube hier, ein wenig Angst dort. Vom Kollaps war Fortuna noch weit entfernt, aber Kopf und Beine wurden schwer.
Alle stürzen sich auf Tzolis
Das Stadion kämpft unaufhörlich gegen die Lähmungserscheinungen an. Aber es will einfach nichts gelingen. Der Ball bleibt nicht am Fuß von Tanaka, der im Hinspiel alle Freiheiten in der Spieleröffnung hatte. Der Ball findet kaum zu Christos Tzolis, der den VfL am Donnerstag alleine ausgefummelt hatte. Und wenn der Grieche nun mal eine Aktion hatte, dann stürzten sich Bewacher Tim Oermann, Kapitän Anthony Losilla oder Bero auf ihn. Gerne auch zu zweit oder zu dritt. Die Bochumer, die in den kommenden Tagen die große Unruhe der Saison (unter anderem den Manuel-Riemann-Zoff) aufarbeiten und danach große Veränderungen im Kader, beim Trainer und womöglich auch der sportlichen Führung vornehmen werden (vielleicht auch müssen), hatten ihre Lehren gezogen, sich etwas Neues überlegt. Sie hatten das taktische System verändert, von einem 4-2-3-1 zu einem 3-5-2. Sie hatten Herz und Seele des Gegners attackiert. Das raubte die Energie der Rheinländer. Im Spiel nach vorne, changierte der VfL zwischen verschiedenen Formationen. Lukas Daschner, dessen Startelf-Einsatz sich dank Mut und Einsatzfreude voll auszahlte, kam mal über die Seite, schlawinerte als Hängende Spitze, agierte mal an der Seite von Hofmann im Zentrum. Er war ein freies Radikal, das die Düsseldorfer beschäftigte.
Bochum blieb dran. Schlotterbeck verpasste vor dem Halbzeitpfiff knapp (41.), Daschner noch knapper (44.). Pause. Über die Boxen erklang der "Harte Weg" der Düsseldorfer Punkband "Broilers". Und wie hart er wurde. Kaum angepfiffen, war wieder Daschner da. Er zögerte ein My zu lang, sein Schuss wurde geblockt. Auf den Tribünen wurde es leise. Angst, immer größere Angst. In der 59. Minute bringt der VfL Takuma Asano und Noah Loosli. Beide werden noch wichtig. Fortuna wankt, die Fans singen wieder. Es ist laut, wahnsinnig laut. Düsseldorf scheint sich für einen Augenblick das Momentum zu greifen, dann flankt wieder Stöger, wieder auf Hofmann - 0:2 (66.). Alles in Blau stürmte aufs Feld - das Wunder streckt die Hand aus. Und Matthias Zimmermann den Arm, im Strafraum. Stöger, natürlich Stöger, der beim letzten Fortuna-Abstieg für die Rheinländer gespielt hatte, hatte geflankt und sofort angezeigt: Das war strafbar! Elfmeter, Stöger, Tor - 0:3 (70.). Wahnsinn. Glaube. Angst. Weiter.
"Das geht in die Vereinshistorie ein"
Asano köpft, Keeper Florian Kastenmeister hält fantastisch (72.). Die Angst vor dem Fehler ist spürbar, Bochum nimmt ein wenig den Druck raus, kombiniert weniger mutig und rasant, der maximale Aufwand hat Spuren hinterlassen. Kurz vor der Verlängerung rauscht Asanso hauchzart an einer Hereingabe von Patrick Osterhage vorbei. Dem Lucky Punch fehlen wenige Zentimeter. Krämpfe hier, Krämpfe dort. Pause. Einschwören. Fortuna-Coach Daniel Thioune redet ruhig, seine Spieler lauschen. Bochums Christian Gamboa gibt dagegen später den Derwisch, er trichtert seinen Kollegen den Glauben ans Wunder immer vehementer ein. Die Verlängerung ist ein Tanz um die heiße Kartoffel. Dann, kurz vor dem Ende, bricht Tzolis durch. Der 22-Jährige ist komplett alleine. Das Stadion hält den Atem an. Bochums Last-Minute-Knockouts sind allgegenwärtig. Doch Tzolis legt sich den Ball zu weit vor, der überragende Ivan Ordets klärt. Ecke, sie landet bei Jona Niemiec, der scheitert erst an Asanos Bein, dann rauscht Loosli in den Nachschuss aufs freie Tor. Was für eine Rettungstat des Ergänzungsspielers. Sein größter Moment im VfL-Trikot.
Elfmeterschießen. Luthe pariert direkt den ersten Schuss. Erhan Masovic scheitert mit dem dritten. Alle Schützen zeigen keine Nerven, bis Uchino kommt. Nachthimmel, Düsseldorf weint, Bochum eskaliert. Im Block brennen die Pyro-Fackeln, mittendrin Felix Passlack, Maximilian Wittek, Kapitän Losilla. Niemand kann begreifen, was passiert ist. Wahnsinn. Epischer Wahnsinn. "Der VfL Bochum wird niemals untergehen", hatte Abwehrchef Keven Schlotterbeck am Donnerstag trotzig gesagt. Das mausetote Team war plötzlich quicklebendig. "Die wenigen Verrückten, die noch an uns geglaubt hatten, konnte man nicht mehr für voll nehmen", sagte Luthe. "Wir haben aber eine Mannschaft gesehen, die da komplett dran geglaubt hat. Dass so etwas möglich ist, das geht in die Vereinshistorie ein." Ebenso wie Luthe, der unmittelbar nach dem Spiel seinen Rücktritt verkündete. Zum wohl besten Zeitpunkt.
Quelle: ntv.de