"Collinas Erben" zollen Respekt Aufrichtiger Stegemann geht Fehler auf den Grund
01.05.2023, 06:16 Uhr

Sascha Stegemann äußerte sich nach dem Spiel des BVB in Bochum ausführlich zu seinen Entscheidungen.
(Foto: Federico Gambarini/dpa)
Schiedsrichter Sascha Stegemann räumt in mehreren Interviews unumwunden ein, dem BVB in Bochum zu Unrecht einen Strafstoß verweigert zu haben. Wie aber erklärt sich dieser Fehler, den auch der VAR nicht behob, in regeltechnischer Hinsicht? Und weshalb ging der Referee nicht von sich aus an den Monitor?
Es ist das Los der Schiedsrichter, dass gute Leistungen von ihnen oft nur am Rande gewürdigt werden, Fehler und strittige Entscheidungen dagegen oft genug zu überbordenden Reaktionen führen, bisweilen sogar zu Drohungen und körperlichen Angriffen. Vor Wochenfrist brach der Unparteiische Nicolas Winter das Drittligaspiel FSV Zwickau - Rot-Weiss Essen ab, nachdem ihm ein Zuschauer in der Halbzeitpause aus Nahdistanz den Inhalt eines Bierbechers ins Gesicht geschüttet hatte. Nun stellte Winters Kollege Sascha Stegemann bei der Polizei einen Strafantrag, nachdem ihm und seiner Familie "sehr konkret gedroht" wurde, wie er in der Sendung "Doppelpass" sagte.
Der Fifa-Referee hatte am Freitagabend das Bundesligaspiel zwischen dem VfL Bochum und Borussia Dortmund (1:1) geleitet und war danach aus den Reihen des BVB heftig kritisiert worden. Die Dortmunder behaupteten, Stegemann habe drei gravierende Fehlentscheidungen zu ihren Ungunsten getroffen: Er habe vor dem 1:0 der Bochumer ein Foulspiel von Philipp Hofmann an Emre Can nicht geahndet, in der 65. Minute die Grätsche von Danilo Soares in Strafraum des VfL gegen Karim Adeyemi zu Unrecht nicht mit einem Strafstoß geahndet und kurz vor Schluss nach einem Handspiel von Erhan Mašović, ebenfalls im Bochumer Strafraum, fälschlich nicht auf Elfmeter entschieden.
Zwei der drei vom BVB kritisierten Entscheidungen sind korrekt
"Collinas Erben" - das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.
Vor allem der Dortmunder Sportdirektor Sebastian Kehl wählte markige Worte bei seiner öffentlichen Kritik am Schiedsrichter: "Fahrlässig", "feige", "komplett falsch" und "beschämend" fand er dessen Entscheidungen, Stegemann "habe das Spiel entschieden und uns zwei Punkte gekostet". Darüber, dass der BVB beim Abstiegskandidaten selbst beste Chancen nicht genutzt hatte, sprach Kehl nicht. Der Unparteiische selbst äußerte sich am Freitagabend nicht, dafür aber umso ausführlicher an den beiden Tagen darauf: Am Samstag gab er Interviews bei Sky, WDR2 und im ZDF-Sportstudio, am Sonntag stand er Rede und Antwort im "Doppelpass".
Sascha Stegemann räumte unumwunden ein, dass er den Einsatz von Danilo Soares gegen Adeyemi als Foulspiel hätte bewerten müssen, statt weiterspielen zu lassen, und dass Video-Assistent Robert Hartmann aufgrund dieser Fehlentscheidung ein On-Field-Review hätte empfehlen müssen. Zu Recht wies der Referee jedoch auch darauf hin, in den anderen beiden von den Dortmundern monierten Situationen korrekte, zumindest aber vertretbare Entscheidungen getroffen zu haben: Den leichten Impuls von Hofmann gegen den Rücken von Can musste man nicht als Foulspiel bewerten, und Mašovićs Handspiel geschah, als der Bochumer seinen Arm nutzte, um sich beim Tackling abzufangen und am Boden abzustützen. Eine solches Handspiel ist nicht strafbar.
Wie und warum kamen Referee und VAR zu ihrer Fehleinschätzung?
Warum aber sah Stegemann in Danilo Soares' ungestümem Tackling gegen Adeyemi keine Regelwidrigkeit, und warum griff der VAR nicht ein? "Meiner Wahrnehmung nach war es so, dass Adeyemi den Fuß rausstellt und versucht, diesen Kontakt zu initiieren, den Elfmeter ein Stück weit zu suchen und dabei über den Bochumer Verteidiger drüber fällt", sagte der Schiedsrichter gegenüber Sky. Deshalb habe er weiterspielen lassen. VAR Robert Hartmann habe diese Entscheidung überprüft und sei zu dem Schluss gekommen, dass sie nicht klar und offensichtlich falsch war. Deshalb habe er auch nicht interveniert.
Das heißt: Hartmann konnte mit Stegemanns Sichtweise leben, was begreiflicherweise auch neutrale Beobachter verwunderte. Etwas besser versteht man das vermeintlich Unbegreifliche, wenn man um einen bestimmten Aspekt der Regelauslegung weiß: Stellt nach Einschätzung des Unparteiischen ein Angreifer sein Bein im Zweikampf nicht deshalb deutlich heraus, um den Ball abzuschirmen, sondern weil er vielmehr darauf spekuliert, dass der hinter ihm positionierte Gegner einen Schritt oder ein Tackling zum Ball unternimmt und dabei den Angreifer trifft, soll das vom Schiedsrichter nicht als Foulspiel bewertet werden. Tatsächlich ließ sich zuletzt immer häufiger beobachten, dass Stürmer auf diese Weise versuchen, einen Kontakt zu "ziehen", um danach zu Boden zu gehen.
Weshalb ging der Unparteiische nicht von sich aus an den Monitor?
Im Zweikampf zwischen Danilo Soares und Adeyemi lagen die Dinge jedoch anders, wie auch der Referee erklärte: Der Bochumer sei mit viel Risiko und sehr unkontrolliert in den Zweikampf gegangen. "Das Argument, das überwiegt, ist, dass er nicht den Ball spielt und der Kontakt schließlich entgegen meiner Wahrnehmung nicht von Adeyemi hergestellt wird, sondern von dem Verteidiger". Tatsächlich hat Danilo Soares seinen Gegenspieler mit Anlauf von den Beinen geholt, und man konnte Adeyemi hier gewiss nicht unterstellen, diesen Kontakt initiiert zu haben. Deshalb hätte es, wie Sascha Stegemann deutlich sagte, einen Strafstoß für den BVB geben müssen.
Da es aber keinen Elfmeter gab und auch der Eingriff des VAR ausblieb, stellte sich die Frage: Hätte der Schiedsrichter nicht aus eigener Initiative an den Monitor gehen und sich die Szene noch einmal ansehen können und sollen, wie die Dortmunder es befürworteten? Regeltechnisch kann der Unparteiische ein On-Field-Review auch aus eigenem Antrieb durchführen. "Dafür brauche ich jedoch berechtigte Zweifel an meiner Entscheidung", so Stegemann, "und die hatte ich in dieser Situation nicht". Er habe "eine klare Wahrnehmung zu dem Vorgang" gehabt, es hätten "keine Indizien für die Bewertung" gefehlt. Auch "die Proteste auf dem Spielfeld waren verhältnismäßig moderat". Deshalb habe er davon abgesehen, sich die Szene noch einmal anzuschauen.
Stegemann ist seine Offenheit hoch anzurechnen
Das Argument mit den Protesten führte vor allem in den sozialen Netzwerken dazu, dass viele fragten, ob man damit nicht ein Verhalten herausfordere, das man gerade als Schiedsrichter doch eigentlich ablehnen müsse. Dieser Einwand scheint zunächst logisch und begründet. Stegemann wollte mit seiner Aussage allerdings auf etwas anderes hinaus: Wenn ein Protest ungewöhnlich heftig ausfällt, kollektiv-spontan und geradezu eruptiv ist sowie auf eine Art vorgetragen wird, die sich von den üblichen Reklamationen deutlich unterscheidet und offensichtlich nicht choreografiert ist - dann kann das für den Schiedsrichter ein Indikator dafür sein, dass er sich in der Bewertung eines Vorgangs deutlich geirrt oder etwas Wesentliches übersehen hat.
Es ist Sascha Stegemann hoch anzurechnen, dass er sich in einer emotionalisierten Diskussion mit schrillen Tönen, die vor allem in den sozialen Netzwerken einmal mehr über jedes erträgliche Maß hinausgingen, so ausführlich, klar und offen geäußert hat. Er hat einen Fehler konzediert, bedauert und analysiert, zudem hat er Verständnis für die Wut der Dortmunder gezeigt.
Wie belastend die Situation dabei für ihn selbst ist, war ihm anzumerken, zumal nach den Drohungen gegen ihn und seine Familie. Deshalb ist es gut und wichtig, dass BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke in einer Erklärung zur verbalen Abrüstung aufgerufen und deutlich gemacht hat: "Anfeindungen jeder Art, Verunglimpfungen oder Drohungen, sei es persönlich oder anonym über Social-Media-Kanäle, können wir - aller Enttäuschung zum Trotz - nicht einmal im Ansatz tolerieren."
Quelle: ntv.de